Das Gericht, das bislang gerade in EU-Fragen wahrhaftig nicht durch übertriebene Standfestigkeit gegenüber der politischen Klasse aufgefallen ist, hat damit bekundet, daß seine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Vertrages so erheblich sind, daß es unter keinen Umständen vor vollendete Tatsachen gestellt werden will. Es hat dem Bundestag signalisiert, daß er im Begriff steht, einen Staatsstreich abzusegnen.
Daß es sich tatsächlich um einen solchen handelt, habe ich in meinem Artikel „Handlungsanleitung für Putschisten“ in der aktuellen Druckausgabe der Sezession dargelegt: Man muß bedenken, heißt es dort, daß
- Entscheidungen des ESM durch Mehrheitsbeschluß zustandekommen, die Empfängerländer also die Geberländer überstimmen und gegen deren Willen zu Zahlungen zwingen können,
- sowohl der ESM als ganzes wie auch die einzelnen Entscheidungsträger rechtliche Immunität genießen, d.h. an geltendes Recht praktisch nicht gebunden sind,
- der ESM jederzeit kurzfristig die Geberländer zum Nachschießen von Kapital in praktisch unbegrenzter Höhe zwingen kann,
- und er unkündbar ist, dieser Blankoscheck also bis in alle Ewigkeit gilt.
Ein solcher Vertrag ist ein Versklavungsvertrag. Ein Staat, der einen solchen Blankoscheck ausstellt, hört auf, souverän zu sein. Und da die Souveränität, die der Bundestag hier so bedenkenlos der EU zum Fraß vorwirft, nicht seine eigene, sondern die des Volkes ist, verletzt der Bundestag gleich zwei elementare Rechtsprinzipien: erstens, daß niemand mehr Rechte übertragen kann, als er selbst hat, und zweitens das Demokratieprinzip, welches besagt, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Ein auf finanziellem Gebiet nichtsouveräner Staat kann per definitionem keine Demokratie sein; er ist nicht einmal ein Staat, sondern bestenfalls eine Gebietskörperschaft, vergleichbar einer Kommune.
Da aber das Demokratieprinzip in Art.20 GG verankert ist und damit zu denjenigen Staatsstrukturmerkmalen gehört, die der Disposition des Gesetzgebers entzogen sind und nicht einmal im Wege der Verfassungsänderung beseitigt werden dürfen, ist die Verabschiedung des ESM-Vertrages ein Staatsstreich, und bliebe es auch dann, wenn das Bundesverfassungsgericht wieder eine seiner windelweichen Kompromissentscheidungen treffen sollte, mit der es bis jetzt noch jeden Schritt hin zur Brüsseler Diktatur murrend, stirnrunzelnd und zähneknirschend abgenickt hat.
Alle diese Schritte folgten der Salamitaktik, die ich in dem erwähnten Artikel beschrieben habe:
Machen Sie sich die Tatsache zunutze, daß Gerichte immer nur einzelne Normen überprüfen können, nicht aber ganze Maßnahmenbündel, die sich auf verschiedenste Sachbereiche beziehen und überdies zeitlich gestreckt nach und nach eingeführt werden; solange jede einzelne Maßnahme für sich genommen verfassungskonform ist, wird Karlsruhe sie abnicken, auch wenn der daraus resultierende Zustand unheilbar verfassungswidrig ist. Auch die absehbaren politischen Wirkungen einer Entscheidung sind nicht justiziabel. Treffen Sie daher bewußt Fehlentscheidungen, um Probleme zu schaffen, deren ‘Lösung’ dann ‘alternativlos’ ist, und verlassen Sie sich darauf, daß sich das Verfassungsgericht unter solchem ‘Sachzwang’ breitschlagen lassen wird, das Grundgesetz zu verbiegen.
Die Intervention des Gerichts beim Bundespräsidenten deutet an, daß diese Option nunmehr ausgereizt, daß das Grundgesetz bis an die äußersten Grenzen der Interpretationsfähigkeit gedehnt ist. Die Abgeordneten des Bundestages können keine Illusionen darüber hegen, daß sie mit dem nun zur Abstimmung stehenden Vertrag den Boden des Grundgesetzes endgültig verlassen. Und doch zögern sie nicht, diesen Weg fortzusetzen. Nehmen wir zu ihren Gunsten an, daß manche von ihnen ehrlich glauben, keine Wahl zu haben. Wie und warum können sie das glauben? Genauer: Wie hat man sie dazu gebracht, solches zu glauben?
