Außenstehende dachten sich seinen Kreis zuweilen als einen Geheimbund mit strengen Initiationsregeln und einem Hohepriester an der Spitze, der aus bibliophilen Preziosen in monotonem Sprechgesang liturgische Lesungen zelebriert und – spätrömischen Kaisern nacheifernd – allen Ernstes einen Jüngling zu einem neuen Gott erhoben hat, doch wer ihm, zumal in seinen späteren Jahren, begegnete, vermerkte erstaunt die Schlichtheit seines Wesens, den einfachen Lebensstil des Dichters, der zeitlebens den Dialekt seiner Pfälzer Heimat sprach.
Mit einer gewissen Ratlosigkeit unterschied man einen frühen, vom französischen Symbolismus geprägten George, den man als deutschen Vertreter einer Literatur der Decádence ansah, von dem späteren Dichterpropheten und „völkischen Seher”, dem Menschenführer und ‑verführer, der – eigentlich eine singuläre Erscheinung – mit seinem Willen zur Schaffung eines „Neuen Reiches” allenfalls einem künstlerisch verstiegenen Seitenzweig der „Konservativen Revolution” zugerechnet werden kann. Die Veränderungen in seinem äußeren Habitus – der mondäne Zylinder wich schon früh der Baskenmütze, die bunten Westen und eigenwillig geschlungenen Krawatten des Dandys wurden durch einen priesterlich schwarzen Rock ersetzt, während auf den Altersfotos die einfache graue Strickjacke genügte – sowie die Akzentverschiebungen in seinem Werk von antiken, mediterranen und exotischen Sujets zu Themen und Gestalten der deutschen Geschichte und Gegenwart scheinen diesen Eindruck zu belegen. Dem Selbstbild des Dichters entspricht eine solche Unterscheidung jedoch nicht: „Ihr sehet wechsel doch ich tat das gleiche.”
Über dieses Tun sind wir dank der ausgiebigen Gedächtnispflege des George-Kreises, der erhaltenen Briefwechsel, der in den letzten Jahren stark angewachsenen Forschungsliteratur und der editorischen Erschließung von Werken und Nachlässen auch zweit- und drittrangiger Figuren aus dem Umfeld des Dichters bestens informiert, und doch staunt man in der heutigen pathosentwöhnten Zeit über die bezwingende Macht seines Charisma. Zudem sind Rilke und Benn als Lyriker von vergleichbarem Rang, und die Biographien von Jünger oder d’Annunzio sind gewiß abenteuerlicher, auch entbehren Georges dandyhafte Züge und antikisierenden Posen nicht einer unfreiwilligen Komik; die Formstrenge seiner Gedichte wurde schon von manchen Zeitgenossen als hölzern angesehen und gern parodiert, aber die Faszination seiner Gesamterscheinung wirkt ungeachtet unseres Wissens von den Techniken ihrer Inszenierung fort. Der große Mensch läßt sich eben nicht durch „soziale Strukturen” wegerklären, ein bedeutender Autor zitiert nicht nur aus unterschiedlichen „Diskursen”, und das Geheimnis des Eros liegt nicht in der „Gender-Performance”.
Es ist daher vielversprechend, wenn Thomas Karlaufs soeben erschienene George-Biographie den Untertitel Die Entdeckung – und nicht etwa: „Die Konstruktion” – des Charisma führt oder der Klappentext den Dichter ganz schlicht und ohne Anführungszeichen als Propheten bezeichnet, und auch Karlaufs Klarstellung, daß der Fluchtpunkt, auf den eine Beschreibung von Georges Leben zulaufen müsse, nicht das Jahr 1933 sein könne, läßt hoffen, daß er seine Aufgabe überzeugender gelöst hat, als es Robert E. Norton mit den schematischen Parallelisierungen von „Meister” und „Führer” in seinem Secret Germany gelungen ist. Die Erwartungen an ein solches Werk sind freilich hoch, muß der George-Biograph doch zwischen den Klippen der allzu hagiograpischen Darstellung (oder auch nur des Vorwurfs derselben), der bloßen Faktenhuberei oder theoretischen Vereinnahmung sowie des Abgleitens in die Werkanalyse hindurchschiffen; und die Aufmerksamkeit der Fachkollegen ist um so größer, als sich seit den monumentalen, noch aus dem George-Kreis selbst hervorgegangenen Biographien von Friedrich Wolters – dem offiziösen, vom Meister mitverfaßten Werk über Stefan George und die Blätter für die Kunst (1930) – und Robert Boehringer kein deutschsprachiger Autor mehr an eine Lebensbeschreibung Georges herangewagt hat, sieht man von Franz Schonauers verdienstvoller Rowohlt-Monographie (1960) einmal ab.
