Der kunstvolle Schmied hatte es über seinem Ehebett angebracht, von wo aus es sich unsichtbar über die ihm angetraute Aphrodite warf, als sie ihren so häßlichen wie handwerklich geschickten Gemahl mit dem starken und sehr männlichen Ares betrog.
Hephaistos zerrte die beiden in flagranti Ertappten ans Licht, rief sich beklagend die Götter herbei, aber die brachen zu seiner Enttäuschung nur in homerisches Gelächter aus. Nichts Menschliches war ihnen fremd. Er, der doch aus Enttäuschung heraus bewußt desavouieren wollte, stand selbst blamiert und beschämt vor ihnen.
Anders heute. Seit den Neunzigern sind wir in dieses unsichtbare Netz hineingesponnen. Selbst kaum zu fassen, kann es jeden – ob zu dessen Ruhm oder Beschämung – sichtbar machen. Google, dieses im Wortsinn globale Unternehmen, ist die Riesenspinne, die auf abstrakte Weise nicht nur jeden Faden des alles umspannenden Netzes kennt, sondern ebenso all die Menschen und Objekte, die darin zappeln, reduziert auf Zahlenkolonnen aus Einsen und Nullen. Dabei braucht die Suchmaschine gar nichts schöpfen oder herzustellen; sie verwertet nur, was durch andere beigetragen wird und verdient daran immens. Alles und jedes wird gesehen, gewußt, hergezeigt. Wer vermochte das je? Gott vielleicht, aber er stellte niemanden bloß. Mit dem Netz hingegen ist der Turm zu Babel neu errichtet worden. Von seiner Warte aus kann noch der unbedarfteste Zwerg die Welt überblicken. Der ehemalige Google-Chef Eric Schmitt legitimierte das mit der pseudoethischen Botschaft: “Wenn Sie nicht wollen, daß bekannt wird, was Sie tun – dann tun Sie es doch nicht.” So einfach?
Gegen die Möglichkeiten der tiefen Google-Einblicke wird prozessiert, nicht etwa, um anderer Menschen Würde zu schützen, sondern aus eigener Scham. Motorsport-Boss Max Mosley will Sexbilder verhindern, Bettina Wulff sieht ebenso wie andere Prominente zu ihrem Namen die falschen Bezüge eingeblendet, und überhaupt folgt der Netzspäher Algorithmen, die wohl informationsmathematisch beschreibbar, aber nicht exekutiv oder judikativ beherrschbar wären. Eine kafkaeske Maschine. Geeignet für die World-wide-web-Strafkolonie, für globale Kommandos, große Säuberungen und Selektionen. Und wie bei jedem Aggregat von hohem Wirkungsgrad sind Fluch und Segen kaum zu trennen. Der Einsatz ist gering, die Gefahr immens. Der Profinutzer meint zwar, er spinne seinen eigenen Faden, bleibt aber nicht unbedingt Herr über ihn. Andere zerren mit. Wer sich ins Netz begibt, ist heute der Held, kann aber morgen schon splitterfasernackt und wehrlos über den Marktplatz gezogen werden, während die Meute wie stets johlt und nach noch größeren Peinlichkeiten auf Kosten des Opfers lechzt. Der Selbstdarsteller braucht Google, um gesehen zu werden, denn was die Maschine nicht darstellt, das gibt es in den Vorstellungen der Medien und ihrer “User” nicht. Einmal erkannt, kommt man jedoch nicht mehr aus dem Scheinwerfer heraus, sondern bleibt fixiert im Rampenlicht stehen, und zwar nicht nur mit seinen Leistungen, sondern ebenso mit allem anderen, was so Schatten wirft.
Apropos Marktplatz. Vielleicht ließe sich das Netz anders angeschaut sogar positiv als eine Agora begreifen, also als der zentrale Ort der griechischen Polis, die Bühne ihrer permanenten Volks- und Gerichtsversammlungen. Fehlte diese Agora, so Homer, wäre das ein ernstes Zeichen der Recht- und Gesetzlosigkeit, denn dort erfindet sich die Gemeinschaft und revidiert sich ständig aufs neue. Hier schlägt der Puls der Politik als öffentlicher Angelegenheit, als res publica. Genau das richtige Terrain für Sokrates, der inmitten dieser Lebendigkeit von Handel und Wandel seine Gesprächspartner stellte und sie meäutisch wenigstens auf den Weg zum Wahren, Guten und Schönen bringen wollte. Passenderweise aber war die Säulenhalle, die Stoa Basileios an der Nordwestecke der Agora, später der Ort des Prozesses gegen den Philosophen. Er war, typisch Denker, absolut machtlos und ergab sich bekanntlich seinem Schicksal.