Zum einen haben wir es mit der Wirkung von ideologischen Hintergrundüberzeugungen zu tun, die dem, der sie hat, kaum bewußt und gerade deshalb der Kritik entzogen sind.
- Wer in der Vorstellung aufgewachsen ist, Politik bestehe aus der Durchsetzung abstrakter Ordnungsmodelle und nicht nationaler Interessen,
- wer glaubt, Deutschland sei durch seine schiere Existenz eine Gefahr für den Weltfrieden und müsse deshalb ausgedünnt werden,
- wer gelernt hat, es gebe keine Wahrheiten, sondern bloß beliebige „Konstruktionen“, und Wahrheit sei deshalb etwas, was man sich aussuchen könne,
- wer verinnerlicht hat, daß die Welt (irgendwie) immer mehr zusammenwachse und daß die Politik dem zu folgen habe,
- wer sich – ungeachtet seines „Konstruktivismus“ – daran gewöhnt hat, politische Vokabeln als Fetische anzubeten („Europa“, „der Weltfrieden“, „die Globalisierung“, „die internationale Gemeinschaft“, „die Menschenrechte“, „die Vielfalt“) und nach dem Inhalt dieser Begriffshülsen nicht mehr zu fragen,
- wer deshalb nicht wahrnehmen kann, daß er Anhänger einer Religion ist, deren Theologie von wenigen Hohepristern festgelegt wird,
kann sich unmöglich wehren, wenn eben diese Hohepriester von ihm fordern, sich an einem Putsch zu beteiligen. Das bevorstehende entwürdigende Schauspiel, daß sechshundert „Volksvertreter“, die doch nicht allesamt Verrückte oder Verbrecher sind, wie dressierte Affen auf Kommando etwas tun, was nach allen vernünftigen Maßstäben Verrat ist, wäre nicht erklärbar, wenn die Gedankenwelt dieser Leute nicht ein in sich gekrümmtes Universum wäre, aus dem es keinen Ausweg gibt.
Weil sich dies aber so verhält, kommt eine weitere Regel aus der „Handlungsanleitung für Putschisten“ zur Anwendung:
- Schaffen Sie Probleme, die auf verfassungskonformem Wege nicht lösbar sind!
- Treffen Sie daher bewußt Fehlentscheidungen, um Probleme zu schaffen, deren ‘Lösung’ dann ‘alternativlos’ ist, und verlassen Sie sich darauf, daß sich das Verfassungsgericht unter solchem ‘Sachzwang’ breitschlagen lassen wird, das Grundgesetz zu verbiegen.
Wie Wolfgang Schäuble in seinem jüngsten Spiegel-Interview verklausuliert, aber doch deutlich genug, eingeräumt hat, waren sich die verantwortlichen Politiker von Anfang an darüber im Klaren, daß der Euro eine Fehlkonstruktion war, und wurde er eben deshalb eingeführt. Der Euro würde Krisen provozieren, die sich nicht mehr, wie unter dem alten Währungssystemen auf einzelne Länder beschränken, sondern ganz Europa in Mitleidenschaft ziehen und dadurch die „politische Union“, d.h. die Aufgabe der nationalen Souveränität erzwingen würden.
Der „Sachzwang“ – oder doch zumindest eine Situation, die man als Zwangslage verkaufen kann – wurde bewußt herbeigeführt. Wenn Kanzlerin und Finanzminister heute die Einführung von Eurobonds, also die Vergemeinschaftung der Schulden (vielmehr ihre Übertragung auf die wenigen noch kreditwürdigen Staaten Europas, speziell auf Deutschland) von der Vergemeinschaftung der Finanzhoheit abhängig macht, dann heißt das gerade nicht, was eine verblendete oder verlogene Journaille glaubt oder vorspiegelt: nämlich daß sie deutsche Interessen vertritt. Es bedeutet, daß sie das Projekt einer EU-Diktatur verfolgt.