Der fast einhellige Jubel, mit dem Karlaufs voluminöses Werk von den Rezensenten aufgenommen wurde, stimmt allerdings bedenklich, ist man doch gewohnt, daß gute Bücher vom deutschen Gegenwartsfeuilleton entweder totgeschwiegen oder zumindest verrissen werden, und das Bedenken steigert sich, wenn man die Gründe für diese Belobigungen zur Kenntnis nimmt: Immer wieder wird hervorgehoben, daß Karlauf Georges Homosexualität „tabulos” beschrieben habe, dabei die zahlreichen, manchmal erschütternden menschlichen Verwerfungen nicht verschweige, etwa die Peinlichkeit, mit der er halbwüchsigen Jünglingen nachstieg oder sie für seinen Kreis von älteren Vertrauten „rekrutieren” ließ, oder die Schroffheit, mit der er langjährige Jünger von sich stieß; aber der Reduktionismus dieser Fokussierung (den Karlauf selbst jedoch bestreitet) liegt auf der Hand: Fritz J. Raddatz ist zuzustimmen, wenn er Karlauf vorwirft, er mache George tendenziell zu einem „Schwulen, der auch Gedichte geschrieben hat” (Die Zeit vom 30. August 2007), und er moniert mit Recht die allzu massenmedial geprägte Sprache des Autors, die den dichterischen Funken nicht überspringen läßt.
Ein vernünftiger Zugang zu Karlaufs George-Biographie sollte indes in der Mitte liegen: Weder gibt es Tabubrüche zu feiern, wo keine Tabus mehr zu brechen sind, noch muß man das Buch beiseitelegen, weil es auch von den Niederungen einer großen menschlichen Existenz handelt; und man sollte sich die Lektüre auch nicht davon verleiden lassen, daß der Autor zwar kritisiert, wenn sein Kollege Norton Georges Leben und Werk (aus unzureichender Kenntnis der deutschen Geistesgeschichte, gepaart mit politisch-korrekter Engstirnigkeit) in die Ereignisse des Jahres 1933 münden läßt, dann aber selbst pflichtschuldig feststellt, der „deutsche Geist”, wie ihn George verstanden habe, sei am Nationalsozialismus „mitschuldig” geworden und daher zu Recht und „für immer im Abgrund der Geschichte” verschwunden.
Statt in jedem Gedicht nur Hinweise auf Georges ohnehin bekannte Homosexualität sehen zu wollen, kann man auch den umgekehrten Weg einschlagen und feststellen, daß er, von dieser Disposition ausgehend, zu einer – männerbündisch geprägten – dichterisch-politischen Vision gelangte, die unabhängig von ihren persönlichen Wurzeln und zeitbedingten Ausprägungen (etwa seinem manchmal kurios wirkenden Frauenhaß oder dem Widerspruch zwischen der Feier des vormodernen Lebens und dem sehr modernen ästhetischen Avantgardismus) eine fortwährende – angesichts der heute noch gesteigerten „Vermassung”, des Bildungsverfalls und Persönlichkeitsschwundes sowie der erneut totalitäre Züge gewinnenden Parteien- und Medienherrschaft sogar zunehmende – Gültigkeit besitzt.
Schon die Jugend des am 12. Juli 1868 als Sohn eines Gastwirts und Weinhändlers in Büdesheim bei Bingen geborenen Stephan Anton George, wie er eigentlich hieß, war davon geprägt, auf andere Menschen wirken, über sie herrschen zu wollen. Er galt, obwohl er später seine ländliche Herkunft gerne betonte, in seinem Heimatort stets als Sonderling, hielt sich von den Altersgenossen meist fern und spielte allenfalls „König und Minister” mit ihnen (wobei er selbstredend immer der König sein wollte); er zeigte früh literarische Ambitionen und gab eine Schülerzeitung Rosen und Disteln heraus, lernte als Halbwüchsiger – ein echtes Sprachgenie – nahezu alle europäischen Kultursprachen, um die von ihm bewunderten Dichter im Original lesen zu können, und entwickelte eine Geheimsprache, der er sich auch später noch bediente.
Der strenge Katholizismus seiner als lieblos und depressiv geschilderten Mutter hat seinen späteren Formwillen sicher maßgeblich beeinflußt, obgleich er sich inhaltlich schon früh von der Religion des familiären und heimatlichen Umfeldes gelöst hat. Beide Eltern besaßen keinen großen Bildungshorizont, ließen ihm aber jede ihnen mögliche Förderung angedeihen; der Vater finanzierte großzügig seine Studien, obwohl ihm bald offensichtlich sein mußte, daß der angehende Dichter nach keinem akademischen Abschluß strebte und niemals Anstalten machte, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen. Der junge George reiste viel und führte ein unstetes Leben; auch später hatte er nie einen festen Wohnsitz und hielt sich zeitweise bei den Wohlhabenderen unter seinen Jüngern, zeitweise bei seiner unverheiratet gebliebenen Schwester in Bingen auf. Bereits als Student lebte er wie ein Privatier und begann sein Netzwerk von Freunden und Anhängern zu knüpfen, was neben der Dichtung seine Hauptbeschäftigung bleiben sollte.
