keine sommerliche Kraft mehr. Man verläßt kurz den Schreibtisch, steckt sich ein Zigarillo an, dreht im Garten eine Runde und weiß: Es ist Zeit. Man streut Körner und beobachtet die Hühner: Wer abseits stehen bleibt und zunächst die anderen picken läßt, ist klüger, weniger leicht in der Schar zu bändigen. Pulk oder Einzelgänger: Wen soll man schlachten?
Las vor einigen Tagen im Fluß ohne Ufer von Hans Henny Jahnn – im ersten Teil, dem Holzschiff – einige Sätze, die mir nicht mehr aus dem Sinn gehen. Sie stehen am Anfang des III. Kapitels und lösen die ersten, beklemmenden Gespräche der vorhergegangenen Seiten auf, die sich um die Bauweise, die seltsamen Mechanismen und die blinden Passagiere des Schiffes drehen. Die Sätze lauten:
Die Wahrnehmungen der Sinne waren in Einklang gebracht mit den Übereinkünften. Die allgemeinen und augenfälligen Gesetze waren an keinem Punkt umgebogen worden. Und das Prinzip der Nützlichkeit war inmitten eines bedeutenden Aufwands zur Herrlichkeit geführt. Der Spleen eines einzelnen war widerlegt.
Vier Sätze, vier verschiedene Stufen der Warnung vor einer abweichenden Perspektive und der Bändigung eines Abweichlers:
1. Satz: Im Goethe-Gedächtniston wird die heitere Wiederherstellung des rechten Maßes beschrieben;
2. Satz: Im Angela-Merkel-Gedächtniston steigt das Wahrnehmbare in den Bereich des Alternativlosen auf;
3. Satz: Im Adalbert-Stifter-Gedächtniston wird das Gedeihliche geradezu parodistisch überbetont;
4. Satz: Ohne Anleihe rückt das Wort “Spleen” den Abweichler in die Nähe des Knalls.
Insgesamt klingt das nach brüchigem Eis, wackliger Konstruktion, fragiler Statik. Mir begegnete im Vortrag Erik Lehnerts auf der vor wenigen Tagen in Schnellroda absolvierten Sommerakademie die Gestalt, auf die solche Sätze aus der Mitte heraus gemünzt sind: der “Seitensteher”. Lehnert beschrieb damit den Typ Denker, der sich nicht mit dem herrschenden Deutungsparadigma abfinden oder dessen Ton aufgreifen und bedienen möchte. Er kratzt vielmehr am Paradigma, bereitet einen Deutungswechsel vor, widerspricht im Kern und varriiert seinen Ton, um Gehör zu finden. Oder, um Jahnns 1., entscheidenden Satz aufzugreifen: Der Seitensteher bekommt die Wahrnehmung seiner Sinne nicht mehr in Einklang mit den Übereinkünften.
Die Frage ist: Welcher Seitensteher ist der “Typ von morgen”, welcher ein Spinner? Wann bereitet der Seitensteher einen Paradigmenwechsel vor, wann treibt er eine Sackgasse ins Niemandsland? Und: Setzt er sich zwangsläufig durch, weil er recht hat, oder gibt die Geschichte nur im Nachhinein denen recht, die beharrlich und hart genug waren, sich durchzusetzen?
Noch ist nicht Zeit für das Beilchen. Noch legen Schar-Huhn und Seitensteher zu. Noch picken sie beide.
Saxnot
Und das Schweigen im Volk, ist es die Feier schon
Vor dem Feste? die Furcht, welche den Gott ansagt?