Kein Zweifel, hier will der FAS-Autor der Untergrabung seines Verständnisses einer wehrhaften Demokratie begegnen, die sich in ihren Grundfesten erschüttert sieht durch eine systematische Nutzung des virtuellen Raums der Internet-Kommunikation seitens skrupelloser Partisanen der Islam-Kritik – wobei deren völlig legale und grundgesetzlich geschützte Wahrnehmung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in den Ruch kriminellen Verhaltens gebracht werden soll: der Diskutant als Graffiti-Schmierer.
„Es ist leicht, die Tragweite dieses kurzen Glaubensbekenntnisses zu unterschätzen”, warnt Niggemeier angesichts eines islam-kritischen und der populistischen Rechten zugerechneten Internet-Organs, das sich einer Erfolgsbilanz von 10.000 und 20.000 Besuchen am Tag rühmt. Mit dieser Bilanz sei Politically Incorrect (PI), das Projekt des Diplom-Sportlehrers Stefan Herre, „eines der erfolgreichsten Weblogs in Deutschland”. Ein Weblog, kurz: „Blog” ist ein Internet-Tagebuch, das als Informations- und Diskussionsplattform kontinuierlich erweitert wird.
Niggemeier diagnostiziert einen durch PI (und vergleichbare Blogs) vermittelten, „oft erschütternd schlichte[n] Haß auf die Muslime und ihre vermeintlichen und tatsächlichen Unterstützer”. Man unterscheide „nur zwischen Muslimen, die heute schon extremistisch sind, und solchen, die sich moderat geben, um ihre wahren, extremistischen Ziele zu verbergen und besser durchsetzen zu können”.
Daß die Abneigung oder der Haß auf „die Muslime” – die vielgeschmähte „Islamophobie”- im öffentlichen Leben Deutschlands irgendeine Chance auf Wirkungsmächtigkeit haben könnte, läßt sich freilich kaum ernsthaft behaupten: Auch Stefan Niggemeier weiß von keinem Fall, daß ein baden-württembergischer Ministerpräsident den Auftritt eines Muslims in der ZDF-Sendung Wetten, daß . .? zu verhindern sucht, weil dem Publikum nicht zugemutet werden könne, mit einem Repräsentanten der herrschaftlichen Religion des Islam konfrontiert zu werden. Solche Anfeindungen von der Seite Ministerpräsident Oettingers erfuhr jedoch tatsächlich im Frühjahr 2007 der Scientologe John Travolta.
Kurz: Der Tatsache, daß es Menschen gibt, die – auch in deutscher Sprache – in eigens dafür eingerichteten Internet-Organen fortlaufend ihre Ressentiments artikulieren und die Leser solcher Äußerungen in die Zehntausende gehen können, kann, für sich betrachtet, wenig Sensationswert beigemessen werden. Worum also geht es Niggemeier wirklich, wenn er auf eine Erscheinung wie PI eindrischt?
Der „Haß”, der im publizistischen Umfeld von PI Ausdruck finde, habe – so Niggemeier – „so etwas wie einen intellektuellen Überbau”: „Es ist das, was Henryk M. Broder die ‚Untugend der Toleranz‘ genannt hat: ‚Wer heute die Werte der Aufklärung verteidigen will‘, sagte er in seiner Dankesrede zum Ludwig-Börne-Preis, ‚der muß intolerant sein, der muß Grenzen ziehen und darauf bestehen, daß sie nicht überschritten werden.‘ Er sagte es vor allem unter Bezug auf religiöse Fanatiker und die Gefahr, sogenannte ‚Ehrenmorde‘ mit dem ‚kulturellen Hintergrund‘ der Täter zu verklären.”
Nun weist gerade die Polemik Henryk M. Broders (Hurra, wir kapitulieren!, Berlin 2006) gegen die Bereitschaft der europäischen Mehrheitsgesellschaften zur „Kapitulation” vor Herrschaftsansprüchen fanatischer Muslime kein Gran an Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit auf. Broders im Kern politische Argumentation läßt keinen Raum für eine (wie immer geartete) kulturidentitäre Begründung einer Abweisung muslimischer Einwanderer als inkompatible „Eindringlinge”. Die Einforderung der Werte der Aufklärung gegenüber Muslimen als einen intellektuellen Überbau für schlichten Haß zu verstehen, ist offenkundiger Unsinn.
Was lehrt uns der Fall? Der „Aufstand der Anständigen” (Gerhard Schröder) wird hier vorsorglich auf den virtuellen Raum der Internet-Diskussionen ausgedehnt, insofern nicht mehr nur martialische Aufmärsche der extremen Rechten auf deutschen Straßen, sondern jedes islamkritische Internetvotum als Rechtfertigung für den Ausbau des Tugendwächterstaates herhalten kann. Im Visier der Kämpfer gegen „Islamophobie” (die sich selbst meist als links, liberal oder auch libertär verorten) stehen die islampolitischen Veröffentlichungen prominenter Autoren wie Broder oder Udo Ulfkotte – und darüber hinaus das gesamte Spektrum der menschenrechtlich orientierten Linken oder Ex-Linken, die – wie Necla Kelek, Seyran Ates, Serap Cileli, Ayaan Hirsi Ali oder Ralph Giordano – im politischen Islam den Hauptfeind der offenen Gesellschaften des Westens erkannt haben.
Wer ausgerechnet dieses Spektrum mit populistischer anti-muslimischer Agitation in eins setzt, die oftmals tatsächlich fremdenfeindliche Züge trägt, folgt der Logik des „Kampfes gegen Rechts”, der die fundamentalen Gegensätze zwischen konservativen Patrioten und braunen Extremisten verschleiert: Konnte etwa 1993/94 der Christdemokrat Steffen Heitmann als getarnter Gesinnungsfreund gewalttätiger Neonazis diffamiert (und als Bundespräsidentschaftskandidat verhindert) werden, so läßt heute eben die FAS den Islamismus-Kritiker Broder allen Ernstes als einen Stichwortgeber für im Internet agierende Fremdenfeinde attackieren. Dabei möchte der Angreifer – wir erwähnten Niggemeier schon – natürlich keinesfalls in den Ruch kommen, er selbst wolle nicht auch die westliche Welt verteidigen. Daher betrachtet er Broders Provokation gleichwohl als berechtigt, und wir müssen die Frage stellen, wem seine Attacke eigentlich gilt. Vermutlich gilt sie jeder möglichen Allianz zwischen Vordenkern wie Broder und Nachdenkern aus dem Volk, die endlich beschrieben sehen, was sie im Alltag erleben, und dieser Übereinstimmung im Internet Ausdruck verleihen können.
Was sind solche Internetforen also? Sie sind gleichzeitig Meßinstrumente und Fallgruben. Denn selbst an intellektueller Aufbauarbeit interessierte Blogs, wie www.staatspolitik.org oder www.blauenarzisse.de, bergen die Gefahr, insbesondere bei jungen Internet-Nutzern die Illusion zu fördern, die Beteiligung am virtuellen Raum der Blogger-Debatten berge das Potential politischer Entscheidungen – oder wenigstens eines vorpolitischen „Trainings” für solche Entscheidungen. Auf der anderen Seite ist die Gestaltung von Internet-Präsenzen in Weblog-Form dazu geeignet, mit diskussionsfreudigen Menschen überhaupt erst einmal persönlichen Kontakt aufzunehmen, um sie darin zu bestärken, den virtuellen Raum zu verlassen und im wirklichen Leben etwas anzupacken.