ein paar Extra-Körner, die es aber nicht annahm. Es war alt, nicht krank. Warum wieder gezögert, warum nicht zugegriffen, geschlachtet und heute aufgetischt? Nun mußte ich es verscharren, und so etwas ist kein Deut besser als ab und an ein harter Schnitt.
Wann müssen wir diese Gesellschaftsordnung verscharren? Martin Böcker schrieb vor Tagen, daß dieses System “noch immer eine lebenswerte Ordnung aufrechterhält, in der ich mich mit meinen Lieben einrichten und für die Zukunft planen kann. So wie andere auch.” Das ist sehr vernünftig gesprochen, und ich selbst habe in einem Gespräch mit Böcker einmal geäußert, daß ich ein “Gegner der Systemfrage vom Sofa aus” sei. Dennoch sei ich der Auffassung, daß irgendeine Lösung her müsse, wenn ich mir den Zustand unserer Nation in den Bereichen Überschuldung, Demographie, Souveränität, Bildungs- und Niveauverfall ansähe. Es gäbe drei Möglichkeiten, sagte ich: weiterwurschteln, individueller Waldgang oder formierende Massenpolitik.
Drei Jahre ists nun her, dieses Gespräch. Böcker veröffentlichte es damals im Rahmen des Sonderheftes Gespräche der Sezession (von dem es noch ein paar Exemplare gibt und in dem auch Interviews mit Martin Lichtmesz, Erik Lehnert und Karlheinz Weißmann abgedruckt sind). Stand der Dinge: Es wird noch immer weitergewurschtelt, Sarrazin hat mit Deutschland schafft sich ab ein vorsichtiges Programm formierender Massenpolitik vorgelegt und innerhalb der Sezession ist die Tendenz zum Waldgang stärker geworden.
Die Abneigung gegen jede Beteiligung am Ganzen ist mehr denn je virulent, weil manche von uns seit 20 Jahren darauf warten, daß unsere Zeit komme. Martin Lichtmesz hat jüngst das Experiment mit dem Frosch beschrieben, der aus dem Topf springt, wenn man ihn ins heiße Wasser wirft. Sitzen bleibt er, wenn man die Temperatur langsam erhöht.
Für Böcker, mich, die meisten der Leser hier gibt es immer einen Ort, an dem wir uns “mit unseren Lieben” einrichten können. Wir sind zu gut ausgebildet, zu fleißig und zu ordnend für einen Absturz in eine existentielle Notlage. Das macht uns beide zu schlechten Revolutionären, Böcker zu einem Offizier, der an Dienst und Gesellschaftsordnung festhält und mich zu einem guten Bewohnern einer Casa 451.
Seltsam meine Neigung, mich in Phasen wie der Jetzigen zu den Büchern zurückzuziehen und nochmals die Grundlagen zu studieren: Carl Schmitts Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Thor v. Waldsteins Der Beutewert des Staates oder Josef Schüßlburners Konsensdemokratie. Müßte es einen auf die Straße treiben? Aber wohin denn? Die Gegner sind unsichtbar.
Aber vielleicht kommt die Zeit, auf die zumindest ich schon so lange warte, doch noch – und mit ihr der Befehl, wieder in die andere Richtung zu laufen.
Ein Fremder aus Elea
Tja, es ist paradox, nicht wahr?
Ich habe den Kern der Fäulnis stets darin empfunden, daß Leistung nicht geachtet wird. Und dabei definiert sich unser Land nach außen hin ausschließlich durch Leistung. "Leisten, aber Leistung nicht achten." Was für ein Wahlspruch. Es ist notwendig und hinreichend, daß die Massenpolitik die Aufhebung dieses Zwiespalts vorantreibt.
Wir sind zu gut ausgebildet, zu fleißig und zu ordnend für einen Absturz in eine existentielle Notlage. Das macht uns beide zu schlechten Revolutionären
Revolutionäre... es ging Ihnen doch kürzlich noch um ein Unschwenken des Feuilletons nach rechts. Das ist ja nun nicht ganz das Selbe. Die meisten Journalisten sind Opportunisten, ganz aufgeben müssen Sie Ihre Hoffnung also nicht. Andererseits, wenn nicht eine Mehrheit der Deutschen einen Kurswechsel will, dann wird er auch nicht kommen. Wenn nicht eine Mehrheit denkt, daß sie im Begriff ist, etwas wesentliches zu verlieren. Also heißt es anfangen, schöne Lieder zu singen, von all dem, was man hat und auch morgen noch gerne hätte.
's muß schon Sehnsucht sein. Still aufleuchtende Augen. Oder halt Verzweiflung.
Botho Strauß charakterisiert sich ja als jemand, dem das kleine familiäre Glück genügt, der aber um es fürchtet. Davon gibt es natürlich viele, damit hat man sich gleich in ihre Mitte gerückt. Aber deren Sorgen gehen nicht weiter, als daß der obige Zwiespalt endlich aufgehoben werde. Was völlig legitim ist, aber wer das erreichen will, der sollte geradewegs danach greifen und nicht unnötigen Balast mitschleppen.
Ich selbst bin mehr als traurig, daß so viele Deutsche so viele Dinge einfach nicht kennen oder auch nicht kennen wollen. Wenn sie nach Osteuropa gehen, denken sie an nichts anderes als daran, den Osteuropäern zu sagen, was sie als nächstes zu tun hätten, weil sie selbst es ja so gut wissen - und dabei gibt es auf der anderen Seite ein sehr genaues Verständnis dessen, was an Deutschland nachahmenswert ist. Irgendwo beschämend.
Andererseits, wer den Mammon anbetet, der tut es halt. Wer sich über jedes neue Mehr von neuem freut. Nun gut, die meisten sind schlicht bescheiden und richten sich ein. Aber das wird auf lange Sicht nicht gehen. Irgendwann muß man sich entscheiden, auf welcher Seite man steht, es gibt keine Dynamik, die das verhindern könnte, der Riß wird tiefer, unabhängig davon, ob man die Leistungsächtung aufhebt oder nicht, letztere sorgt nur dafür, daß er schmerzhafter empfunden wird.
Dieser Masochismus hat durchaus einen Grund, aber dieser Grund ist eine Hoffnung, welche sich nicht erfüllen wird. Letzlich das Ausschau halten nach einem von einem Schwan gezogenen Nachen. Aber halten wir das mal fest: Der kann nur kommen, wenn die Umstände danach sind. Und die Umständen sind ganz anders. An ein Ende des Hedonismusses ist nicht zu denken, das Feuer ist längst außer Kontrolle. Jetzt brennt es, bis es keine Nahrung mehr findet.
So sieht es doch aus. Mag sein, daß in der Zukunft die Verzweiflung groß genug wird, um sich an einer autoritären Ordnung festzuhalten. Aber erst einmal werden wahrscheinlich die letzten Hemmungen fallen und die Party weitergehen. Das alles ist bereits jetzt spürbar, aber kommen muß es erst noch. Der Mensch hat seine Ahnungen ja zu einem Zweck. Er verstärkt jede Sorge tausendfach, weil sie sich so zögerlich beweist. Ohne Not nichts Neues, nur ein Kritiker kann Monumente errichten, da hat Nietzsche ja Recht gehabt.