Die Tage sind schon merklich kürzer, sensiblen Nasen entgeht hier und da der Geruch nach Verwesung nicht. Ein paar Sommerstürme haben die ersten, frühen Apfelbäume leergerüttelt, die großen Kinder, die sonst tüchtig aufsammeln müssen, sind größtenteils in Ferien und Praktika, die kleineren stopfen sich Zeug in den Mund, das schon braune Stellen hat.
Die Schnecken, die sich dieses Jahr bislang erfreulich zurückgehalten haben, ergötzen sich am Fallobst, und in der Dämmerung wandern Hausherr und Hausherrin gebückt durch den Garten und sammeln das Getier ein: Gestern waren es 87 Kriecher, die sogleich per Spaten zusammen mit Ackersenf und ein paar Handvoll Weizen zu einem saftigen Brei verrührt und unserem Geflügel als Nachtmahl kredenzt wurden. Heidenfreude bei den Türkenenten! Bei der Köstlichkeit handelt es sich um die Spanische Wegschnecke, einen Invasor aus dem Süden, der sich erst seit 34 Jahren hierzulande breitmacht.(Damit sind die 68er definitiv an allem Unbill schuld!)
Irrationalerweise verfahren wir mit den (wenigen) Weinbergschnecken weniger resolut. Wir lassen sie laufen. (Husch, husch, sind sie weg!) Kubitschek wollte mich neulich mit einer Caracóis aus eigener Sammlung verwöhnen. Doch nachdem er die Leckerbissen zwei Tage in einem Karton aushungern und sich entleeren hat lassen, hatten sich die Tiere bereits heftig vermehrt, und er hat es nicht übers Herz gebracht, all die Schneckeneier verwaist ihrem Schicksal zu überlassen. Es gab statt dessen Kartoffeln, Rote Beete und eine aus eigenem Garten gemästete Ente.
Schnecken und auch Schnaken halten sich in den üblichen Grenzen, ärger ist es mit den Mäusen. Alle paar Jahre werden sie zur Plage. Das Angebot übersteigt die Nachfrage auch des Katzennachwuchses. Die Bürgersteige im Dorf sind geradezu gepflastert von Mäuseleichen, wir schlafen unruhig wegen des Geraschels. Unser Hund hat anscheinend größeren, jedenfalls ganzheitlicheren Gefallen als die Katzen an den Viechern; halten wir die Leine nicht kurz genug oder darf er durch den Garten toben, sammelt er die kleinen Leichen gierig auf. Es knackt nicht mal, sie werden im Ganzen verschluckt.
Heute kam es zu gleich zwei ziemlich unterschiedlichen Vorfällen, die mich – eher hartgesotten in solchen Dingen – doch an die Ekelgrenze brachten:
Früh spazierte ich barfuß durch den Garten, als ich unter meinem Fuß Knochen brechen spürte. Das schlimmere Gefühl jedoch war das der Därme, die hochschnalzten und sich um mein Fußgelenk ringelten. Wenn je meine Enkelkinder Bedarf an einer wahren Schauergeschichte hätten: Bitte, hier wär sie.
Nachmittags war ich mit einer der noch zu Hause weilenden Töchter in der Stadt. Wir sehen eigentlich aus wie Mutter und Tochter. An der Hand führe ich die 14jährige schon seit vielen Jahren nicht, und der Arm-in-Arm-Typ bin ich nicht. Aber bitte: man kann das offenbar verwechseln. Der Klaus mit der großen Tasche an der Schulter jedenfalls hatte einen Verdacht und sprach uns an: Er sei der Klaus und glaube, er habe da was für uns, das uns interessieren könnte.
Ob er uns was auf den Weg geben dürfte aus dem großen, (staatlich reich geförderten) Beutel der AIDS-Hilfe? Durfte er. Meine Angewohnheit seit Jugendtagen, Typen, die mir öffentlich blöd kommen, herrisch anzugehen, habe ich mir vor Jahren abgewöhnt, weil ich meine Töchter nicht in Situationen bringen wollte, die ihnen vielleicht peinlich sind.
