eine quasifeministische Widerstandsikone fabriziert hat (und die verzweifelte Gottsucherin, die sie war, dabei überging, mit Ausnahme von Barbara Beuys opulenter Biografie, Sezession 36/2010), hat man Hans, den Kopf der Weißen Rose, bis dato vernachlässigt.
Erst 2005 wurde die Dokumenten-Sammlung der ältesten Scholl-Schwester Inge im Münchener Institut für Zeitgeschichte zugänglich gemacht. Die Historikerin Barbara Ellermeier, Jahrgang 1980, hat vor allem unter Zuhilfenahme eines Konvoluts an Briefe von und an Hans Scholl (1918–1943) einen beinahe romanhaften Zugang zum Leben des schneidigen HJ-Führers und späteren Widerständlers gewählt. Es gibt weder Fußnoten, Einleitung noch Epilog, nur ein schmales Literaturverzeichnis; wer an einer Auflistung der Quellen und an Belegen interessiert ist, wird auf Internetseiten verwiesen.
Mithin liest sich das Buch als liebevoll kommentierte Chronologie, die 1937 einsetzt, also knapp ein Viertel des kurzen Lebens Hans Scholls umfaßt. Über die „soliden neuen Fakten“, die der Klappentext verspricht, bleibt der Leser im Unklaren. Eine Auseinandersetzung mit neueren Erkenntnissen oder etwa den Mutmaßungen Sönke Zankels (der Scholl durch eine nur teilweise Indizienkette als drogenkonsumierenden, antidemokratisch gesinnten Radikalen ansieht) fehlt.
Über den als tollkühn und arrogant geltenden Hitlerverehrer Scholl, der (gemeinsam mit Sophie) als einziger der Gemeinde in HJ-Uniform zur Konfirmation ging und eine Radierung mit einem Führerportrait über sein Bett hängte, erfahren wir nur am Rande.
Seine Wurzeln in der bündischen Jugend werden genannt, aber nicht erhellt, das „Bündische“ bleibt ein Fremdbegriff in Anführungszeichen. Ein „Seitensprung“ des Vaters wird per Halbsatz erwähnt, nicht aber der außereheliche Halbbruder. Desgleichen geschieht mit Hans Scholls Anklage gemäß §175: Sie (1938) kommt nebenbei zur Sprache, den Hintergründen – eine langwährende Affäre mit einem Jüngeren – wird nicht nachgegangen.
Den gewaltigen Liebesdurst des späterhin geradezu notorischen Frauenschwarms Hans Scholl kann Ellermeier nicht übergehen, zumal die Briefwechsel mit seinen teils parallel unterhaltenen Liebschaften einen Großteil der ausgewerteten Korrespondenz ausmachen. Seine letzte Liebe Gisela Schertling stand als Tochter strammer Nationalsozialisten jeglichem Widerstandgedanken fremd gegenüber. Sie sagte später aus, sie sei körperlich so sehr beansprucht gewesen, daß ihr das politische Tun ihres Liebhabers entgangen sei: „Ich unterlag eben seiner Verführungskunst, die Hans Scholl ja besonders gegeben war.“
Hans Scholl war ein Feuerkopf, leicht entflammbar, stets glühend, nie zufrieden, immer in rasendem Aufbruch. Die Autorin verzichtet einerseits dankenswerterweise auf Küchenpsychologie, analysiert andererseits allzu artig. Dabei fiele es nicht schwer, Scholls teils tiefe Melancholie („eine verrückte Traurigkeit“ nennt er es), teils berstenden Aktivismus in das klinische Erscheinungsbild einer manisch-depressiven Persönlichkeit einzuordnen. Scholl zeigt sich während all der Jahre Stimmungen unterworfen, die sich nicht allein mit dem Unbill der Zeit erklären.
Lange wartet der Medizinstudent auf eine Abberufung an die Front, gern wäre er „dort, wo Heldentaten am laufenden Band vollbracht werden“, er schätzt den Krieg als Läuterungsmaschine und ja, das französische Volk habe „die Knute verdient!“ Nach mehrwöchigem Einsatz weist er den Glauben zurück, der Mensch müsse weiser und reifer aus dem Krieg zurückkehren. Dies sei bei den wenigsten der Fall.
Er, der Jahre kaserniert nächtigen muß, nimmt sich nebenher ein eigenes Zimmer – wie er auch trotz Geldmangel reichlich Bücher erwirbt – und beschwört seine Freundin Rose brieflich, sie möge sich nie gemein machen mit gleichaltrigen Mädchen. „Mit 17 oder spätestens mit 20 Jahren“ gäben diese ihr Ich auf und ließen sich im trüben bürgerlichen Strom treiben. Scholl spricht von Ekel gegenüber der Masse, mit der man Mitleid haben solle, „aber ein Mitleid, das der Verachtung entspringt.“
Ergreifend ist der – auszugsweise und teils erzählerisch wiedergegebene – Briefwechsel, den Scholl mit Mutter, Vater, Inge und Sophie unterhielt. Wie eng diese Familienbande waren – die Briefe, niemals schnöde Lebenszeichen vulgo „Statusmeldungen“, flogen nur so hin und her –, wie warmherzig und ernsthaft der Ton! Über ähnlich tiefgreifenden Austausch mit Alexander Schmorell, Christoph Probst oder auch Hans Hirzel, den Mittätern der Weißen Rose, erfahren wir wenig. Anscheinend schweigen die Quellen hierzu. Diese Männer platzen wie unverhofft in Scholls Leben. Deutlich wird allein, wie Scholl Ende 1941 durch den charismatischen väterlichen Freund Carl Muth und dessen Kreis aus katholischen Intellektuellen Christus als Wegweiser begreift. „Dann ist es von Zeit zu Zeit heller geworden. Dann ist es wie Schuppen von meinen Augen gefallen. Ich bete. Ich spüre einen sicheren Hintergrund und sehe ein sicheres Ziel. Mir ist in diesem Jahr Christus neu geboren.“
Am 22. Februar 1943 hat Hans Scholl sein Kreuz auf sich genommen. Seine Flugblätter waren ohne Wirkung geblieben. Prozeß und Urteil waren maßlos, sein populärer Nachruhm fußt auf einem Mythos. Seine einfühlsame Biografin hat in ihrem Frauenbuch – so darf man es wohl nennen – dieses Bild übernommen und ihm immerhin einige Schattierungen beigegeben.
(Barbara Ellermeier: Hans Scholl. Biographie, Hoffmann und Campe 2012, 429 S., 24.99 €)