Bedeutet: Lebe man mit den Fremden, lerne man sie als Mitmenschen kennen, die atmen, essen, kaufen wie Du und ich. Nur bei Unkenntnis dieser Gleichheiten vermöge man sich „den Ausländer“ als Feindbild zu bauen.
Natürlich hat diese These etwas für sich: In den ethnisch homogeneren Gefilden Mitteldeutschlands ist ein größerer Zuspruch zu sogenannten fremdenfeindlichen Aussagen meßbar als in westdeutschen Großstädten mit vielfältiger Durchmischung. Woran das liegt und worauf es verweist, darüber wurde auch in diesem Netztagebuch reichlich diskutiert. Zu denken ist an das metaphergewordenen Froschbeispiel, wonach ein Frosch sich die langsame Erhitzung des Wassers, in dem er hockt, bis zum eigenen Tode gefallen läßt (sukzessiver Anstieg fremdstämmiger Mitbürger in Westdeutschland), während er sofort und instinktsicher herausspringt, wenn er in heißes Wasser (Rostock –Lichtenhagen) gesetzt wird.
Ich selbst bin unsicher mit diesen Thesen. Ich bin vor zehn Jahren dem Multikulti-Tümpel Rhein-Main-Gebiet entflohen. Ein (nicht geringfügiger) Grund war, daß ich unsere Kinder nicht in den Schulklassen aufwachsen sehen wollte, die ich selbst in Offenbach unterrichtete. Ich hatte den Schulalltag mit all den Schlichtungsaufgaben zwischen Türken und Griechen, den Drohungen von serbischen Müttern, den messerbewehrten Zigeuner-Papas und vor allem den gewaltigen, mit Anstrengung bewegten Beschwichtigungsteppich der Lehrerkollegen („nur nichts nach draußen dringen lassen!“) als mittelprächtigen Horror empfunden.
Nun leben wir hier in Sachsen-Anhalt geradezu extrem reindeutsch. Ich sehe manchmal über Wochen keinen Ausländer. Meine Kinder besuchen nahezu monokulturelle Klassen, Ausländerkontakt haben sie gelegentlich – und dann als dezidierte Gegner, die es niederzukämpfen gilt, in sportlichem Geiste natürlich: Zwei Töchter und ein Sohn ringen im Verein, und wenn sie gegen städtische Mannschaften antreten, heißen die Gegner oft Oleg, Pawel, Arian oder Jamil. Und das wärs.
Fast jeden Monat bin ich für ein paar Tage in meiner alten Heimat Offenbach. Viele autochthone Offenbacher stöhnen über ihre Stadt: „Man sieht nur noch Pack und Asoziale!“ Als ich eben meine kroatische Schulfreundin, die lange schon mit ihren Eltern Stadt und Land verlassen hat, in ihrer schönen Heimat besuchte, klang die Aussage dezidierter: „Es klingt vielleicht seltsam, aber in Offenbach wohnen ja nur noch Ausländer; nicht schön, oder?“ Hm.
Nun begegne ich hier, in und um Schnellroda, Tag für Tag nur Bio-Deutschen, ohne sagen zu können, daß genau dies ein anhaltend extrem gutes Gefühl verursachte. Es sind Pappnasen, es sind Vollidioten darunter.
Steige ich in Frankfurt aus dem Zug und begebe mich in öffentlichen Verkehrsmitteln zu meinem Elternhaus, sind wir – ich und die meinen – unterwegs ethnisch gesehen eine Minderheit. Das fühlt sich nicht fröhlich und bunt an, sondern leicht bis mittelschwer beklemmend. Wohl gäbe es auch dann kein fröhliches Hallo, wenn ich meinen Weg per S‑Bahn und Bus unter lauter biodeutschen Angestellten und Schülern nähme, aber so: Keine Ahnung, ob die Typen, die offenkundig und lautstark das hüftlange Blondhaar meiner Töchter bestaunen, über die Sitzreihen hinweg höfliche Lobpreisungen austauschen oder doch nur Anzüglichkeiten. Keine Ahnung, ob das strenge Mutterwort der bekopftuchten Frau an ihren Sohn, dem mein Sohn Kekse anbietet, heißt: „Nimm nicht von Fremden!“ oder doch nur: „Denk doch bitte an Deinen Diabetes!“ Ich vermute, viele Biodeutschen wollen es so genau nicht wissen. Wozu auch? Sie müssen sich ohnehin einrichten, hier, im sukzessiv sich verändernden Umfeld, das umgekehrt auch von ihnen oft nichts wissen will.
Ich will es etwas genauer wissen. Meine größeren Kinder kennen das. Ah, Mama macht wieder ihre Ausländerbefragung! Im gut gefüllten Freibad sind wir die einzige Privatfamilie, in Hessen haben sie keine Pfingstferien. Zwei Schulklassen aus der nahen Edith-Stein-Schule, benannt nach einer vom Judentum konvertierten katholischen Heiligen, haben hier gerade Schwimmunterricht. Unter dem hellbraun- bis dunkelhäutigem Kinderhaufen mache ich ein einziges hellhäutiges Mädchen aus. Es heißt Cindy, tatsächlich. Vielleicht ist sie die einzige, die familiär hier verwurzelt ist.
Es ist wie immer, wenn ich mit den Kindern hier auf Spielplätzen oder anderen Freizeiteinrichtungen unterwegs bin: Der Säugling, den ich seit Jahrhunderten in unterschiedlicher Ausführung mit mir zu tragen pflege, dient stets als Magnet für eine ganze Schar von Mädchen. „Wie süß!! Bittebitte, darf ich mal tragen? Mal halten, nur kurz? Darf ich mit dem Baby schaukeln gehen?“ Niedliche Mädchen, alle schwarzhaarig, ein Nachgeruch von gutem und gut gewürztem Essen – sicher nicht aus der Konserve oder der Schulkantine – umwölkt sie.
