Damit ist der Verfassungsputsch abgeschlossen. Die Bundesregierung muß sich nicht einmal mit unangenehmen Protesten herumschlagen, denn die Bürger haben sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts schnell abgefunden. Alles ist also in bester Ordnung.
Die heute geläufigste Legitimitätsform ist eben noch immer der Legalitätsglaube (Max Weber). Obwohl die Deutschen mehrheitlich gehofft hatten, das Bundesverfassungsgericht möge den ESM stoppen, gaben sie sich sofort mit dem „Ja, aber …“-Urteil zufrieden.
Selbst die hartnäckigsten Oppositionellen gaben schnell auf. Es dauerte nur wenige Tage, da hatten sie mit dem Mohammed-Video ihren nächsten großen Aufreger gefunden. Dem Gesamtsystem spielt diese Zersplitterung der oppositionellen Kräfte natürlich in die Karten.
Souverän ist folglich, wer mediale Ausnahmezustände auslösen und steuern kann und wem es gelingt, im normalen Tagesgeschäft politische Entscheidungen und Debatten zu verhindern. (Thesen zur Skandalokratie)
Diese Steuerung der Skandalokratie fällt so leicht, weil Macht heute dermaßen flüssig ist, daß Oppositionelle überhaupt nicht mehr wissen, wer der eine große Feind überhaupt ist. Hat man einmal mühsam die EU-Bürokraten ins Visier genommen und es noch dazu geschafft, Teile der schweigenden Mehrheit zu mobilisieren (so daß sie wenigstens einmal an der richtigen Stelle unterschreiben), erscheint es plötzlich als sinnvoll, den Erfolg an einem anderen Frontabschnitt zu suchen.
Ist der Islam nicht der wirkliche Feind? Und noch dazu: Kann man das nicht dem einfachen Bürger einfacher beibringen, weil er viel zu oft direkt betroffen vom aggressiven Auftreten vieler Moslems ist? Das Spiel geht aber weiter: Will man nun zur Wurzel der weltweiten Entortung vordringen, spricht viel dafür, den globalen Kapitalismus als Hauptursache unserer heutigen Misere zu benennen.
Was die grobe Lageanalyse angeht, werden wir bei den Themen Überfremdung, Globalisierung, EU-isierung, Kapitalismus- und Finanzkrise sehr schnell auf einen gemeinsamen Nenner mit jenen kommen, die das politische Geschehen kritisch beobachten. Das Seltsame ist nur, wie folgenlos diese langanhaltende Einigkeit ist.
Zur Fehlentwicklung der Europäischen Union und der Aufgabe nationaler Souveränität hat z.B. Ernst Wolfgang Böckenförde 1998 in einem Vortrag eigentlich alles Wichtige auf den Punkt gebracht:
Der nationale Staat hat, und dies ist inzwischen eingetreten, keine Souveränität mehr über Währung, Kapitalbewilligung, Unternehmensstandorte oder überhaupt über die Volkswirtschaften. Hält dies an (…) werden sich bei den Bürgern Ohnmachtserfahrungen breitmachen, und ihr Staatsbild, Grundlage ihrer Einordungs- und Mitwirkungsbereitschaft, gerät ins Wanken. Die Erwartung an den Staat, daß er als Garant des öffentlichen Friedens in der Lage ist, die Probleme, die für das Zusammenleben der Menschen in seinem Bereich relevant werden, aufzugreifen und im Blick auf das Gemeinwohl verbindlich zu entscheiden – weshalb man ihm auch Loyalität und Steuern schuldet –, wird enttäuscht. Es ist aber auch keine andere politische Entscheidungseinheit auf der internationalen Ebene in Sicht, die dies beanspruchen und leisten kann – die globalisierte Welt zerläuft sich in je partielle Regelungs- und Netzwerken, und diejenigen, die hier Macht innehaben und ausüben – Macht, insbesondere ökonomische Macht, verwindet ja nicht –, sind nicht faßbar. Die Grundbeziehung von Schutz und Gehorsam, auf der sich Staatsloyalität und auch Patriotismus aufgebaut haben, droht außer Funktion zu geraten. Um es in Hobbes´schen Metaphern zu sagen: Der Leviathan, die minimum condition für äußeren Frieden, Sicherheit und Ermöglichung von Freiheit, fällt in sich zusammen, ohne aber einen neuen Leviathan auf einer anderen Ebene zu konstruieren. (zit. nach: Die Zukunft politischer Autonomie. Demokratie und Staatlichkeit im Zeichen von Globalisierung, Europäisierung und Individualisierung. In: Staat. Nation. Europa. Frankfurt 1999. S. 103–126)
Mit diesem Unsichtbarwerden des Leviathans und dem Zerfall des Staates haben wir in erster Linie zu kämpfen. Wenn Böckenförde schon 1998 und zu recht so desillusioniert über die nationale Souveränität spricht, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wann denn eigentlich der Verfassungsputsch tatsächlich stattgefunden hat. Erst im Jahr 2012, oder schon viel früher?
Genau zu datieren ist er wohl nicht, weil wir seit Jahren im permanenten Ausnahmezustand leben. Im permanenten Ausnahmezustand gilt nicht mehr die „Herrschaft des Gesetzes“, sondern die „Herrschaft der Gesetzeslücken“. Diese Lücken eröffnen Wirtschaft und Politik Möglichkeiten, ihre Machtinteressen in einem rechtsfreien Raum auf globaler oder supranationaler Ebene durchzusetzen.
Erst, wenn wir ein Rezept finden, wie wir in diesem permanenten Ausnahmezustand ohne sichtbaren Leviathan bestehen können, kann Opposition, Revolte oder offener Widerstand erfolgreich sein.
Hier geht es zum Buch ESM-Verfassungsputsch in Europa von Friedrich Romig.
cromagnon
Es könnte sich auch um die langsam einsetzende Wirkung des Internet handeln. Auch der Buchdruck hat große Verwerfungen in den Herrschaftsstrukturen hervorgerufen. Das Internet hebt die Macht über die Information auf eine ganz neue Stufe, bzw. entzieht sie dem Staat.
Ich denke es ist kein Zufall, daß auch libertäre Ideen gerade zu dieser Zeit immer mehr Zuhörer finden. Solche Gedanken findet man inzwischen sogar im FAZ-Leserforum. Und ist das nicht auch folgerichtig?
Egal wo man hinschaut, alle Fehlentwicklungen haben ein gemeinsames, nämlich den Missbrauch staatlicher Macht für private Interessen durch Lobbygruppen. Seien es Überfremdung, Islamisierung, Eurorettung, Globalisierung immer stehen die Interessen starker Lobbygruppen dahinter und deren Einfluß auf die Staaten.
Ist dann die staaliche Macht über mein Leben nicht mein eigentlicher Feind? Das alles könnte mir doch egal sein, wenn diese Gruppen nicht mittels staatlicher Repression in mein eigenes Leben eingreifen könnten.
Gäbe es Überfremdung, wenn der Staat nicht von mir das Geld für deren Finanzierung abpressen könnte, oder wenn jeder Bürger das Recht und die Möglichkeit hätte, in seinem eigenen Lebensumfeld sein Eigentum und sein Recht auch mit der Waffe selber zu verteidigen? Das funktioniert doch nur, weil der Staat die Gegenwehr mit Gewalt unterdrückt.