Überdies verstellen ihnen allerlei politische und administratorische Widrigkeiten den Blick auf eine ursprünglich wichtige Aufgabe. Jenseits aller Phrasen:
Jeder Schüler ist wertvoll und seine Würde muß mit mehr Aufmerksamkeit geschützt werden als jene von Erwachsenen, die dafür souverän selbst Sorge zu tragen wissen, weil sie ihre Rechte kennen. Schüler können nie für das System, in das sie hineingeboren wurden. Niemals sollte man aus dem Blick verlieren, daß es hoffnungsvolle Talente gibt, ganz unabhängig davon, wie die Gesellschaft und deren Grundvereinbarungen gerade beschaffen sind.
Lehrer klagen oft; und vielleicht erscheint es gerade von daher angezeigt, die Umstände unten, in der pädagogischen Praxis, zu verifizieren, anstatt sich mit all den politischen Direktiven zu befassen, mit den von oben mal so, mal anders Kampagnen angeschoben werden. Man könnte „phänomenologisch“ beginnen. Also mit Husserl: „Zu den Sachen selbst!“ Herausstellen des Wesentlichen, in nicht voreingenommener Weise die Erscheinungen darstellen und dahinter deren Wesen zu erfassen suchen. Euphemismen und propagandistische Trostbegriffe meiden, analysieren, was bedeutsam ist, und klären, welche Grundbegriffe zur klaren Beschreibung und Veränderung bereitgestellt werden müßten.
Am besten in Fallbeispielen, weil die generelle Wahrnehmung kultusministerieller Deutungsweisen aus politischen Gründen davon ausgehen möchte, grundsätzlich wäre alles in Ordnung oder würde schon immer besser, obwohl es nach Messung des Rates für deutsche Rechtschreibung bis 20 Prozent Analphabetismus unter Fünfzehnjährigen gibt, abgesehen von all den Folgen, die ein solches Desaster nach sich zieht. Der vielfach beklagte Fachkräftemangel wäre nur einer davon. Außerdem die Eingangsfrage: Wie kann man sich pädagogisch in einem System engagieren, das es zuläßt, ja wünscht, Hunderttausenden eine Hochschulreife zu bescheinigen, obwohl eine Vielzahl davon nicht im qualifizierten Sinne lesen und schreiben kann – ein System also, das die Nichtabiturienten einfach so durchreicht, ohne sie überhaupt noch ernstlichen fachlichen Herausforderungen auszusetzen?
Prüfungen zur „Berufsreife“ sind daher in Mecklenburg-Vorpommern längst freiwillig und schließen überhaupt das Scheitern aus. Dennoch brechen genau dort fast fünfzehn Prozent die Schule ab. Von sich aus, also ohne je „durchfallen“ zu können. Abgesehen von diesem Generationenbetrug in den meisten Bundesländern gibt es vorzugsweise in Süddeutschland offenbar noch immer Refugien, die als beharrliche kulturelle Restbastionen weiterkämpfen, aber genau deswegen zum Ziel sozial-demokratischer und linker Kritik werden.
Fallbeispiel 1: Wenn ich in der Sekundarstufe I am sogenannten Gymnasium Schüler aus der Grundschule übernahm, war deren sprachlicher Elementarbereich mittlerweile oft so schlecht ausgebildet, daß er nur über höchsten Übungsaufwand und mit viel Ausdauer neu gesichert werden konnte, es sei denn die Schüler kamen aus Grundschulen, in denen die Vermittlung guten und richtigen Schreibens und Lesens intern vereinbart immer noch und beinahe anachronistisch als Hauptsache galt. Wenn in jungem Schulalter unsystematisch gearbeitet und auf Gründlichkeit, ausgiebiges Üben und Kontrollieren sowie auf eine saubere Handschrift verzichtet wurde, richtet man in den Sekundarstufen kaum noch Entscheidendes aus.
Die meisten Lehrmittel sind keine echte Hilfe. Auf Lesebücher verzichten die Verlage weitgehend zugunsten eines „integralen“ Zuschnitts. Ihre Sprachmaterialien versuchen sich indessen einem als kindlich-jugendlich empfundenen Geschmack bunter Infantilität anzubiedern, folgen also einem aufgeregt-hyperkinetisch anmutenden Layout oder ahmen gleich Bildschirmästhetik nach. Hauptsache, es sieht hip und cool aus. Vergleicht man diese sich modern gebenden Lehrbücher mit jenen der früheren Bundesrepublik oder der DDR, wird evident, welche Verluste an Inhaltlichkeit der Kultusbereich hinzunehmen bereit war, um jeden zweiten Schüler zum Gymnasiasten zu deklarieren und den Rest irgendwie bildsam zu unterhalten.
