Wir, der Westen insgesamt, Amerika ohnehin, befinden uns in einer Phase untergehender Kultur. Kein Grund, eine Krankheit zu bejammern oder zu verdrängen, deren Symptome allzu deutlich sind. Leben mit dem Krebs muß möglich sein.
Sicher, die Systeme, oftmals überkomplex, daher fragil und angreifbar, funktionieren, jedenfalls die technischen und ökonomischen, jedenfalls für die meisten. Die oral hochbefriedigten Konsumenten stoffwechseln noch, mehr denn je. Und all die Unterhaltungssender senden. Dank Intensivmedizin und Dialysezentren steigt die Lebenserwartung, so daß Deutschland und andere Industrieländer zu gerontologischen Versorgungsgesellschaften hinüberaltern. Eher schlecht als recht, aber auch das wird anständig verdatet und verwaltet. Überhaupt leben hierzulande beinahe fünfzig Prozent von Transferleistungen. Das ist humanitär gesehen lobenswert, soziologisch ist es ein Signal, und quergerechnet in ähnlicher Weise ein Luxus wie die immensen Gewinne der klügsten oder kaltblütigsten Geldmacher. Regiert wird das alles von einer sich tugendhaft gebenden Kraft mit mystisch anmutender Selbstbezeichnung – der Mitte.
Daß es im Produzieren und Verbrauchen weitergeht und dennoch im Schatten des Blasen-Booms eine ideelle Krise einsetzen mag, die Wendungen vorbereitet, zeigt das Beispiel Deutschlands und Europas in einer Zeit mit der beredten Bezeichnung „Fin de siècle“. Wenn die Nation je Großmacht war – industriell, militärisch, sogar sozial gesichert –, dann um 1900. Eine hohe Zeit für die Wissenschaften, die Ingenieure, die Literatur. Was für eine Reihe großer Namen von Albert Einstein bis Max Weber! Was für ein Spektrum in den Künsten von Worpswede bis zur Berliner Sezession und zur Dresdener Brücke! Zudem vielleicht die letzten Jahre ganz großer Musik – noch Bruckner, schon Mahler, bald Schönberg.
Und doch: Bei aller Prosperität – welche Erschöpfung! Oder Poetisch ausgedrückt:
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
(Jakob van Hoddis, 1911)
Was für eine Weltendestimmung, obwohl das Leben, meint man, ungleich vitaler pulste – auf dem Potsdamer Platz ebenso wie auf den Gütern Ostelbiens. Immerhin genoß noch jeder, wenngleich nach unten bescheiden, die heute so oft beschworene, aber meist erledigte Teilhabe am Gesellschaftlichen. Die Arbeiterbewegung entwickelte eine eigene Lebenskultur und schritt voller Kraft und Zuversicht dem Morgenrot entgegen. Auch diejenigen, die am wenigsten hatten, die Landarbeiter, erlebten sich auf ihre Weise und an ihrer Stelle, als wichtig, selbst der polnische Schnitter und der Kutscher, der Getreide zur Mühle fuhr und nach Feierabend die Pferde pflegte. Dazu die Beamten als versorgte Entscheidungsträger, die Lehrer als vielleicht kauzige, aber durchgebildete Persönlichkeiten, in den Städten die Bohemiens und Lebenskünstler, die Schnorrer und Tagediebe.
Mit Ausnahme Rußlands, dessen Revolution von 1905 tatsächlich wie ein Menetekel ausbricht, schien Europa gesund. Selbst der heutzutage rundweg negativ konnotierte Imperialismus kann bei allen beschworenen Konflikten als Zeitalter politischer Kraft und Stärke gelten. Was immer man davon halten mag: Die europäischen, amerikanischen und japanischen Zeitgenossen erlebten ihre Nationen nicht als Krisenfälle. Die ganze Gesellschaft wurde gebraucht und hielt sich arbeitend lebendig. – Was für ein Vergleich zu den traurig armseligen Ein-Euro-Jobbern, die aus therapeutischen Zwecken zu Arbeiten zwangsverpflichtet werden, auf die es leider kaum ankommt.
Und obwohl die Schlote damals rauchten, malte Edvard Munch seinen „Schrei“, den furchterregenden Blick auf ein furchtbares Jahrhundert. Über dessen Portal könnten wie ein Motto die Worte von Nietzsches vereinsamtem Wanderer stehen, der in einer modernen Winterreise fatalerweise seine sichere Stadt verließ, alle Brücken hinter sich abbrechend:
„Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt.
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.“
Tatsächlich machte das neue Jahrhundert nirgendwo halt und ließ keine denkbare Grausamkeit aus. Die Historie schien zu pathologisieren. Empfindsame Gemüter beherrschte die Ahnung einer großen Entgrenzung, die neben Befreiung und Belebung einem geschichtlichen Horror die Tore öffnete, der so vom Vorjahrhundert kaum gedacht werden konnte. Franz Kafka einerseits als Visionär der neuen Entfremdung, andererseits der totalitären Gleichschaltungen, der Straflager und einer Angst, die über den Dächern liegt wie in Graphiken von Alfred Kubin. Alles Neue beginnt mit dramatischer Ambivalenz, aber es mag sein, das Luziferische, durchaus im Sinne des Lichts, überwiegt. Dazu trommelt Georg Heym in „Der Gott der Stadt“ den Rhythmus des Korybantentanzes.