Die wichtigsten Anregungen empfing er in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren in Paris und Wien: In Paris gewann er Zugang zu dem elitären Zirkel um Stéphane Mallarmé, dessen Verständnis nicht nur der Kunst, sondern auch der sozialen Rolle des Dichters ihn nachhaltig prägte, und in Wien lernte er 1891 den sechs Jahre jüngeren Hugo von Hofmannsthal kennen. Der frühentwickelte, in den Caféhäusern bereits gefeierte Dichterjüngling steuerte auch einige Werke für Georges 1892 gegründete Zeitschrift Blätter für die Kunst bei, ließ sich aber nicht für dessen kulturstrategische Ziele vereinnahmen und wies die homoerotischen Avancen zurück.
Der Bruch mit Hofmannsthal blieb für spätere Beziehungen Georges gerade zu seinen bedeutendsten Freunden symptomatisch (weshalb Karlauf ihn auch an den Beginn seines Buches stellt): Während minder einzigartige – gleichwohl bemerkenswerte – Begabungen durch seinen Einfluß gefördert wurden und Menschen wie Friedrich Wolters, zeitweilig so etwas wie der erste Minister in Georges Hofstaat, Berthold Vallentin, der Verfasser eines Buches über Napoleon, Ernst Morwitz, der später mit seinem George-Kommentar hervortrat, oder die Philosophin Edith Landmann eine Höhe der Existenz erreichten, die ihnen ohne die Begegnung mit George kaum möglich gewesen wäre, muß für die herausragendsten Persönlichkeiten seines Umfeldes immer wieder ein ähnliches Verhältnis von Anziehung und Abstoßung konstatiert werden: Besonders tragisch war der Fall des Literarhistorikers Friedrich Gundolf, der – einer breiten Öffentlichkeit mit seinem monumentalen Goethebuch bekanntgeworden – lange Zeit als erster Jünger galt und wie kaum ein anderer zur Verbreitung von Georges Kulturbegriff beigetragen hat. Als er 1926 heiratete, „verstieß” ihn George, nachdem das Verhältnis schon seit längerem zerrüttet war; im folgenden Jahr erkrankte Gundolf an Krebs und starb 1931, genau an Georges Geburtstag. In anderen Fällen – etwa bei Max Kommerell, dem neben Gundolf und Ernst Bertram dritten berühmten Germanisten des George-Kreises – vollzog sich die Trennung nicht ganz so schroff.
Um die Jahrhundertwende hielt sich der Dichter, der bereits mit Hymnen – Pilgerfahrten – Algabal (1890–92), einem Schlüsselwerk des ästhetizistischen Amoralismus, den Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der Hängenden Gärten (1895), dem Jahr der Seele (1897), das Georges erfolgreichster Gedichtband werden sollte, sowie dem Teppich des Lebens (1900) hervorgetreten war, bevorzugt in München auf und verkehrte in den Kreisen der Schwabinger Boheme. Einen intensiven Austausch pflegte er mit dem Lyriker, Essayisten und Übersetzer Karl Wolfskehl, in dessen Wohnung ihm stets ein Zimmer reserviert war, dem Philosophen Ludwig Klages, der später durch seine graphologischen Schriften sowie sein Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (1929–31) berühmt werden sollte, und dem esoterischen Dichter und „Mysterienforscher” Alfred Schuler, dem eigentlichen spiritus rector der von ihnen gebildeten „Kosmischen Runde”. Alle drei vertraten in Anknüpfung an Nietzsche sowie an das Mutterrecht des Basler Religionshistorikers Johann J. Bachofen neuheidnische und neognostische Ideen, die mit einer Aufwertung der matriarchalen und „dionysischen” gegenüber den „apollinischen” Elementen der antiken Religion sowie mit einer radikalen Zivilisationskritik verbunden waren. Da Wolfskehl ähnliche Tendenzen auch im frühen Judentum erkennen wollte (und Verbindungen zum aufkommenden Zionismus unterhielt), kam es 1904 zu einem scharfen Bruch mit Schuler und Klages, die im Judentum allein die „zersetzende”, naturfeindliche und kulturzerstörende Kraft des „jahwistischen” Geistes ausmachten. George hielt bei diesem Streit zu Wolfskehl, wurde durch den chthonischen Mythos der Kosmiker aber zur Ausbildung eines artifiziellen und