eine Besprechung des damals aktuellen Films von Ulrich Seidl, “Jesus, Du weißt”. Seidl gilt in Österreich neben Michael Haneke als international bedeutendstes Aushängeschild des heimischen Kinos; und beide stehen im Ruf, “ästhetische Extremisten” zu sein, deren Filme dem Zuschauer allerhand zumuten und abverlangen.
Der weitaus “kontroversere” der beiden ist zweifellos Seidl, der am 22. November sechzig Jahre alt wird. Mit einschlägig Interessierten führe ich nun schon seit über einem Jahrzehnt leidenschaftliche Streitgespräche über seine Filme, die immer wieder die gleichen Affekte und Abwehrhaltungen provozieren. Diskussionen über Seidl gehören zum Evergreen unter Cineasten ebenso wie unter allgemein austrophil Kulturinteressierten.
Mit Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, Helmut Qualtinger und Manfred Deix, Otto Mühl und Hermann Nitsch, Natascha Kampusch und Josef Fritzl gehört er allerdings in die Reihe jener Landsleute, die im In- und Ausland ein ziemlich düsteres Image von Österreich geprägt haben.
Demnach wäre unser gar liebliches Land ein abartiger, engstirniger, dumpfer, korrupter, psychische Störungen und Gewalt züchtender Kloakensumpf voll mit Frauenhassern, Nazis und Antisemiten (Jelinek), Provinzkretins und Klerikalfaschisten (Bernhard), bauernschlauen Mitläufern und gemütlichen Brutalos (Qualtinger), verfetteten, versoffenen und versauten genetischen Desastern (Deix), autoritären Unterdrückern und enthemmten Perversen (Wiener Aktionisten), sowie diversen kleinbürgerlichen Kinderverzahrern mit sadistischen Neigungen und ausgefallenen Kellereinrichtungen – einer zeitgenössischen Sonderform des austriakischen Modus der Neurose, der eine Art inwendig wuchernder Barock ist.
In diese schöne Tradition reihen sich Seidls Filme seit seinem Langfilmdebüt “Good News – Von Kolporteuren, toten Hunden und anderen Wienern” (1990) relativ nahtlos ein. Als Dokumentarfilmer stürzte er sich mit Vorliebe in ungekehrte Ecken und Welten, vor denen dem durchschnittlichen Mittelschichtbürger graust wie dem Kreationisten vor seinem äffischen Stammbaum: seine Arbeiten bevölkern Unterschichtgestalten, Proleten, Obdachlose, Einwanderer, geistig Behinderte, Sexbesessene und verschrobene Existenzen jeglicher Couleur. Dabei übertreffen seine Dokumentarfilme seine Spielfilme wohl noch an Intensität und Abgründigkeit.
Das Grausen kann freilich auch schnell zum wohligen Schauer umschlagen, und der versammelte Schmuddel in eine Art “Sozialpornographie”, zumindest im Auge des entsprechend gestimmten Betrachters. Der Gipfel war wohl mit “Tierische Liebe” (1995) erreicht, der Seidls damaligen Mentor, den in vielerlei Hinsicht geistesverwandten Werner Herzog zu dem viel zitierten Diktum bewog, er habe durch ihn “geradewegs in die Hölle geschaut.”
Dietrich Kuhlbrodt schrieb damals über den Film:
Feinrippunterhemd, Turnhose und Socken, so sitzt rechts auf dem Sofa der Schlecker-Peter, der so heißt, weil er Wiens Spitzenmann für Cunnilingus ist. Allerdings hat er grade den Telefonhörer am Ohr und nimmt den Telefonsexservice in Anspruch. Links auf dem Sofa ödet sich ein mittelgroßer Köter zu Tode. Die Hinterbeine hat er auseinander geklappt, so kann er das Genital der Kamera weisen. Letztere dokumentiert einwandfrei ihren eigenen subjektiven Blick auf eine Szene, die unschwer als floride Beziehungskrise beschrieben werden kann. Hierfür wäre eigentlich die uns allen sattsam bekannte Filmgattung der Beziehungsdramen und – komödien zuständig, um uns sofort mit Filmdialogen vollzulabern. Wie man einsehen wird, fehlt es den Wiener Heimtieren jedoch an der Möglichkeit, sich verbal zu artikulieren.
