Schließlich tun sie das, was der Regisseur ihnen sagt, was das Drehbuch vorgibt. Sie sollen nicht denken, sondern spielen. Früher war das kein Problem, weil man den Schauspieler nur auf der Bühne oder im Film sah. Niemand wäre auf die Idee gekommen, von einem Schauspieler so etwas wie die Deutung der Welt zu erwarten. Das ist heute anders.
Vor mir liegt die Jüdische Allgemeine, die den Ranicki-Film zum Anlaß genommen hat, Matthias Schweighöfer zu interviewen, weil er MRR in den Jahren zwischen 1938 und 1948 spielt. Auf die Frage, wie es sei einen noch lebenden, gefürchteten Kritiker zu spielen, antwortet er:
Aufregend, denn ich wußte: Am Ende bekomme ich seine Meinung zu hören. Ich war gespannt, ob es mir gelingen würde, den Menschen Marcel Reich-Ranicki schauspielerisch zu treffen. Es war mir sehr wichtig, daß es ihm gefällt.
Hat er jemals befürchtet, daß Ranicki sein Spiel vernichtend kritisieren könnte?
Nein. Ich habe gemerkt, daß er dem Projekt wohlwollend gegenübersteht. Wir haben mein Spielen gemeinsam vorbereitet und darüber gesprochen, was er sehen will.
Daß Ranicki das gefallen hat, dürfte vielleicht weniger mit Schweighöfer als mit der Tatsache zu tun haben, daß der Film Ranickis Erinnerungen “Mein Leben” als Vorlage nimmt. Die weißen Flecken (als MRR zwischen 1944 und 1949 Karriere im polnischen Sicherheitsdienst machte) in der Biographie, über die der Welt-Journalist Gerhard Gnauck gerade ein Buch veröffentlicht hat, bleiben dabei ausgespart.
Schweighöfer weiß auch, was im Interview von ihm erwartet wird. Etwas Tiefsinniges, da hier ja alles zusammenkommt: der Schuldstolz des deutschen Schauspielers, die Freude der Jüdischen Allgemeinen auch mal einen jugendlichen Star im Interview zu haben und die entrückte Jahrhundertgestalt MRR. Also, was ist Schweighöfer “besonders zu Herzen” gegangen:
Wir haben in Breslau mit etwa 2000 polnischen Komparsen nachgestellt, wie die jüdischen Bewohner des Ghettos zu den Viehwaggons gehen, die sie nach Treblinka bringen. Das Geräusch der vielen gehenden Menschen – wie das geklungen hat! Das werde ich nie vergessen. Es war so unvorstellbar. Unglaublich, daß dies alles wirklich so geschehen ist.
Es war vorhersehbar: Schweighöfer hat den einkalkulierten “Betroffenheitsschock” (Petra Morsbach) erlitten. Das wäre nicht schlimm, wenn er es für sich behalten hätte.