Für einen Schauspieler, der gerade im Hotel gegenüber logiert und die Szene mit ansieht, ist es klar: „Der deutsche Landser ist einfach nicht mehr reproduzierbar. – Die müssen so häufig laufen, damit sie richtig erschöpft aussehen. Aber wenn erstmal der erste weint und nach Hause will, dann ist das Ziel wenigstens erreicht.” Hessische Touristen dagegen fachsimpeln über die körperliche Größe von Tom Cruise. Sagt der eine: „Jeder Liliputaner ist doch größer als der”, entgegnet der andere: „Ach, das ist doch nur eine Einstellungsfrage der Kamera.” – Eine kleine Fotokamera hat auch der Tourist, an dessen Jacke unübersehbar der Sticker „God Save Berlin” prangt. Als er gerade vorprescht und in die Knie geht, um ein Bild durch die Toreinfahrt des Bendlerblocks zu machen, wird von den Security-Leuten plötzlich die Sicht durch ein mit Stoff bespanntes Gitter verstellt. Die Kamera, die er gerade „schußbereit” gemacht hatte, muß er unverrichteter Dinge wieder einstecken.
Gedreht wird noch bis zum Morgengrauen, gegen Mitternacht fallen noch mehrmals Schüsse, eine Art „Trockenübung”, da die Schauspieler der 1st Unit doch erst morgen antreten.
Samstag, 13. Oktober 2007 – 2. Tag, 1st Unit
Die Nachrichten im U‑Bahn-Fernsehen der U2, die Richtung Drehort am Potsdamer Platz führt, melden den Nachdreh von Tom Cruise – vor ihm die Hartz-IV-Demo mit 7.000 Teilnehmern, hinter ihm die Botschaft, daß die Kuppel des Reichstags wegen Reinigungsarbeiten geschlossen wird. – Anschließend erscheint ein Zitat von José Ortega y Gasset: „Die Vergangenheit kann uns nicht sagen, was wir tun, aber was wir lassen müssen.” – Weitere Meldungen: Der Tod von Anna Nicole Smith wird neu aufgerollt und Reinhold Messner bekennt, daß er nicht an den Yeti glaubt.
Vor dem Bendlerblock unterhalten sich junge Leute mit einem Ordner der Filmcrew bloc inc. Als sich ein Mann von der Presse nähert, der gern mithören würde, ruft er: „Jetzt kommt ein Journalist, dann halt ich die Klappe.” Es klingt wie eine unverhohlene Drohung. Die Konfirmandengruppe aus Göttingen, solchermaßen ihres Gesprächspartners beraubt, berichtet sichtlich unsicher: Ja, der Mann habe ihnen von der „Geschichte und so” erzählt. Haben sie denn die Geschichte Stauffenbergs und des Attentats vom 20. Juli 1944 nicht gekannt? „Na, nein, eigentlich nicht.” Dann erinnern sie sich an das eben Gehörte: „Da gab es den, wie hieß der, Hitler, ach so, ja, und der Stauffenberg wollte den bomben, aber das hat er nicht geschafft. – Dafür wird heute Tom Cruise erschossen!” rufen sie leicht begeistert über ihre kleine Provokation, und verschwinden im selben Augenblick.
„Ihr könnt ruhig kräftiger zupacken!” – Gesagt hat er es wohl englisch. Ein Komparse, der zu dem Trupp jener Soldaten gehört, berichtet, wie sie den standrechtlich erschossenen Stauffenberg in einer Decke wegtragen. Über zwanzig Mal wurde der Kopf der Verschwörung nach seiner Erschießung ausgetauscht, zwei‑, dreimal jedoch mußten sie auch Cruise selber in der Decke wegtragen. Nach dem ersten Mal habe er ihnen gesagt, daß sie ruhig härter anpacken könnten. „Man denkt dann eigentlich nicht, wen man wegträgt.” Aber: „Bei uns ist das alles würdevoller, da wird die Decke ausgebreitet und extra darauf geachtet, daß keine Falte ist – so war das damals sicher nicht.” Dann muß er wieder rein, einige Zeit später fallen wieder die Schüsse, nur das Vermächtnis Stauffenbergs ist nicht zu hören: „Es lebe das geheime Deutschland!” – mit diesem Ausruf hatte Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg von seinem Leben und seinem Vaterland Abschied genommen, bevor er unter den Kugeln des Exekutionskommandos zusammengebrochen war.
Gerüchte ranken sich um die Frage, ob dieser Nachdreh wirklich nötig war, oder nur ein Vorwand ist, weil damals nicht genug Zeit war. Wahrscheinlich benötige man nur neue Kameraeinstellungen. Der Mann an der Absperrung gibt seine Art von Auskunft: „Die sind so clever, die haben keinen konkreten Zeitplan.” – Neben den Statisten gibt es die Statistik im Bendlerblock, doch wen interessiert das? Von den Komparsen wird berichtet: fünf Träger, zehn Leute Erschießungskommando, vier bis fünf Leute Begleitkommando und fünfzehn Komparsen, die an der Wand stehen, „damit es nach was aussieht”. Des weiteren drei bis vier Komparsenverantwortliche, zwei Kameras, zehn Lichttechniker, zwei unbekannte Leute, „die immer da sind und ziemlich viel zu sagen haben” sowie Regisseur Bryan Singer und seine drei, vier Assistenten. – Singer läuft wenig später aus dem Hotel hinüber in den Bendlerblock. Kurzes Blitzlichtgewitter. Trotzdem wissen selbst von den Fotografen nur wenige, wer dieser jungenhafte Typ ist, den sie eben halbwegs erhascht haben.