Was ein Segen ist. Weil der begnadete Wiener Dokumentarist Ulrich Seidl jetzt tun kann, wofür er berühmt ist, nämlich dem Bildermedium geben, was des Bildermediums ist: Mit dem unterschwelligen Affekt des Einverständnisses inszeniert er, wie der Mensch es mit dem Tier treibt.
Ganz so schlimm ist es auch nicht: “Tierische Liebe” zeigte vereinsamte Menschen, die ihre ganze Sehnsucht nach Liebe und Nähe auf ihre Haustiere werfen, was zum Teil zu grenzwertigen und kaum erträglichen Szenen führte. Der junge Sandler, der sein Leben als Wegwerfkind in einer Mülltonne begonnen hatte, geht mit seinem Kaninchen betteln, die traurige und etwas affektierte gescheiterte Schauspielerin steigt nur noch mit ihrem Husky ins weiße Himmelbett, während sich das hundebesitzende Ehepaar, schmalbrüstig und mausgrau, mit Vorliebe für Schnulzenmusik, vor der Kamera erfolglos als von allen menschlichen Zwängen “befreite” Sexbestien zu inszenieren versucht: ein paar Farbtupfer aus der Pornodose, um die trübe Existenz wenigstens ein bißchen aufzuhellen.
War das nun Komplizenschaft oder Freakshow, bedingungslose Empathie oder zynische Ausbeutung von Unbedarften? Genau an diesem Punkt spalten sich die Geister der Seidl-Fans und ‑hasser. Manche verglichen ihn mit der zeitgleich aktiven TV-Filmerin Elisabeth T. Spira, deren Serie “Alltagsgeschichte” über fast 20 Jahre hinweg zum Deprimierendsten gehörte, was das österreichische Fernsehen zu bieten hatte. Was eine Minderheitenmeinung ist: deprimierend schien mir die Serie auch deswegen, weil sich offenbar alle Welt darauf geeinigt hatte, das Gezeigte unglaublich komisch und unterhaltsam zu finden. Immerhin hat sie mir jegliche Anfälligkeit für “Volks”-Romantik nachhaltig ausgetrieben.
Die Reportagen aus Wiener Schrebergärten, Bahnhöfen, Tröpferlbädern und Würstchenbuden schrammten nun in der Tat oft hart am Rande der selbstzweckhaften Freakshow vorbei. Angeblich, so wurde mir einmal berichtet, ließ Spira ihre Assistenten ausschwärmen, um auf den jeweiligen Schauplätzen möglichst abgenudelte Deix-Figuren und Untermenschen einzusammeln, denen dann Kamera und Mikro unter die Nase gehalten wurden, auf daß sie ein paar auswertbare Sager von sich geben. Je unbedarfter, vulgärer oder prolliger, umso besser ausschlachtbar. Zurück ließ ihr Team angeblich nur verbrannte Erde, und die Geschädigten würden fortan nichts mehr mit Film- und Fernsehfritzen zu tun haben wollen.
Ob das nun so stimmt oder nicht, Tatsache ist, daß Seidl immer betont hat, daß er sich im Gegensatz zu Spira, mit der er nicht verglichen werden will, stets viel Zeit nimmt, um seine Darsteller gründlich kennenzulernen und zu befreunden. Irgendwann sind sie soweit, für ihn vor laufender Kamera buchstäblich die Hosen herunterzulassen, und man kann wohl davon ausgehen, daß Seidl, der äußerlich eher sanft und zurückhaltend wirkt, seine manipulativen Kniffe auf Lager hat, um sie dahin zu bringen, wo er sie haben will. Dergleichen funktioniert nur mit einer gewissen Dosis entschlossener Skrupellosigkeit, zu der allerdings mehr oder weniger jeder erfolgreiche Filmemacher befähigt sein muß. Angeblich aber waren die Darsteller stets mit dem Ergebnis auf der Leinwand zufrieden, und bereit, erneut mit dem Regisseur zu arbeiten.
Was vor allem Seidls Dokumentarfilme der Neunziger Jahre so intensiv und schockierend macht, ist die verblüffende Intimität und Ungeniertheit, mit der die Darsteller vor der Kamera agieren, geradeso, als würde sie und das Filmteam gar nicht existieren. Man hat die Illusion, geradewegs, ohne Filter in die ungeschminkte Wirklichkeit zu blicken. Wie diese Nähe, die filmtechnisch äußerst schwierig zu erreichen ist, zustande kommt, ist das eigentliche Arkanum der Seidl’schen Kunst.