Parallelen zur Gegenwart konstruieren zu wollen, wäre vermessen. Aber ebenso wie damals scheint die Ökonomik eines Zeitalters, etwa die Höchstprofite des unseren, mit seiner geistigen Kraft nicht in direkter Proportionalität zu stehen. Noch einmal zurück: Schwebte nicht der damals noch unnumerierte Weltkrieg wie ein apokalyptischer Vollzug über dieser „Belle Epoque“ der „Decadence“, wüßte man den großen Unterschied zum Heutigen zu benennen: Im Gegensatz zur Gegenwart der Stagnation verfügte jene Zeitenwende über expressiven Ausdruck und suchte begeistert nach immer neuen Formen und Varianten davon. All die beginnenden Reformbewegungen und Auf- bzw. Ausbrüche versorgten das Bedürfnis nach Neubeginn mit Zielvorstellungen und vor allem mit Begriffen, Metaphern, Symbolen, Bildern und Klängen. Gab es je, abgesehen vom Zeitalter der Glaubensspaltung und eventuell der Aufklärung, eine größere Dynamik des Gedanklichen, die zur Tat drängte?
„Jede Zeit ist Übergangszeit. Aber niemals ist es am Ende einer Periode einer Generation so klar gewesen wie den Menschen um 1900, daß das nächste Jahrhundert einen anderen, vor allem einen bestimmteren, ausgesprocheneren Charakter tragen werde und tragen müsse als das letzte Jahrzehnt des zu Ende gehenden neunzehnten. Und so lebten sie nicht nur tatsächlich in einer Übergangsperiode, sondern – das ist der tiefere Sinn von ‚Fin de siècle’ – sie fühlten sich auch als Menschen des Übergangs. Übergangszeit aber ist böse Zeit, vor allem, weil in ihr die Gedanken und Gefühle auf allen Punkten zwiespältig geworden sind. (…) ein Festhalten und Sichanklammern an das Bestehende, als wäre es durchweg ein Vernünftiges und bleibend Wertvolles, und auf der anderen Seite ein Anstürmen gegen dieses Bestehende, als wäre es bereits von allen guten Geistern der Vernunft und der Sittlichkeit verlassen und könnte nicht eilig genug bis zum letzten Baustein abgetragen und in Trümmer geschlagen werden; dem historischen Sinn des Jahrhunderts trat ein revolutionärer Sturm und Drang gegenüber.“
So der Philosoph Theobald Ziegler als Chronist der Epoche. Das einerseits gefürchtete, andererseits herbeigesehnte Welt-Ende stand nicht für ein Armageddon der absoluten Endzeit, sondern meinte zwischen den Rissen des produktiv lustvollen Zerstörungswerkes schon das Schimmern eines feinen Lichtes wahrzunehmen, das Zeugnis eines noch nicht näher bestimmbaren Zukünftigen, Kommenden, Erlösenden. Auch Gottfried Benns „dunkelhellila Aster“ aus seinem ersten Morgue-Gedicht ist vom Kolorit dieser verlebendigenden Auferstehung, eingenäht in die Leiche eines „ersoffenen Bierfahrers“.
Und heute? Noch sind die alten, zunehmend verbrauchten Begriffe im Schwange, all die euphemistischen Propagandismen. Noch herrschen „Grundvereinbarungen“, die eigentlich kaum jemand vereinbart hat. Dazu die Agitation der politischen Umsonst-Broschüren mit den lebensfrohen, schicken Optimismusgesichtern einer Jugend mit sehr reiner Haut, der Multikultifolklore und einer beängstigend tollen Stimmung – als Ikonographie schon so stereotyp abgebildet wie vormals in totalitären Staaten. Angesichts zunehmender Selektion im Sozialen wird der Schutz durch Antidiskriminierungsgesetze und allgemeine Inklusion suggeriert und werden Bürgerrechte betont, die eine Mehrzahl schon nicht mehr beansprucht, wenn sie sich nur minimal gesichert und versorgt sieht.
Sollte man auf einen Aufbruch, auf eine Wende wenigstens in kultureller Gestalt hoffen dürfen? Zunächst desillusionierend: Rein verhältnismäßig dürfte es nie so wenig Jugend in Deutschland gegeben haben. Damit fehlt von vornherein der Überhang einer kritischen Masse Jugendlichkeit, ein „Youth Bulge“ – im frühen zwanzigsten Jahrhundert leider den Schützengräben geweiht, 1968 ff. nach den Turbulenzen der antiautoritären Revolte von Bürgersöhnchen in ein neues Spießertum des zunächst berufsalternativen Milieus und von dort in die neue Mitte mündend.
