veröffentlichte die Süddeutsche an oberster Stelle ihrer Online-Ausgabe folgende Gefahrenmeldung: „Party-Patriotismus ist Nationalismus“. Später schob man den Artikel ins Ressort Wissen Gesundheit ab.
Was dem Leser unter der alarmistischen Überschrift geboten wurde, folgte dem fußballerischen Motto „jeder Schuß ein Treffer“: Ein Staccato der Absurditäten, abwechselnd vorgebracht vom Autor Markus C. Schulte von Drach (der eine völlig ungelenke Schreibe an den Tag legt) und den zitierten Sozialwissenschaftlern (allesamt, wie es scheint, Totenträger ihrer Disziplin), gipfelnd in der Feststellung, es sei eine „gefährliche Fehleinschätzung“, in den mit den Farben der Bundesflagge geschmückten Fußballfans den Ausdruck eines „unverkrampften Patriotismus“ zu erblicken. Die folgenden Höhepunkte sprechen für sich und sind darum nur geringfügig kommentiert:
Wilhelm Heitmeyer, vielen bekannt aus der beliebten Serie Deutsche Zustände, hat erkannt, daß
der Kern des Patriotismus … genau wie beim Nationalismus, die Identifikation mit seinem Land (ist)… Der Patriot ist außerdem stolz auf die Demokratie und auf die sozialen Errungenschaften in seinem Land, ohne dass er das mit anderen Ländern vergleicht. Der Nationalist dagegen vergleicht sein Land immer mit anderen Nationen. Er ist stolz, Deutscher zu sein, und er ist stolz auf die deutsche Geschichte.
Wie kommt es dann trotz diesem Unterschied zur Gleichung Party-Patriotismus gleich Nationalismus? Prof. Wagner und Dr. Becker aus Marburg klären auf:
Die Identifikation mit dem Land spielt bei diesen Patrioten keine so wichtige Rolle … Wenn sie aber hochgekocht wird, dann kommt es auch bei Patrioten zu dem gleichen negativen Effekt wie beim Nationalisten.
Hochkochen heißt in diesem Fall: Fußball schauen, jubeln, Fahnen schwenken. Dann kommt es zum „gleichen negativen Effekt“ wie beim herkömmlichen Nationalisten, sprich: Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Ausgrenzung. Klarer Fall. Dagmar Schediwy, gleichfalls Sozialwissenschaftlerin, kann das nur unterstreichen. In ihrer Studie Ganz entspannt in Schwarz-Rot-Gold? finden sich Hinweise auf einen neuen, gleichsam natürlichen Nationalstolz unter deutschen Fußballfans:
Nicht selten habe man ihr erklärt: ‘Wir leben in Deutschland. Da ist man stolz auf sein Land’.
Das kommt nicht von ungefähr, zieht man Schediwys folgende verblüffende Erkenntnis in Betracht:
Demnach spielt der Bezug auf die Demokratie und die sozialen Errungenschaften in der deutschen Gesellschaft kaum eine Rolle für die Fans.
In der Halbzeitpause noch nie an Bundestagswahlen und Arbeitslosengeld gedacht? Noch erstaunlicher aber:
Es geht vielen um den Partyspaß und den Sport.
Und für diese habe Schediwy einen besonderen Rat, der ein wenig an Spaß auch ohne Alkohol erinnert:
Dafür aber bräuchte man keine Fahnen.
Die unverbesserlichen Fahnenschwenker längst durchschaut hat der intime Kenner Prof. Boehnke aus Bremen:
Dass sie dabei ein bestimmtes Konzept aufgreifen, ist ihnen vermutlich nicht bewusst.
Mit derselben begrifflichen Schärfe sekundiert der schon erwähnte Prof. Wagner:
Die nehmen einen Trend mit, der auch von außen durch verharmlosende politische Äußerungen weiter gefördert wird … und dieser Gesamtprozess birgt über längere Zeit eine große Gefahr des Missbrauchs.
Immerhin verfügt Wagner über das Proseminarwissen, dass Identifikation immer auch bedeutet,
…dass man in einer gewissen Form die Landeszugehörigkeit in das eigene Selbstverständnis aufnimmt.
Damit keine Zweifel am Vorrang des rein Menschlichen aufkommen, fügt Autor von Drach erklärend hinzu:
Man ist nicht mehr nur ein Mensch, zufällig geboren in einem bestimmten Land. Man definiert sich selbst zu einem Teil über die Nationalität.
Wie gefährlich die derzeit auf den Fanmeilen zu beobachtende „zu starke Identifikation mit dem eigenen Land“ werden kann, bringt wiederum Boehnke unter Zuhilfenahme von ehrenwerten rhetorischen Mitteln auf den Punkt. Bitte festhalten:
Ich halte dieses ungezwungene Zeigen der nationalen Insignien – und zwar gar nicht mit Blick auf den Holocaust und andere deutsche Verbrechen – für problematisch, weil hier eine antimoderne Stimmung entsteht.
Sic! Nach dem wuchtigen Einsatz der erwähnt-unerwähnten Keule schlägt Boehnke schließlich den Bogen vom Fußballplatz zum Stabilitätsmechanismus und weit darüber hinaus:
Nationalismus oder Patriotismus sind rückwärtsgewandte Orientierungen. Wir leben in einem Zeitalter, wo es darauf ankommt, mit anderen international zu kooperieren. Da ist es nicht wichtig, schwarz-rot-goldene Fahnen aus dem Fenster zu hängen. Da ist nur wichtig, zu zeigen, dass wir offen sind für die Welt.
Welche bewußtseinsverändernde Rolle die Fahnen bzw. Flaggen tatsächlich spielen, weiß schließlich der Sozialpsychologe Wagner:
In einer jetzt veröffentlichten Studie konnten Wagner und sein Team zeigen, dass schon eine kleine deutsche Flagge auf einem Fragebogen dazu führt, dass das Nationalgefühl und die Ablehnung von Fremden wächst – zumindest bei jenen, die bereits eine leichte Tendenz zum Nationalismus haben (Social Psychology, Bd.43, S.3–6, 2012). Welche Effekte dürfte dann das Fahnenmeer beim Public Viewing haben?
Achten Sie auf das Kleingedruckte! Damit uns dieses dem Fahnenmeer entsteigende Monstrum erspart bleibt, werden die Schediwys, Wagners und Boehnkes insgeheim den Italienern die Daumen gedrückt haben. Lediglich Wilhelm Heitmeyer bemerkte jovial und gleichmütig: „Hauptsache, es ist ein schönes Spiel“.
Fällt eine solche Äußerung unter echten, d.h. parteiischen Fußballfans gleich welcher Seite nicht schon unter die Kategorie „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“?