Lieber sprechen sie derweil von „Katie” und „Tom” – es ist, als redeten sie von ihren Adoptivkindern, die sich ihrer Obhut entzogen haben. Eine Formulierung, ebenso ehrfurchtsvoll wie täuschend. Als eine dunkle Wagenkolonne aus dem Lager der Filmcrew ausbricht, hetzt ein halbes Dutzend Fotografen hinterdrein, als gälte es, die Limousine John F. Kennedys nach dem Attentat noch einzuholen. Einer von diesen mit großem Objektiv bewaffneten Sprintern kehrt mit der Erfolgsbotschaft zurück, wohl Tom Cruise erwischt zu haben. Als er auf das vordere Auto zustürmte, seien drei Security-Leute herausgesprungen: „Get away from this car!” Der Mann ärgert sich: „Ich hätte sofort mehrmals in die Frontscheibe reinschießen müssen!”
Thomas Kretschmann, der zunächst für die Rolle Stauffenbergs im Gespräch war, nun aber mit einer Nebenrolle vorliebnehmen muß, läuft an den Fotografen vorbei ohne stehenzubleiben: „Was macht ihr nur mit den Fotos?” Christian Berkel, der angeblich ein gutes Verhältnis zum Stauffenberg-Darsteller entwickelt haben soll, huscht hinterher, auf seinen Lippen einen ähnlichen Kommentar wie sein Vordermann. Gesprächiger zeigt sich Matthias Schweighöfer, der in Valkyrie den Sekretär von Generaloberst Friedrich Fromm (Tom Wilkinson) spielt, welcher als Chef des Ersatzheeres den Putsch Stauffenbergs zu sabotieren versucht hatte und später die Erschießung der Verschwörer angeordnet hatte. Schweighöfer verrät: „Wir drehen bis zum Morgengrauen. Wieso? Weil das die krasseste zu bekommende location der Welt ist.” Und Tom Cruise? „Der ist immer sehr konzentriert, sehr professionell.” Und abgeschirmt. Niemand kriegt ihn zu sehen. Nur ein Fotograf erhascht ihn nach Mitternacht, wie er zum Set, dem Bendlerblock, über den Hintereingang wechselt.
In Zeitungsberichten zum Nachdreh der Valkyrie-Produktion heißt es, der Film würde den deutschen Widerstand international bekannt machen. Immerhin. Vielleicht macht er den deutschen Widerstand sogar national bekannt. Der Komparse, der den hingerichteten Stauffenberg wegträgt, hat nämlich erst mit Beginn der Dreharbeiten von der Geschichte Stauffenbergs erfahren, und er gibt zu, daß sie ihn nicht wirklich berührt. Auch die anderen Komparsen hätten kein Interesse an dieser Geschichte, er kenne keinen, den dieses Schicksal bewege. Es sei alles schon so weit weg, und das „Dritte Reich” könne man irgendwann nicht mehr ertragen.
Ein älteres Ehepaar erscheint am Drehort. Sie hören die Schüsse. Der aus Westdeutschland angereiste Mann ist gebürtiger Berliner. Im Juli 1944 war er ein fünfzehnjähriger Junge. „Mit großer Hoffnung” habe er damals von dem Attentat gehört, die Nachricht von der Niederschlagung dann sei „furchtbar” gewesen. – Sie waren schon einmal am Nachmittag hier gewesen, weil sie in die Gedenkstätte Deutscher Widerstand wollten, die sich im Bendlerblock befindet. Ob er sich denn den Film ansehen würde, wenn er ins Kino kommt? Das wisse er jetzt noch nicht, so seine Antwort. Dann schreitet der Enkel ein. Der Großvater werde jetzt nichts mehr sagen, solange der Journalist nicht verrate, wie er gedenke, diese Information im Artikel zu verarbeiten, und wenn er nicht auf der Stelle verspräche, ein Belegexemplar zuzusenden. Schließlich würden sie hier Informationen verkaufen.
14. Oktober 2007, Sonntag – 3. Tag, „Der letzte Samurai” (Pro7), 20.15 Uhr
Tom Cruise kämpft vor 120 Jahren in Yokohama, Seite an Seite mit dem letzten Samurai. Dort sagt er Sätze wie: „Ich habe einen Vertrag mit Winchester. Für fünfhundert Piepen bringe ich jeden um, den Sie wollen. Ich kämpfe mit der Ironie meines eigenen Schicksals.” Zuletzt kniet er vor dem japanischen Kaiser, der ihn nach dem Tod des letzten Samurai ausfragt: „Wie ist er gestorben?” Die Antwort: „Ich will euch erzählen, wie er gelebt hat.”
Man möchte fragen: Was bedeutet es für Deutschland, daß Tom Cruise die Geschichte Stauffenbergs erzählt? Oder: Was bedeutet es für Stauffenberg, daß Tom Cruise ihn spielt? Oder: Was bedeutet es für Deutschland, daß demnächst ein Hollywood-Film einen Fixstern deutscher Nachkriegsidentität besetzt haben wird? Niemand kann es sagen.