So wie auf der Agora finden sich im Netz ernste Denker und perfide Ganoven nicht weit voneinander entfernt versammelt, wilde geile Kerle und eine Menge von ihnen angemachter Mädchen, Voyeure und Exhibitionisten, redliche Handwerker und clevere Abzocker, Verkäufer und Käufer, Aufklärer und Dunkelmänner. Jeder Marktplatz der Welt kannte Prediger und Beutelschneider, Verkaufstände mit Qualitäten und Quacksalbereien, Schlachtbänke und Kruzifixe. Ein Schauplatz der großen menschlichen Komödie mit Glücksrittern und Enttäuschten, Abenteuern und Opfern, Hoffnungen und Katastrophen.
Allerdings gibt es fatale Unterschiede: Die Agora ist ein fest institutionalisierter Ort. Man muß hingehen und kann wieder heimkehren. Man wohnt dort ja nicht. Das Netz aber ist überall. Ich leb’ online, verkündete eine Provider-Werbung. Das Netz hält einen fest, man entkommt ihm nicht. Google, der immer wache Riese, registriert alles und wird zunächst zwar nicht zum Superpolizisten, aber zum Superzeugen, den jeder fragen darf, was geschah. – Ferner: Auf den öffentlichen Plätzen war der Handelnde stets in persona präsent, ein Sokrates ebenso wie sinistre Herren mit Kapuze. Das Netz jedoch ist eine Veranstaltung, die zu großen Teilen im Dunkeln stattfindet, ein Mummenschanz der mit Pseudonymen und Nicknames Maskierten, ein großer venezianischer Maskenball.
Von der offenen Gesellschaft unterscheidet sich das vielleicht nicht unmittelbar, denn das Netz scheint auf geradezu totalitäre Weise demokratisch. Es erlaubt beinahe alles. Kinderpornographie und Hakenkreuz werden wohl verfolgt, dürften sich aber nirgendwo sonst so gehäuft finden, wenn man nur die dreckigen Winkel dafür kennt. Auf diesem Tummelplatz geschieht alles in horizontaler Basisbreite; eine vertikale Hierarchie findet sich nicht, schon gar keine des vermittelnden Rechts. Jeder digital Handelnde folgt der Illusion seiner Erfahrungen aus der analogen Welt und meint also, er wäre am Computer seines Arbeitszimmers nicht zu sehen. In solcher Abgeschlossenheit konnte einst jeder geschützt ehrbaren wie perversen Neigungen nachgehen. Allerlei juristische Widerstände waren zu überwinden, bis Vollzugsbeamte ins Private hineinfahnden durften. Im Netz jedoch kann jeder fahnden. Er muß dazu nicht Vollzugsbeamter sein wie im vorvernetzten Staat, sondern einfach nur technisch versiert.
Einst blieb die Öffentlichkeit lange außen vor, wenn es um die vermeintlich eigenen Angelegenheiten ging. Im Netz jedoch umgekehrt: Hier gehört alles Vermeldete, so schon die Eingangsbedingung, sofort allen: Habeas corpus! Peter Schlemihl müßte nicht nur seinen Schatten, sondern gleich sich selbst in Gänze feilbieten, bevor die große Reise beginnt. Ein Phänomen sondergleichen, daß die Menschen etwa auf Facebook von sich aus preiszugeben bereit sind, was aus früheren Generationen erst herausgeschnüffelt, ja gar herausgefoltert wurde. Nur der Whistle-Blower, der Stalker, der Denunziant und die Heckenschützen bleiben verborgen und können sich hinterm verspiegelten Sicherheitsglas der Anonymität an den Effekten der von ihnen gestreuten Meldungen ergötzen. Sogar mit dem Komfort, daß die Schmähungen, die nachts an die Häuserwände geschmiert wurden, weder morgens noch sonst irgendwann jemand löscht. Nicht mal die nachts Umgelegten werden weggeräumt. Sie setzen ihr Dasein als Untote gespenstisch weiter fort. Früher gab es Karteileichen, die irgendwann verbrannten, aber ein Zahlenwurm, einmal in den Servern kursierend , hat gleichzeitig die ewige Jugend und das ewige Leben gewonnen – wohl oder übel. Ganze Heerscharen von solchen Dorian Grays sind bereits unterwegs.
Im Netz ist eine Menge zu sehen, aber niemand blickt einem in die Augen. Keiner muß den Kopf hinhalten für das, was er auslöst. Man gibt etwas kund und ist schon fort, ja war eigentlich nie selbst anwesend, ein Avatar, ein Alias, unter der Tarnkappe Virtualität kaum mehr auszumachen im Geflirr und Gewimmel. Eine so weitgehende Abkopplung vom Verursacherprinzip und damit von Verantwortung gibt es sonst nirgendwo. Friedrich Wolf meinte marxistisch: Kunst ist Waffe! Hätte er nur das Netz gekannt …