Nun wagt sich eine ans entschiedene Abkanzeln, die seit Jahrzehnten CDU-Mitglied ist und definitiv das Zeug hat, Tacheles zu reden: Gertrud Höhler, erfahrene wie eloquente Politik- und Wirtschaftsberaterin.
Die 71jährige Literaturprofessorin hat Dutzende Bücher – gerade zu Führungsfragen – geschrieben (Sezession 29/2009), sie besticht durch klaren Blick und scharfe Zunge. Nun nimmt sie mit der Kanzlerin eine »Geister-« und »Testfahrerin« im »kreidegrauen Tarnanzug« unter die Lupe, die »unter Verzicht auf Bekenntnisse«, befreit vom »bleischweren Marschgepäck einer Traditionspartei« immer »neue Produkte im Großlabor Deutschland« unter die Leute zu bringen sucht.
Daß Merkel bindungslos agiert, in jeder Hinsicht sich indifferent äußert, durch moralisches Desinteresse und »Antipathos« auffällt, gereiche ihr zum Vorteil. No commitment – keine Bindung, keine Verpflichtung: auf diese Erfolgsformel bringt die gewohnt anglophile Autorin das Karrieremanagement der Durchregierenden. Anders als die Männer in ihrem Umfeld und die der zweiten Riege kannte Merkel nie Anhänglichkeiten und Loyalitäten. Das könnte daran liegen, daß sie als Frau männerbündlerischen Netzwerken im Sinne eines do ut des, dem »Zwiespalt zwischen Dankbarkeit und Feigheit« fernsteht, vor allem aber – nach Höhler –, daß sie eine »Systemfremde« ist, die wesentliche Qualitäten aus »Ander-«, also Ossiland mitgebracht hat.
Höhler untersucht Merkels »wasserdichte Sprachbausteine«, ihr defizitäres, gleichsam fluchtartiges Sprechverhalten, ihr hölzernes Verständnis in alle Richtungen bei gleichzeitiger Unerbittlichkeit in der Marschroute. Die ist bei aller Verschwiemelung klar: Merkels Partei hat alle Themen mit klassisch rot-grünem Profil okkupiert und die Grenzen zwischen konservativ und sozialistisch verschwimmen lassen. Sei es die Schulreform, die Familienpolitik, die Mindestlohndebatte, die »Aussetzung« des Wehrdienstes, die Gesundheitsreform oder die sogenannte Energiewende: Unter Merkel hat sich das Profil der CDU vollends aufgelöst. Ihr »werteloses Erfolgskonzept« hat sie dabei nie offensiv vorgetragen, sie trug es wie nebenbei mit sich. Insofern sei ihr Regierungshandeln als geräuschlos vonstatten gehendes Umbauprogramm zu werten.
Ja, Gertrud Höhler trifft ins Schwarze. Nur: All das ist nichts Neues. Merkels undercover-Aufstieg von »Kohls Mädchen« zur machtbewußten Alphafrau, ihre Visionslosigkeit, ihren Linkskurs, ihre Härte gegen mögliche Kurskorrekteure – das alles haben längst andere nachgezeichnet und analysiert. Höhler liefert keinerlei neue Munition, sie erwähnt nicht Cora Stephans Philippika (Angela Merkel. Ein Irrtum) aus dem vergangenen Jahr (Sezession 41/2011), von Hinrich Rohbohms Spurensuche Das System Merkel ganz zu schweigen. Und wer hätte sich prägnanter zu Merkels Irrwegen geäußert als Thorsten Hinz in seinen zahlreichen Junge Freiheit-Artikeln? Höhler hingegen absolviert schier endlose Wiederholungsschleifen (Merkels Einknicken »nach Fukushima«, die Affäre Guttenberg), sie vollzieht partei-interne Manöver langatmig unter Verweis auf diverse Zeitungs- und Netzkommentare nach. Zu Merkels Untaten zählt sie auch die deutsche Verweigerung des UN-Mandats gegen Libyen. Als Kronzeugen im Expertenrang gegen Merkel läßt sie sich vom Spekulanten ‑George Soros und dem Links-ausleger Jakob Augstein sekundieren. An letzterem stellt sie dessen Kritik an Merkels Sparsamkeit heraus. Konsum und Wachstum seien die Generalmotoren der Zukunft!
Der Registeranhang gibt die Sprachbilder der Autorin wieder, wir finden hier als eitle Lemmata sowohl »Faust in der Tasche« als auch »Faust aus der Tasche«. Vielsagender sind die Namen derjeniger, die in Buch und Personenregister überhaupt nicht auftauchen. Man denke an Martin Hohmann, an Thilo Sarrazin, nicht zuletzt an den Papst. Das waren Fälle, wo die Kanzlerin nicht nur Weichen gestellt, sondern gleich ganze Bahnhöfe aus dem Streckenplan genommen hat! Von all dem: kein Wort, statt dessen langwieriges Rekapitulieren von Kaltstellungs- und Beförderungsvorgängen, die letztlich nur – um im Bild zu bleiben – Bahnwärter und Schaffner betrafen. Höhler klagt Merkels »Planwirtschaft der Werte« an, ein Höhlerscher Plan B (vielleicht mit Friedrich Merz oder Wolfgang Bosbach als Thronfolger?) wird nicht präsentiert. Eine dezidierte Ostdeutschland-Schelte, für die das Buch nun angegriffen wurde, findet sich nicht. Höhler legt nahe, daß Merkel von Eigenschaften profitiert habe, die sich DDR-Bürger als Überlebensstrategie zugelegt hatten. Ohne offenes Visier, in beobachtender Deckung kam man unbeschadet davon.
Und wie ist es mit den Westbürgern und Parteikollegen, die bis heute Merkel ihr Vertrauen aussprechen? Höhler schreibt: »Das ›Vorbild‹ einer Kanzlerin, die Wertbewußtsein situativ knackt, ermutigt ihre Umgebung und schließlich die Bürger, der Chefin nachzueifern.« Heißt: ein politisches System kann wie eine ansteckende Krankheit wirken. Daß das System Merkel heißt, sagt die Autorin. Andere nennen es Demokratie.
Gertrud Höhler: Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut, Zürich: Orell Füssli 2012. 295 S., 21.95 €