für die Entwicklung seines Kreises konstitutiven Gegenmythos veranlaßt: 1902 hatte er den dreizehnjährigen Maximilian Kronberger kennengelernt, der bereits zwei Jahre später verstarb und von George als jugendlicher Gott „Maximin” gefeiert wurde, dem er 1907 ein „Gedenkbuch” widmete. Ein Maximin-Zyklus bildet auch das Zentrum seines im selben Jahr erschienenen umfangreichsten Gedichtbandes Der siebente Ring, in dem ansonsten die Zeitkritik hervortritt und die unmittelbar an die Weggefährten gerichteten Widmungsgedichte einen breiten Raum einnehmen. Die nicht nur hier zum Ausdruck kommende Bezogenheit der Dichtung auf den Menschen läßt die strikte Unterteilung von Georges Schaffen in eine frühe, allein der Kunst gewidmete Phase und eine spätere, in der die Kreisbildung im Mittelpunkt steht, fraglich erscheinen; lediglich die Akzente verschieben sich, indem die Anhänger zahlreicher und jünger werden – entscheidend für Georges Werk aber bleibt der Formwille, der die Dichtung wie den Kreis beherrscht und zyklisch verbindet: Die Dichtung handelt von Menschen und richtet sich an diese – die Menschen (seiner engeren Umgebung und darüber hinaus) sollen nach den Prinzipien des Dichterischen geformt werden.
Der Erste Weltkrieg, dem George zumindest als konkretem historischen Geschehen nichts abgewinnen konnte („kein triumf wird sein, / nur viele untergänge ohne würde”), verstärkt die Tendenzen zur Ausbildung eines einheitlichen Kreises, der in den zwanziger Jahren „staat” genannt wird, und zur prophetischen Schau: 1914 erschien mit dem Stern des Bundes gleichsam das Gesetzbuch des Kreises, 1917 folgten Der Krieg und 1921 Drei Gesänge, die 1928 in Georges letzten Gedichtband Das Neue Reich aufgenommen wurden. Einige der Getreuen, darunter der Hölderlinforscher und ‑herausgeber Norbert von Hellingrath, kehrten aus dem Kriege nicht wieder zurück, doch konnten neue Anhänger gewonnen werden, unter denen die Brüder Stauffenberg als Hitler-Attentäter geschichtliche Geltung erlangen sollten. Ihre Tat kann als das eigentliche historische Vermächtnis des Kreises angesehen werden, nachdem George selbst 1933 das Ansinnen der neuen Machthaber, ihn als geistigen Repräsentanten zu gewinnen, zurückgewiesen hatte. Zwar bestritt er nicht eine gewisse Ahnherrschaft für die „neue nationale Bewegung”, wie er sich ausdrückte, lehnte das Angebot des preußischen Kultusministers Rust, Präsident der Akademie für Dichtkunst zu werden, jedoch ab. Da er am 4. Dezember 1933 im schweizerischen Minusio verstarb, blieb es ihm erspart, seine Haltung des über die Realpolitik erhabenen Dichterfürsten auch noch zu bewähren, wenn das Regime des prominenten Aushängeschildes nicht mehr bedurft und eine eindeutigere Stellungnahme verlangt hätte. Sein Kreis zerfiel bald nach seinem Tod; einige, zumal der jüngeren Mitglieder arrangierten sich mit dem Nationalsozialismus oder zogen eine Linie vom Neuen Reich zum Dritten, andere gingen in die (innere oder äußere) Emigration, wieder andere wählten den aktiven Widerstand.
„Es lebe das Geheime Deutschland” soll Claus Graf Schenk von Stauffenberg unmittelbar vor seiner Erschießung in der Nacht zum 21. Juli 1944 im Hof des Bendlerblocks gerufen haben. Verschiedenes hat man unter diesem von Julius Langbehn geprägten, von Wolfskehl für den George-Kreis aufgegriffenen, von George in seinem Gedicht Geheimes Deutschland zu einem Zentralgedanken seines geistigen Staates erhobenen Begriff verstanden: den George-Kreis selbst oder allgemein das Deutschland der Dichter und Denker, ein „anderes Deutschland” im Gegensatz zu dem der Nationalsozialisten oder ein Ewiges Reich, das Wolfskehl auch in sein Exil im fernen Neuseeland mitnehmen zu können glaubte: „Wo ich bin, ist deutscher Geist.” Es bleibt uns ein „wunder undeutbar für heut”, wie es in Georges Gedicht heißt, noch immer aufgegeben für die Zukunft.