Was hätte es auch genutzt, wenn ich den Klaus mit seiner sicher ehrlich gemeinten Sorge vor sexuell übertragbaren Krankheiten mit „kritischen Fragen“ oder Hohnworten mit Bezug auf die aktuelle Verkehrs-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung konfrontiert hätte? Dabei waren die Plakate bei uns am Küchentisch und auf Autofahrten schon öfter Thema. Wenn mein siebenjähriger Sohn fragt, was die alte Frau da meint, wenn sie sagt „Ich will´s lustvoll“ oder der „Boxer“ (Etikettierung des Sohnes), wenn er verkündet er wolle „es zärtlich“ – was soll man da sagen? Was genau will „der Ausländer“ (laut Sohn) „endlich“, was meint der Lederarmbandtyp mit “andersrum”, und warum hängen sie deshalb bei uns Plakate auf? Auf solche Kinderfragen folgen stets ausufernde Gespräche, bei denen man sich schön in Rage reden kann.
Der Klaus weiß davon bis heute nichts. Er durfte uns zwei lila Lutscher (hach!), und eine Aufklärungsbroschüre überreichen. Titel: Frauenlust, beinhaltend Infos für Frauen, die Sex mit Frauen haben. Daß Klaus mich und meine Tochter als Zielgruppe ins Visier nahm, darf ich ihm wohl nicht verübeln. Wo uns Illustrierte 60jährige Männer mit ihren 20jährigen Liebchen auf dem roten Teppich präsentieren, wird der tolerante Klaus mit seinem nach allen Seiten offenen Ahnungswissen wohl auch sexuelle Beziehungen zwischen weiblichen Teenagern und 23 Jahre älteren Frauen für okay halten.
Das übergebene Heft ist reich bebildert mit Photos von allem was denkbar ist: Popos, die miteinander schmusen, eine sich dahinstreckende Frau, die von gleich zwei Mündern verwöhnt wird, zwei lachende Nackte mit lila Schminke, lila Haarsträhnen und einem pinken Dildo, hygienisch behandschuhte Hände an Genitalien, Mundlippen an anderen Lippen, Frauenmund an Frauenpo undsoweiter. Weil Frauen, die Sex mit Frauen haben, oft nicht „regelmäßig zur Frauenärztin“ gehen, soll hier mal aufgeklärt werden. Denn „wer unser Begehren weckt, hat früher vielleicht Drogen gespritzt, ist Trans* oder jobbt zur Zeit als Sexarbeiterin“. Dann drohe im Verkehrsfall gesundheitliches Ungemach.
Treue schützt? Schmunzel! „Wer kann schon immer treu sein? Manche wollen das auch gar nicht.“ Was man als lesbische Frau so wollen kann (von „Fingerfick“ über „spielerisches Ritzen und Durchstechen der Haut“, „Schlagen und Peitschen“ bis „Spielen mit Kot und Urin“) und wie es ungefährlich bleibt, kann man in der Broschüre detailliert nachlesen. Hingewiesen wird daneben auch auf gesundheitlich sichere Inseminationsmöglichkeiten bei lesbischem Kinderwunsch.
Mein nach dem morgendlichen Mauserlebnis derart wieder aufgefrischter Ekel gilt nicht dem Lesbensex speziell. Ich bin mir sicher, daß die Aidshilfe eine adäquate Anleitung zum hygienisch korrekten Kotvergnügen und Faustspiel auch für Heteropaare parat hält. Ich hab das Heft durchgeschmökert in der Bahn auf der Rückfahrt, die Tochter hat ihr Exemplar im Mülleimer versenkt und Aus dem Leben eines Taugenichts aus ihrer Handtasche gepackt.
Das wiederum paßt wunderbar zum diesjährigen Motto der Aidshilfe: Your freedom of choice. Zersetzungsprodukte werden allgemein als ekelhaft empfunden, so beschrieb es Aurel Kolnai in seiner Phänomenologie der feindlichen Gefühle treffend.
Heut war so ein gefühlsfeindlicher Tag.