Gleichzeitig geht seine Kamera stets auf optische Distanz. Seidl fängt die menschlichen Selbstentblößungen paradoxerweise in kühlen, durchkomponierten Tableaus ein, vermeidet Nahaufnahmen und stellt seine Protagonisten oft schweigend und still verharrend, gerade noch an der Kamera vorbeiblickend, in ihre Wohnzimmer, auf die Straße oder in die Landschaft, als wolle er für einen Augenblick innehalten und mit stiller Geste deuten: Ecce homo.
Manchmal erzeugen die Bildausschnitte eine diffuse, absurde Komik. Man will lachen, weiß aber nicht so recht, warum. Die Kamera verbleibt meistens starr und abwartend, geduldig registrierend – auch dies eine Art der Stilisierung. Einen Seidl-Film kann man in der Regel schon nach der ersten Einstellung erkennen, so ausgeprägt ist seine Handschrift.
Seidl betonte immer wieder, daß er weder das Gezeigte noch die Menschen in seinen Filmen in irgendeiner Weise bewerte. Dies war auch ein Ball, den er gerne seinen Kritikern zurückschupfte. Damit bereitete er vor allem den linksdrehenden unter ihnen (und das sind die meisten Filmkritiker) erhebliche Verdauungsschwierigkeiten. Gerade als Linker steht die eigene Urteilskraft stets unter der idealistischen Tyrannei dessen, was nach korrekten Vorgaben sein soll, welches sich immer an dem reibt, was unkorrekterweise tatsächlich ist.
Nun kann auch kein Dokumentarfilm mit vollkommener Nüchternheit zeigen, was“objektiv” ist, auch er hat immer eine gewisse Haltung zu den Dingen, die man mit gutem Recht und im weitesten Sinn “moralisch” nennen kann. Und diese Haltung zeigt sich unter anderem schon darin, in welchem Blickwinkel und welcher Entfernung der Regisseur seine Kamera aufstellt.
Während also der Schmuddelfaktor von Seidls Filmen einen gewissen Appeal auf die linken Kritiker hatte, blieb oft ein Rest des Unbehagens: klar, als Linker will man einerseits “populär” sein, andererseits will man am Ende doch nicht so genau wissen, wie das “Volk” nun eigentlich tatsächlich lebt und denkt. Man findet “Elitarismus”, Standesdünkel oder “Diskriminierung” tendenziell “faschistoid” und will “bürgerliche Vorurteile” bekämpfen, ist dann aber im Endeffekt nicht selbstumerzogen genug, um das Gezeigte nicht doch eklig oder abstossend, lächerlich oder minderwertig zu finden.
Also muß wohl der Filmemacher daran schuld sein, daß die Wirklichkeit so ist, wie sie ist, und wenn man so will, kann man ihm nun allerhand Versäumnisse aus dem Ideologiefundus vorwerfen. Andere wieder meinen in positiver Wendung, in Seidls Bildern “schlage” ihnen der sogenannte “alltägliche Faschismus entgegen”, der vielleicht weder in den Bildern, noch im Alltag des “Systems” liegt, sondern vielleicht viel eher dort, wo ihn die in der Regel pharisäischen Ankläger am wenigsten vermuten, nämlich im eigenen Kopf, als konzeptueller clusterfuck.
Wir leben heute in einer Zeit der allumfassenden Heuchelei, verursacht durch das allgemein akzeptierte linke Verbot der “Diskriminierung”, dessen Anspruch weit über den der bloßen “Toleranz”, also: dem Ertragen der Differenz oder des Störenden, hinausgeht. Das geht bis zu einem Grad, an dem Werturteile an sich schon in den Ruch des “politisch Inkorrekten” und “Faschistoiden” geraten können, es sei denn, sie werden auf irgendeinen zum Beschuß freigegebenen Negerstamm angewendet, wie etwa “Rechte”.
Wenn nach Mencken ein Puritaner jemand ist, der in “der ständigen Angst lebt, irgendwo könnte irgendjemand Spaß haben”, dann leben die heutigen PC-Neopuritaner in der ständigen Angst, irgendwo könne irgendjemand irgendwen “diskriminieren”. Mit der Folge, daß sie ununterbrochen an “Diskriminierung” denken, und den Balken im eigenen Auge nicht sehen.
