… zwei Abtreibungen seien “auf ein knapp zwanzigjähriges lustvolles Geschlechtsleben relativ wenig”. Daniel Cohn-Bendit, ein anderer linker Dinosaurier, der lebenslang grün hinter den Ohren geblieben ist, machte bekanntlich einst kein Hehl daraus, daß ihn kleine Kinder sexuell affizieren, um es vornehm auszudrücken.
Geschadet haben derlei Bekenntnisse ihrem “Image” nicht – alles klar auf der Andrea Doria, alles voll normal, wir sind ja flexibel geworden: Besonders die kritische BRD-Bürgerin, der Durchschnittsakademiker aus Geistes- und Gesellschaftswissenschaften wählt aus Gewissensgründen unverdrossen weiter solche Hoffnungsträger. Die sich seit einigen Jahrzehnten etablierende Normalität der Abtreibung besteht darin, daß sie weithin für tolerabel gehalten wird – wenn auch bisweilen für grenzwertig. Die Vergeblichkeit, mit der die normativen Gegner einer routinierten Tötung zwar noch ungeborenen, aber doch zweifelsfrei menschlichen Lebens bislang gegen die Normalisierung dieser Praxis ankämpfen, das belegt die Normalität der Abtreibung umso mehr.
Vom analytischen Standpunkt einer Theorie, die solche Normalisierungsprozesse untersucht, ist daher die Frage nur konsequent, ob nicht, “wenn etwa die Homosexualität als normal akzeptiert ist, auch ein gewisser Grad an Pädophilie noch als normal toleriert werden” müsse:
Während Normativität das Problem der Toleranz überhaupt und grundsätzlich aufwirft, arbeitet Normalität mit (quasi-technischen) Toleranzen. Normalität wäre demnach eine wesentlich graduelle Kategorie. Während die “normative Norm” also auf einen Bereich ‘qualitativer’ Werte (etwa “Gerechtigkeit”) verweist, erscheint das Normale in seiner alltäglichen Verwendung auf eine immanente Skala verschiedener Grade von Normalität bezogen, auf der wie auf einem Thermostaten eine ‘Markierung’ ‘herauf- oder heruntergefahren’ werden kann. Es geht also um Ein-Stellung in einem quasi-technischen Sinn.
(Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 2. Aufl. 1999, S. 22)
Der in der BRD dominierende “flexible Normalismus”, so der etwas unbeholfene Theorieslang-Ausdruck von Jürgen Link, tendiert also dazu, die Normalität von der Normativität zu entfernen und die “Normalitätszonen” maximal zu expandieren. Deren Grenzwerte wiederum sind daher flexibel und dynamisch. Die Taktik etwa von Cohn-Bendit und seinen Genossen der “Bewegung vom 22. März” in der konsumistischen Revolte von Paris war es gewesen, “die flexible Normalitätsgrenze weiter und weiter zu dehnen, um schließlich jedes graduierte Kontinuum gänzlich zu sprengen”. An der Universität hatten sie dies konkret getan, indem sie Noten und Examina als “Selektion” verwarfen und die Hierarchie angriffen, also die Gleichberechtigung von Lehrern und Lehrenden etwa bei der Initiierung und Leitung von Forschergruppen verlangten.
Wenn hier auch ein Kerlchen wie Cohn-Bendit als Agent dieser Ende der 1960er Jahre rasant zunehmenden “flexiblen Normalisierung” zu wirken scheint, ist er doch nur ein medial gut sichtbar gewordenes, gut funktionierendes Exemplar der inzwischen herrschenden Monade in einem umfassenden spätindustriellen Prozeß: Der flexible Normalismus mit seiner “hochaufgelösten, fein graduierten, atomistisch-mobilen” Struktur (Link) hängt eng zusammen mit der “Massendemokratie”, die Panajotis Kondylis analysiert hat.
Der flexible Normalismus ist also keineswegs auf eine finstere Strategie besessener Sozialingenieure zurückzuführen; auch all die Vertreter der bundesdeutschen “Therapiekultur”, die jene Verschiebung von einer “protonormalistischen” Ausgrenzung des Anormalen hin zu dessen Betreuung und Integration im breiten Strom der Mitte offensiv propagieren, sind Nutznießer und Propagandisten eines Prozesses, den sie wohl befördern, aber keinesfalls steuern können.
Schon David Riesman sprach in seinem Klassiker The lonely crowd (1950) von einem “Radar-Typ”, der insbesondere die nordamerikanischen Großstädte seit den 1920er Jahren beherrsche. Der von Max Weber als Typus der “Innenleitung” beschriebene protestantische Arbeitsethiker ist in Riesmans Analyse durch einen “other directed”, gewissermaßen außengeleiteten Verhaltenstyp abgelöst worden, der sich defensiv und reaktiv seiner wandelhaften sozialen Umwelt anpaßt. Eine solche “normalistische Subjektivität”, so Link, beruht auf einer “Fähigkeit zur Selbst-Normalisierung”, die sich unbewußt wie bewußt an Durchschnittsdaten ausrichtet, vom Colesterin-Wert bis hin zur politischen Gesinnung.
Indessen: Wer in der schön flexibel-normalistischen BRD erschrickt und an sich entdeckt, daß er “konservativ” oder gar “rechts” ist, der kann heute einen wahrhaftigen “Denormalisierungsschock” erleiden und manchmal sogar ein System erleben, das vom flexiblen Normalismus der Regenbogenfahne im Berliner Polizeipräsidium umschaltet auf die harte, protonormalistische Praxis des Gummiknüppels und der sozialen Stigmatisierung.