Die meisten Kultusministerien kompensierten den augenfälligen Mangel im Lesen und in der Schriftlichkeit mit der Reduzierung bzw. Abschaffung der Fehlerquoten – spätestens in der Abiturstufe, so daß lang eingeübte textliche Standards des Analysierens, Erörterns, Interpretierens agrammatisch durchgeschrieben werden können, wenn nur inhaltlich einiges zu wägen und messen ist. Die damit korrespondierende Haltung der Abiturienten: Gut, ich habe Probleme in der Schreibung, aber Sie verstehen doch auch so, was ich meine.
In den neuen Medien und sog. „sozialen Netzwerken“ läuft es nicht anders. Nur: Werden Lesen und Schreiben nicht mehr oder nur noch rudimentär beherrscht, lassen sich daran kaum Ausdrucksformen als Ausweis der eigenen Persönlichkeit und gar zur Auseinandersetzung mit komplexen Probleme entwickeln. Viele Gymnasiasten scheitern schon an der Bildung einfacher satzlogischer Strukturen und vermögen so kaum relevanten Aussagen zu transportieren. Jede Positionierung und Ortung bedarf der Sprache. Ihre Beliebigkeit ist nicht zuletzt Ausdruck diffuser Orientierungslosigkeit. Man höre auf eine Hauptfloskel der mündlichen Rede: „Keine Ahnung!“, heißt es da oft zwischen den flotten Sätzen.
Zweites Fallbeispiel: Bin ich in der Sekundarstufe II traditionell noch gehalten, die Technik anspruchsvoller Sprachanalysen sowie das Vermögen zur Interpretationen literarischer Stoffe zu vermitteln, ergibt sich zudem die Schwierigkeit, daß mindestens die mir bekannten Abiturienten zum allergrößten Teil nichts lesen, und zwar weder Bücher noch Zeitungen. Es heißt dann, sie orientierten sich eben vorzugsweise im Netz. Akzeptiert. Sie verstehen es dort aber wiederum kaum, zielgerichtet mit Zugriff zu suchen und dabei eine reine Information nach deren Relevanz zu bewerten und in ein Bezugssystem einzuordnen. Isoliert Aufgefundenes bringen sie nur schwer in sinnvolle oder gar ergiebige Zusammenhänge, da Allgemeinbildung fehlt, die überdies der modernen Schule grundsätzlich als unmoderner Ballast gilt, der zugunsten von „Methoden- und Medienkompetenz“ abzuwerfen ist. Also reiche ich die minimal notwendigen Zuordnungen in Frontalunterrichtsphasen nach, so wie ich überhaupt zu allen Aufgabenstellungen Lösungsmuster anbiete, damit Beispiele vorliegen.
Solcherart kann ich zwar Algorithmen einüben, mit denen in linearer Weise ein Text einigermaßen in sich verstanden wird, aber es gelingt kaum, externe Bezüge heranzuziehen, die für zugkräftige Argumentationen oder differenzierte Urteile erfordert wären. Meist suche ich daher jenseits der faden Lehrbuchangebote Texte heraus, die für jugendliche Lebenswelt interessant sein könnten, dringe selbst damit aber nur mit viel Mühe, Inspiration und permanenter Erklärung bis zum elementaren Verständnis dessen vor, was in der Vorlage steht. Ich bin schon sehr erfreut über die Fähigkeit zur einfachen Reproduktion – das, was vor Zeiten gerade mit „ausreichend“ bewertet wurde. Nach meiner Erfahrung kann ein durchschnittlicher Abiturient die Kommentarseite und das Feuilleton der Qualitätspresse kaum verstehen.
Was bleibt: Wir üben Aufsatztypen sehr verschult im Sinne von allgemein funktionierenden Stereotypen ein. Ja, ich sehe mich gehalten, die zu schreibenden Schülerarbeiten direkt am Text und Stoff zunächst vorzubereiten, so daß überhaupt mit meßbaren Ergebnissen gerechnet werden kann; und trotz solcher Vorschulungen und Einweisungen, die früher als unlauteres Vorsagen gegolten hätten, sind die Noten zu schlecht, jedenfalls in Wahrnehmung meiner Schüler. Aber als schlecht gilt alles jenseits der Zwei.
Ich kenne in meinen Klassen derzeit einen Oberschüler, der zumindest BILD-Zeitung liest – und bestärke ihn darin! Eine veritable kulturelle Mehrleistung gegenüber allen anderen, die nie eine Zeitung in die Hand nehmen. Ich meine es ebenfalls nicht zynisch, wenn ich anrege, die Kindernachrichten „Logo“ auf KIKA zu schauen, wenn einem die Tagesschau zu langweilig oder zu anspruchsvoll erscheint. KIKA veranschaulicht für Anfänger sehr gut.