Je strenger die Definitionsgrenzen der Anti-Diskriminierung gezogen werden, umso mehr erweitert sich der Kreis der zu Verurteilenden, denn der Mensch wertet, präferiert und “diskriminiert” ebenso ununterbrochen und unwillkürlich, wie er atmet. “Jeder weiß, daß 99% der Menschheit Rassisten sind”, schrieb mir neulich ein kluger, aber hoffnungslos der “post-strukturalistischen” Gehirnkorruption verfallener Bekannter. Dann wären wir alle Dauersünder, bis auf ein paar selbsternannte beati possidentes, deren Reinheit selbstverständlich Fassade ist, unverbesserliche “Rassisten”, “Sexisten” oder “Lookisten”, und unsere Gewissensforschung hätte kein Ende.
Es ist allerdings seltsam in unseren Herzen verankert, daß wir im Grunde nur das Unverdiente wirklich bewundern. Schöne Frauen und talentierte Künstler bekommen Komplimente für Dinge, die sie zwar pflegen und ausbauen können, deren Substanz aber mehr oder weniger ein zufälliges Gottesgeschenk ist. Wir verehren den Gnadenakt, der sich in ihnen manifestiert, gleichzeitig haben wir gegenüber den weniger Glücklichen oft dünkelhafte Empfindungen, als wären sie auch noch schuldig an ihrem Los.
Der Anblick von häßlichen, schwachsinnigen und dummen Menschen erzeugt in uns oft Gefühle der Beklemmung, ja Verachtung und der Peinlichkeit, die wir zuweilen mit schlechtem Gewissen bemerken, aber doch nie ganz unterdrücken können. Gleichzeitig kann der Abwehraffekt der Verachtung umso größer sein, je mehr uns der peinliche Anblick an Möglichkeiten unserer selbst erinnert: jeder von uns kann eines Tages dort ankommen, kann häßlich, arm, infantil, verkrüppelt, alt und fett werden, oder als ungeliebter sabbernder Idiot in einem Altersheim enden.
Jeder von uns hat wunde Punkte, in jedem von uns sind Vorzüge und Schwächen auf oft widersprüchliche Weise verteilt. Auf der anderen Seite ist das Ressentiment ein ewiger Motor der Weltgeschichte: die Dummen hassen die Klugen, die Häßlichen beneiden die Schönen, die Schwachen suchen nach Rache an den Starken, und auch sie sind allesamt keine besseren Menschen.
Ein Buñuel und ein Pasolini, auch sie abtrünnige, aber eingefleischte Katholiken wie ihr österreichischer Erbe, wußten das ebenso, wie es heute ein Seidl weiß, wobei er sich zweifellos mit Händen und Füßen dagegen sträuben würde, die künstlerische oder auch “humanistische” Schwebe des “Nicht-Urteilens” auch nur theoretisch verlassen, bzw. gerade theoretisch nicht zu verlassen, als Schutzschild, Gefäß der Utopie und produktive Fiktion. Seidls Internetauftritt schmückt auf der Startseite eine ironische Folge von Titeln, die man ihm bisher zugedacht hat: “Zyniker”, “Pessimist”, “Menschenverachter”, “Provokateur”, “Voyeur” – er selbst sieht sich schlicht als “Regisseur, Autor und Drehbuchautor”.
Aber letztlich muß man gerade als künstlerisch empfindsamer und empfänglicher Mensch ein Herz aus Stein und einen Verstand wie Kautschuk haben, wenn man niemals wie Friedrich Nietzsche gefühlt hat:
Es gibt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie – die Menschen-Verachtung.
Was vielleicht die Stimmung ist, in die Jehova geriet, als er zu Noahs Zeiten das verunglückte Menschengeschlecht betrachtete und, um wieder reinen Tisch machen, von der Erdplatte fegen wollte.
Man glaubt Seidl, der in streng katholischen Verhältnissen in der niederösterreichischen Provinz im Waldviertel aufwuchs, gerne, daß er sich unter den Menschen, die er bevorzugt in seinen Filmen zeigt, wohl und heimisch fühlt. Außer Zweifel steht allerdings auch, daß er auf sie gleichzeitig mit dem Blick desjenigen schaut, den seine Herkunft zum Insider, seine scharfe und hochsensible Wahrnehmung aber zum Außenseiter macht.