Im rein Quantitativen also wenig Kraft. Im Qualitativen mindestens sichtbar kaum Inspiration oder – wie man früher gesagt hätte – Beseeltheit. Ein allzu großer Teil verdämmert bei den angebotenen Primitivmustern sogenannten TV-Kult-Trashs: Ganze Gymnasialklassen schauen mit übereinstimmender Begeisterung „How I met your Mother“, „Two and a half Men“ und „Gossip Girl“ und verkleistern sich damit die Vorstellungswelt. Und selbst wer dem gegenüber Abstinenz übt, ist noch nicht Zeitungsleser oder irgendwie engagiert. Jene, die selbst dazu finden, kopieren eher elterliche Entwürfe, ob nun in bezug auf Karriereplanungen oder politisch. Meist sehr leidenschaftslos, mit wenig Puls und flachen Amplituden. Es bildeten sich zwar interessante Subkulturen heraus, verbleiben aber grundsätzlich im „Lifestyle-Bereich“ und radikalisieren sich nicht in einer Weise, daß es gesellschaftlich entzündlich wirkte.
Die Bildung, früher notwendiger Hintergrund jeder Neuorientierung, ist mittlerweile das Hauptsymptom der ideellen Krise. Völlig gefangen in der politisch suggerierten Vorstellung, einst hochwertige Abschlüsse wären einfacher durch die Reduktion von Inhalten und eine Inflationierung der Bewertungen zu erreichen, verdient insbesondere das Gymnasium seinen für Deutschland traditionsreichen Namen nicht mehr, während für die übrigen Abschlüsse grundsätzlich kaum noch Herausforderungen oder gar echte Prüfungen zu bewältigen wären. Bildung im ursprünglichen Sinne, also ab einem bestimmten Niveau, ist eher trotz des Bildungssystems oder außerhalb davon zu erlangen. Immerhin: Jede Wende ist die große Stunde der Autodidakten!
Wenn so viele Schüler wie noch nie das Abitur ablegen, aber ein eklatanter Fachkräftemangel beklagt wird und es zu wenige Ingenieure, Mathematiker, Mediziner, Informatiker gibt, so besteht zwischen diesen Sachverhalten ein direkter Zusammenhang. Gingen die Neuorientierungen um 1900 vor allem von jungen Leuten mit höherer Schulbildung aus, ist genau von dieser Seite leider kein entscheidender Impuls zu erwarten. Vielleicht braucht es dazu doch eher der klugen Unterprivilegierten und deren Mutes zur Aktion.
Und politisch? Empört Euch? – Demokratie dürfte entgegen der Selbstdarstellung der Behörden politischer Bildung nur für eine nachdenkliche Minderheit ein noch relevantes Thema sein, für jene aus „gutem Hause“, die sicher versorgt sind und die teureren Segmente des Komforts nutzen. Dem größten Teil dürfte es vor allem um eine andere Teilhabe gehen, jener am Konsum. Der angebissene Macintosh-Apfel des Apple-Logos ist für die meisten längst wichtiger als der Adler auf Schwarzrotgold. Als Demokratie würde den meisten eine vom Zuschnitt „Facebooks“ völlig ausreichen. Von weltanschaulicher Verblödung zu sprechen dürfte mit Blick auf das Gros realistisch sein.
Und dennoch: Daß unter den Wacheren plötzlich der Begriff der Identität zu einem Bezugswort wird, deutet auf eine Selbstbesinnung hin, die wieder nach Positionierungen sucht. Um den Weg aus der ideellen Stagnation zu weisen, bedarf es nicht der Massen. Dazu genügt eine Truppe, die sich Gehör verschafft, provoziert und endlich grundsätzliche Gewohnheiten und Denkfestlegungen ganz entscheidend in Frage stellt. Veränderungen setzen meist dann ein, wenn die Umstände völlig sklerotisch erscheinen und das Ancien Regime sich sicher etabliert wähnt. Wenn sich scheinbar nichts mehr zu bewegen scheint, bewegt sich plötzlich alles. Die Segel sollte man bereits bei Windstille setzen …
Kurt Schumacher
Guten Morgen, Herr Bosselmann,
Sie sind doch DDR-Bürger. Das 19. Jahrhundert ist lange her, wir alle kennen es nur aus Büchern. Aber die DDR ist noch nicht so lange her, können Sie einen Vergleich ziehen zwischen ihrem Ende und dem Niedergang der Bundesrepublik heute? Erwarten Sie einen neuen Herbst 1989? Und was kommt danach? Bitte deuten Sie doch einmal die Krise der Gegenwart aus ihrer DDR-Erfahrung heraus. Sie sind ja, im Gegensatz zu vielen studentischen Netznutzern, alt genug dazu. Haben Sie damals geglaubt, die Mißstände um Sie herum würden "von oben her" schon irgendwie geregelt werden? Oder schien "der Westen" schuld zu sein an der Misere des real existierenden Sozialismus? Sehen Sie Grund zu einer neuen Totalitarismus-Theorie ("Der neue Totalitarismus wird nicht sagen, ich bin der Nazismus oder der Kommunismus. Der neue Totalitarismus ist der Konsumismus = Amerikanismus"...?)
Ich bin selbst aus dem Westen, ich kann da nicht mitreden. Aber Sie können es! Das wäre wirklich sehr interessant! Mit freundlichen Grüßen,
Kurt Schumacher