Wissen aber braucht Orientierungsumfelder mit übergreifenden Zusammenhängen. Deren Radien sind gering. Innerhalb der Globalisierung verengt sich – im Wortsinn – Welt-Anschauung. Meine Schüler wissen: „Europa“ ist wohl etwas Gutes, weil es den Frieden garantiert. Trotzdem ist der Euro gerade irgendwie in Problemen. Daß es immer noch „Nazis“ gibt, ist schlimm, und man muß gegen sie demonstrieren, obwohl man nicht sagen könnte, woher die kommen und was sie antreibt. Sie treten auf wie Grippenwellen, gegen die es Impfungen geben muß. In diesem Fall also Veranstaltungen und Exkursionen der politischen Bildung.
Links, meinen die meisten pauschal, ist besser, aber was linke Positionen ihrer Traditionslinien und Hintergründe nach kennzeichnet, bleibt unklar. Links erscheint „menschenfreundlicher“ und wird den überall geäußerten Erwartungen gerechter. Ansonsten? Die Umwelt befindet sich in einer Überlebenskrise, wie vieles andere ja auch, aber man kann ihr wenig helfen. Erstens kennt man sie kaum, zweitens gehen Wachstum und „Jobs“ nun mal vor. Man hat die Welt so nicht eingerichtet und folgt in der Mehrzahl den Mustern der Eltern, um deren Karriere zu kopieren oder deren Mißerfolge zu vermeiden.
Ein Letztes, jenseits des Didaktischen: Ich sehe mein Heil darin, in der Literatur die allerbesten Stoffe zu thematisieren, die mir zur Verfügung stehen. Wenigstens bin ich Vielleser. Ich kann über alle Epochenspezifika hinaus Hofmannsthal, Rilke, Kafka, Hesse, Benn, die modernen und die ganz modernen, die Amerikaner, die Franzosen, die Engländer, die Russen und allerlei Ausgestiegene, Ausgeflippte und Exoten, ja selbst gemeinhin schwere Kost wie Hans Henny Jahnn oder Arno Schmidt schon so aufbereiten, daß erwartbar wäre, es regten sich mal Puls und Leidenschaften. Nicht zuletzt im Sinne gedanklicher oder ästhetischer Provokation!
Es regt sich aber nichts, auch nicht bei den artig Beflissenen oder den redlichen Strebern. Und so werden von mir vor allem Bildungs-Entertainment und kurzweilige Unterhaltung erwartet. Das kann ich leisten, indem ich immer neu zu begeistern versuche, aber das geht zu Lasten des Erkenntnisgewinns. Vielmehr müßte in die Tiefe vorgedrungen werden, dorthin, wo es überhaupt erst interessant wird. Oje, welche Anstrengung! Noch mehr Text, noch weitere Synergien! Plötzlich wird es gar philosophisch, mindestens politisch. Schlimmer aber: Ich weiß mittlerweile gar nicht mehr, wo innerhalb meiner Auditorien überhaupt noch Leidenschaften liegen, selbst außerhalb des nur Sprachlichen und Literarischen.
Nein, ich verziehe vor Klassen nicht das Gesicht, gebe mich keinesfalls indigniert oder kulturpessimistisch, sondern versuche in einer Art pädagogischen Existentialismus weiterzumachen. Im Als-ob. Mitunter aber bin ich, für mich allein, recht perplex. Die Fehler mögen bei mir liegen, sicher. Ich revidiere sie und suche wieder neues Material. Ich finde viel, aber ich richte wenig aus. Selbst wenn ich „der Mensch in der Revolte wäre“, würden es meine Klassen gar nicht merken. Große Freundlichkeit bei geringen Amplituden.
Und die Talente? Sie drohen im Milieu der neuen jungen Behäbigkeit zu verdämmern. Ich kann ihnen nur außerhalb des Systems Schule helfen, Mut machen zum hohen Anspruch, der sich nur an den besten Stoffen entwickelt.
Inselbauer
Sie beschreiben sehr schön, was einen leidenschaftlichen Lehrer ausmacht. Solche Leute gibt es auch bei den Linken, und sie leiden wohl noch mehr, weil sie das alles als eine ganz dunkle Welle des Versagens und der Verweigerung erleben, für die es keine rationale Erklärung gibt. Meine Frau ist in der beruflichen Bildung tätig, "Südländerfront" und "Maßnahmen". Ich höre immer wieder Geschichten von linken Enthusiasten, die irgendwann stumm eingehen, sich scheiden lassen und sich einen Vogel zulegen. Schreiben und Lesen gibt es dort kaum noch, es geht nur noch darum, den Frieden zu wahren und für die Lehrer, selbst am Leben und bei Gesundheit zu bleiben.