Dietrich Kuhlbrodt fand Herzogs oben zitierte Reaktion auf “Tierische Liebe” verklemmt und etwas posenhaft:
Werner Herzog bekam einen metaphysischen Schock: “Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut”, bekannte er nach dem Besuch der “Tierischen Liebe”, dann setzte er seinen düster umflorten Blick auf und reiste zu Filmaufnahmen ins ferne Mexiko. Wieder eine dieser Fluchten, bloß weil er nicht bringt, was doch der Husky auf dem Satinlaken mit Leichtigkeit vorführt: sich die eigenen Genitalien lecken. Aber er hätte doch ohne weiteres Zungenküsse tauschen können, mit dem großen struppigen Schmusehund, hier in Wien, im Abbruchhaus auf dem Gelände des ehemaligen Verschiebebahnhofs, hinter den hunderttausend alten Autoreifen, die auf den Abtransport nach Albanien warten.
Franz Holzschuh, jung, Bettler, braucht im kalten Winter was sehr Warmes. Er, ein Weglegekind, im Mistkübel gefunden und in Erziehungsheimen groß geworden – Franz Holzschuh also, so hören Sie doch, lieber Werner Herzog, hat Ambitionen und Visionen.
Das ist natürlich viel zu einfach und zu “niedlich”, fast schon kitschig gesehen, und eine “Flucht” in die trostlose altlinke Romantik des Schweinigelns, denn Seidls Filme verbreiten ganz offensichtlich nicht eine Stimmung, die suggeriert, daß mit entspanntem Genitalienlecken und allgemeiner Verköterung alles in Ordnung wäre auf der Welt. Ihre provokative Wirkung wäre kaum so stark, würde nicht zwischen den Zeilen beständig die schmerzliche Empfindung durchscheinen, daß mit der gezeigten Welt etwas entsetzlich schief gelaufen ist, wobei ungewiß bleibt, ob die Misere in der “Gesellschaft” liegt oder nicht doch schon in der Schöpfung selbst.
Herzogs “metaphysischer Schock” kam nicht von ungefähr, und jeder, der über entsprechende Antennen verfügt, wird ihn angesichts von Seidls Filmen verspüren: gerade weil in ihm die Menschen bar jeder Metaphysik erscheinen, in ihrer nackten Kreatürlichkeit, Rohheit, Blindheit und Bedingtheit. Und wenn uns ihre Lebensentwürfe und Selbstbilder oft wie traurige oder tragikomische Kompromisse aus grauen Determiniertheiten, bunten Selbstbelügungen, pragmatischen Halbheiten und gnadenvollen Verblendungen erscheinen, dann müssen wir uns selbst fragen, ob all dies denn bei jedem einzelnen von uns soviel anders ist.
Je älter man wird, umso demütiger (was auch heißt: toleranter) wird man in dieser Hinsicht, denn letztlich ist “jedes Leben ein gescheitertes Experiment” (Dávila). Heute sitzt jeder unter seinem selbstgebastelten, mit allerlei heterogenen Versatzstücken zusammengezimmerten Hütchen und Hüttchen, um den Winter der Postmoderne zu überdauern und der Beliebigkeit standzuhalten und die eigene Bedeutungslosigkeit und Desorientierung zu vergessen. Man könnte sich nun einen kosmischen Regisseur vorstellen, unter dessen kaltem Auge all unsere Versuche, uns metaphysische Dächer zu fabrizieren, dürftig, illusorisch und komisch erscheinen.
Seidls Filme sind auf ihre Weise visuelle Exerzitien in der “katholischen Philosophie der Desillusionierung”, von der T. S. Eliot einmal sprach. Und doch inszeniert er immer die Abwesenheit der Transzendenz mit, und den schrecklichen Riß in der Existenz seiner Protagonisten, in dem Einsamkeit, Entfremdung und Isolation sichtbar werden, und damit die Sehnsucht nach Erlösung und Liebe.
Wieder hat es Werner Herzog am besten auf den Punkt gebracht:
Nie möchte man in eine Welt geboren sein, die Ulrich Seidl zeigt, und darin steckt eine tiefe Sehnsucht, eine Utopie.