Nun aber zeichnet sich ab, daß das Verfassungsgericht das Spiel nicht mehr mitspielt – was freilich mitnichten dazu führt, daß die Politik dieses Spiel aufgibt. Im Gegenteil: Was bisher als Aushöhlung, Umdeutung, Dehnung und Entkernung des Grundgesetzes heimlich und verdeckt praktiziert wurde, mutiert zum offenen Anschlag auf das Grundgesetz.
Die in „Handlungsanleitung für Putschisten“ beschriebene Strategie hat den gewünschten Erfolg erzielt, das Grundgesetz mitsamt seiner Verpflichtung auf Nationalstaat und Volkssouveränität sturmreif zu schießen. Die Salamitaktik ist an ihr Ende gelangt, jetzt geht es um die Wurst, und zwar die ganze.
Schäuble hat es angekündigt: Wenn weiterer Souveränitätsverzicht am Grundgesetz scheitert, soll das Volk sich in einem „souveränen“ Akt, also einem Referendum, darüber hinwegsetzen. Da das Grundgesetz Volksabstimmungen aber nicht vorsieht und eine sogenannte Verfassungsdurchbrechung auch im Wege der Volksabstimmung verfassungsrechtlich nicht möglich ist, kann seine Ankündigung nichts Anderes bedeuten als dies: daß mit dieser Volksabstimmung eine neue Verfassung verabschiedet werden soll, die die Unterwerfung Deutschlands unter die Fiskalhoheit der Europäischen Union und zugleich die Verabschiedung des ESM ermöglicht; die rechtliche Handhabe liefert Art. 146 GG, der besagt, daß das Grundgesetz an dem Tag seine Geltung verliert, an dem das deutsche Volk „in freier Selbstbestimmung“ eine neue Verfassung verabschiedet.
Eine solche Volksabstimmung, die ja unter dem propagandistischen Trommelfeuer gleichgeschalteter Medien, unter hysterischer Haßpropaganda „gegen rechts“, unter apokalyptischen Drohungen der politischen Klasse und unter einem von dieser Klasse erfundenen Zeitdruck stattfinden müßte, für einen Akt „freier Selbstbestimmung“ zu halten, kann fürwahr nur solchen Juristen einfallen, die vom Geist der Verfassung nichts begriffen haben und in ihrer Winkeladvokatensophistik selbst ihren Buchstaben nur so weit beachten, wie es unumgänglich ist – Juristen vom Schlage Schäubles eben.
Es sieht diesem Regime ähnlich, daß die erste und einzige Gelegenheit, wo sie das deutsche Volk gezwungenermaßen nach seiner Meinung fragt und ihm etwas zubilligt, was wie „freie Selbstbestimmung“ aussehen soll, die Zustimmung zur Selbstentmachtung, das heißt zum Ende jeder Selbstbestimmung ist; daß die Ausübung der Volkssouveränität eben diese Volkssouveränität beenden soll; daß das Volk gerade gut genug ist, einem antidemokratischen Putsch ein „demokratisches“ Mäntelchen umzuhängen.
Und noch mehr paßt es zu diesem Regime, daß die einzige Entscheidung, die dem deutschen Volk noch in „freier Selbstbestimmung“ zu treffen erlaubt wird, die Entscheidung ist, als Nation Selbstmord zu begehen.
(Lesen Sie den vollständigen Beitrag Handlungsanleitung für Putschisten in der aktuellen Druckausgabe der Sezession: hier bestellen. In dieser Ausgabe ist ergänzend der Beitrag Verfassungsputsch – Umsetzung und Finte von Martin Lichtmesz enthalten.)
stechlin
Joachim Fernau hat in einem Buch die Frage aufgeworfen, welche Strafe eigentlich für denjenigen vorgesehen ist, der das höchste Gesetz unseres Landes bricht - die Verfassung. Er gab die ernüchternde und richtige Antwort: Keine.
Und so wird kommen, was kommen soll und niemand wird dagegen aufbegehren. Aber der Zahltag kommt ebenfalls, so wie der Winter kommt und ich weiß nicht, ob mich dieser Blick in die Zukunft wirklich froh stimmt.