Zwei fallen mir besonders auf, sie sind unter den fünfen, die das Baby gemeinsam zur Schaukel tragen und sich dabei vor Niedlichkeitsbekundungen schier überschlagen. Woher sie denn ihre schicken Badeanzüge haben, frage ich die beiden, die sich als Rasun und Emel, genannt Emily, vorgestellt haben. „Von meiner Schwester!“, sagt Rasun. Ob sie wisse, was das für Farben sind, schwarz, rot, gold? Nein, „aber danke für das Kompliment! – Ach so, die Deutschlandfahne! Wirklich? Wie schön!“
Rasun kommt aus Marokko, Emel aus Jordanien. Die marokkanische Schwester hat für die jordanische Freundin miteingekauft, weil sie die Partnerlook-Idee schön fand. Ein bißchen wild, aber doch lieb und fast mit mütterlicher Sorgfalt wird das weiße nackte Baby von den dunklen schwarz-rot-gold-Nixen geschaukelt. Emine und Büsra wollen auch mal die Fingerchen an den Metallgliedern festhalten; sie dürfen.
Ob Rasun und Emel auch einen Garten haben, mit Schaukel? Beide nicken und müssen lachen: Ja, in Jordanien, ja, in Marokko, sagen sie wie aus einem Mund. Aber hier nicht. Kein Garten. „Und – da seid ihr dann immer in den großen Ferien, in euren Gärten?“ Beide schütteln den Kopf. Rasun hat fünf Geschwister, Emel sieben, da wäre die weite Reisen zu teuer. „Leider“, sagt Emel, „halbleider“, sagt Rasun, hier sei es ja auch schön. Dann muß die Klasse wieder ins Becken, schade. „Bleiben Sie doch noch ein bißchen hier“, rufen die Mädchen, „dann können wir mit der Kleinen auf die Rutschbahn!“. Die braune Schar springt ins Wasser, eine dünne und hellhäutige junge Lehrerin dirigiert sie.
Mein Sohn hatte unterdessen versucht, mit den männlichen Viertkläßlern ins Fußballspiel zu kommen. Er ist unzufrieden Ob er sich vorstellen könnte, auch auf diese Schule zu gehen? Er nimmt die Frage sehr ernst und denkt länger nach. „Also, zur Not schon. Ich hätte dann aber vielleicht nur Mädchen als Freunde.“ Wieso? „Na, die Jungs sind ja eher Feinde.“ Wie er das denn meint? „Nicht so rum. Andersrum halt. Irgendwie glaub ich, ich bin für die der Feind.“ Wieso das? „So was merkt man halt. Die haben ja dauernd über mich geredet.“ Ja, was denn? „Hab ich doch nicht verstanden.“
Mit dem Rücken zum Becken reiche ich dem niedergeschlagenen Knaben ein Handtuch. Da tippt mich eine Frau an, auf deren Shirt „Badpersonal“ steht. Sie reicht mir mein Kleinkind und lacht: „Hier – hat versuchen wollen zu steigen in Becken, ich ihm gesagt, noch viel zu klein zu schwimmen!“ Zwei hessische Omas hocken derweil auf der Bank und wiegen mißbilligend ihre Köpfe: „Mir ham des schon aane Minude lang mit angeschaut, junge Frau – des is net rischtig! Da müssense bessä uffpasse uff ihre Kinner!“ C´est la vie, es ist teils traurig.
Abends sind wir wieder in Schnellroda. Mit Schaukel, ohne Wasser, ohne erhitztes sowieso. Die Gedanken beruhigen sich.
Saxnot
Ich bin mir nicht sicher, ob der Kontakt, bzw. die Kontakthäufigkeit zwischen Autochtonen und Zugereisten entscheidet, ob Gefühle der Zu- oder Abneigung sich bilden. Mein Sohn, jetzt fünf Jahre alt, hatte immer schon - unabhängig von Milieu und Erziehung und Erfahrung - das Bedürfnis, sich abzugrenzen. Das beobachteten wir schon, als er noch nichteinmal sprechen konnte. Von all den vielen Lego-Duplo-Männchen durfte das eine zufällig in der Legotonne vorhandene schwarze Männchen nie auf der Eisenbahn mitfahren. Als meine Schwiegermutter versuchte, die Eisenbahnfahrt des kleinen Lego-Negers zu erzwingen, erntete sie wütende Proteste. Später als er erste Sätze sprechen konnte, kam es zu heiklen Situationen, wenn er sich zum Beispiel nicht abbringen ließ, "Guck mal Papa, ein Räuber, ein Räuber!", durch den vollbesetzten Bus zu krähen und mit nacktem Finger auf den dunklen bärtigen Sikh von gegenüber zu zeigen, worauf eine ältere Dame - nachdem der Inder ausgestiegen war - zu mir sagte: "Kindermund tut Wahrheit kund..." Vor einiger Zeit war ich erleichtert, daß offenbar am Abendbrottisch niemand gehört hatte, als er in Gegenwart eines chinesischstämmigen Bekannten, eines promovierten Akademikers übrigens, über irgendetwas, das aus seiner Sicht schlecht gemacht war, äußerte, das sei wohl wieder "von Chinesen gemacht" worden. Ich bin mir sicher, daß wir, obwohl wir die unbegrenzte Masseneinwanderung als Problem wahrnehmen, unser Kind nie "rassistisch" beeinflußt haben. Wir werten niemanden als Person pauschal wegen Hautfarbe, Herkunft, Sprache oder Kultur ab. Aber dieses Bedürfnis, die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden wahrzunehmen, scheint doch angeboren zu sein. Das kann und sollte man auch nicht wegerziehen.