Die Wahrheit ist allerdings, daß wir alle in die Welt geboren sind, die Ulrich Seidl zeigt, und um dies zu vermitteln, muß er wie alle Künstler übertreiben, einseitig sein, ungerecht sein, auf die Spitze treiben, um die Wahrheit “zur Kenntlichkeit zu entstellen”. Die Provinz, die er in seinem gefeierten Spielfilmdebüt “Hundstage” (2001) zeigt, ist die, aus der auch ich stamme. Das krasse Bild, das Seidl von ihr zeichnet, ähnelt aber nur entfernt der Welt, in der ich aufgewachsen bin. Dennoch weiß ich, daß die von ihm gezeigte Welt gleichzeitig existiert, daß die Typen und Gestalten reale Entsprechungen haben, daß der Film ein bitteres Stück Wirklichkeit zeigt, mit einem Naturalismus, der unter die Haut geht.
Ein Berliner Freund hielt den Film, durchaus bewundernd, für eine weitere glorreiche Manifestation des österreichischen Selbsthasses, wie ihn Bernhard und Jelinek berühmt gemacht haben. Ich glaube aber weder, daß es hier um Selbsthaß, noch, daß es primär um Österreich geht. Zweifellos zeigt er eine Gesellschaft im Zustand der fortgeschrittenen Fäulnis. Aber Seidl zeigt ihre Häßlichkeit nicht notwendigerweise, um die Menschen, die sie tragen und in ihr leben, zu denunzieren, sondern um den “Riß” des “Lebens im Falschen” sichtbar zu machen, der aber doch eher “metaphysisch” als “sozialkritisch” akzentuiert ist. Auch hier erweist er sich als auf seine Weise christlicher Filmemacher: hasse die Sünde, liebe den Sünder.
Auch Seidls neuer Spielfilm “Paradies:Liebe”, der im Januar in den deutschen Kinos anläuft, ist für diese Haltung exemplarisch: er zeigt eine fünfzigjährige, übergewichtige Frau, die sich während eines Kenia-Urlaubs von einer unverhohlen sextouristisch orientierten Freundin dazu anstiften läßt, sich mit hiesigen Gigolos einzulassen, die auf weiße “Sugar Mamas” aus Europa spezialisiert sind. Diese sind meistens ältere und nicht mehr sehr attraktive Frauen, die von jungen, starken Männern im Bett träumen.
Es ist aber nicht Sex, den die Protagonistin sucht, sondern eben “wirkliche” Liebe, die beileibe nicht nur am Strand von Kenia eine Frage des Marktwertes ist, und die freilich nicht zu haben ist, wo die Regeln des Business herrschen. Seidl verurteilt weder die afrikanischen “Beach Boys”, noch die liebessehnsüchtigen Frauen, die sich in den Rollen der Ausbeuter und Ausgebeuteten abwechseln. Er scheut sich aber auch nicht, sie in ausgedehnten, schwer erträglichen Szenen in Situationen zu zeigen, die man normalerweise schamvoll zudeckt. Nach zwei Stunden mag man sich reichlich fremdgeschämt und geekelt haben und von der Verzweiflung der Hauptfiguren geschmeckt. Man hat aber vor allem wieder etwas über die “conditio humana” gelernt, und man hat wieder etwas über das Hinschauen gelernt.
Aus einem Werk, das sich als “Spiegel” versteht, kann je nach Temperament dessen, der hineinblickt, allerhand zurückblicken, was sein Autor selbst vielleicht nicht so beabsichtigt hat. Seidl bezeichnete seine Filme einmal als “Sittengemälde”, und diese haben von Petronius Arbiter über Boccaccio und William Hogarth bis Fellini und Tom Wolfe auch stets den Impetus gehabt, Anklage zu erheben und Indignation und die moralischen Urteilskraft zu wecken. In meinem JF-Artikel aus dem Jahr 2005 nannte ich Seidl den “vielleicht bedeutendsten Chronisten der zeitgenössischen Dekadenz”, ein Urteil, das ich weiterhin aufrechterhalte.
Fäulnis. Dekadenz. Das sind starke Worte, starke Wertungen, gerade für die erfolgreich Akklimatisierten, die träge abwinken, oder die sich allenfalls nur dann noch empören, wenn jemand es wagt, “Aua” zu schreien oder auch nur die Stirn zu runzeln. Auch die Hölle kann mit einiger Gewöhnung zum Badeort werden. Die Filme von Ulrich Seidl erinnern mich daran, daß wir es nicht dazu kommen lassen dürfen, und auf ihre Weise tragen auch sie den Keim der Revolte und der Empörung gegen das Leben “im Falschen” und in der Lüge mit sich.