Hand in der Flamme einer Fackel verbrennen ließ, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren. Porsenna brach daraufhin die Belagerung Roms ab. Davide Longos Hauptperson Leonardo befreit sich indes mit vier Hieben: Mit dem ersten hackt er sich den Daumen ab, mit dem zweiten Zeige- und Mittelfinger, mit dem dritten und vierten die restlichen Finger und die verstümmelte Hand.
Erst nach diesem vierten Hieb, beim Anblick solcher Härte gegen sich selbst, fällt der Peiniger Leonardos in Ohnmacht – der grausame, charismatische, rücksichtslose, selbsternannte Anführer einer marodierender Horde Halbwüchsiger, denen er Beute, Drogen und Sex verspricht, solange sie in seiner Karawane mitziehen.
Wie hat es so weit kommen können, daß sich Leonardo – der Intellektuelle, der erfolgreiche Schriftsteller, der Kopf- und Büchermensch – eine Hand abhacken muß, um sich, seine vergewaltigte Tochter und ein paar andere aus diesem Alptraum zu befreien? „Alles, was er bis zu diesem Zeitpunkt gedacht, getan, geschrieben und geliebt hatte, bedeutete ihm nichts mehr angesichts dieses klaren Wunsches, den Tod zu geben.“ – Was hatte geschehen müssen, um in einem uneingeschränkt zivilisierten Mann einen solchen Paradigmenwechsel zu bewirken? Was brachte ihn schließlich zu der Erkenntnis, daß all die Bücher, die er gelesen, gesammelt hatte, verantwortlich seien „für das, was ich bin: ein unzulänglicher Mann“?
Der 1971 geborene Italiener Davide Longo beantwortet solche Fragen nach der Wandlung seiner Hauptfigur nicht objektiv oder grundsätzlich, sondern dadurch, daß er die Handlung ins Äußerste treibt. Die Lage, in der Leonardo als hilflos Leidender letztlich in den Vorhof der Hölle gerissen wird, bleibt unübersichtlich: ungenau, so oder anders deutbar sind die Zeichen, abgeschnitten vom Informationsstrom, mit eingeschränktem Sichtfeld muß sich Leonardo verhalten.
Wir erfahren nicht, was es genau mit dem allgemeinen, rasanten Verfall der staatlichen Ordnung auf sich hat und welche Ursachen dahinterstecken. Wir erfahren, daß es Italien ist, das in eine irreparable, chaotische, anarchistische Krise taumelt, lesen vom Zusammenbruch des Rechtsstaats und seiner Institutionen, von der Reduzierung des Lebens auf Nahrungsbeschaffung, lesen von Selbstschutz und Bewaffnung, von Substrukturen und von der Angst, den Zeitpunkt für den Gang außer Landes zu verpassen. Die Banken zahlen das Ersparte nur noch in Häppchen aus, dann gar nicht mehr.
Auf der Landstraße unterhalb des Dorfes kriecht eine Autokolonne Richtung Grenze, aber wer nachfragt, erfährt nur Indifferentes über die Motivlage der Reisenden: Ist das eine Massenflucht oder doch nur übertriebene Vorsicht, über die man lachen wird, wenn in ein paar Wochen dieselben Autos den Weg zurück nehmen?
Leonardo macht, was ein Kopfmensch machen kann, wenn er vorübergehend nicht gebraucht wird: Er liest, schreibt, verbraucht seine Vorräte und kann sich – trotz aller Phantasie, die in seinen Romanen steckt – nichts anderes vorstellen, als daß dieser Zustand sich von einem Tag auf den anderen in Luft auflösen und die alte Ordnung wieder einkehren werde, jene Ordnung, in der er nicht den schlechtesten Platz einzunehmen gewohnt war. Danach sehnt sich Leonardo wohl zurück, und doch ahnt er, daß es damit vorbei sei:
Eine neue Zeit begann, eine nackte Zeit, die Dauer verhieß und deren Schlüsselbegriff “ohne” sein würde, wie der der vorangegangenen Epoche “mit” gewesen war.
Hat Leonardo seine Tochter auf diese neue Zeit vorbereitet? Ist er selbst vorbereitet? Zweimal nein, zwei Mal zu viel Skrupel, Selbsthinterfragung, bürgerliche Welt und allgemeiner Schuldkomplex.
Wer sich ein bißchen auskennt in der dystopischen Literatur, den schwarzen Zukunftsbeschreibungen, wird während der Lektüre überdeutliche Parallelen zu J. M. Coetzees Roman Schande feststellen können. Hier wie dort ist die Hauptperson Literaturprofessor, pflegte ein Verhältnis zu einer Studentin und trägt dadurch Verantwortung für den Verfall der Ordnung und Glaubwürdigkeit, wird Opfer brutaler Verbrecher und hat eine Tochter, die zur Beute der neuen Herren wird. Bei Coetzee akzeptiert diese Tochter zuletzt die neuen Machtverhältnisse im Südafrika der Nach-Apartheid und sucht Schutz im Clan des Mannes, zu dessen Familie auch einer der Vergewaltiger gehört – ein eiskaltes, für Anhänger des Rechtsstaats und einer stolzen Lebensführung inakzeptables Ende.
Davide Longo indes versaut seinen bis dahin großen Roman, indem er ihn nicht dort enden läßt, wo er zu Ende hätte sein sollen: nach dem vierten, dem entscheidenden Hieb mit der Axt durch das Handgelenk. Stattdessen mündet die Handlung in erbärmlichen Kitsch, der uns den verstümmelten Leonardo als Geschichtenerzähler an einer Art „Küste der guten Menschen“ präsentiert. Selbst in der Schilderung dieses doofen Endes gelingen Longo große Bildern: Allein schon die Geschichte von der Hunde-Insel, auf der sich die einander ausgelieferten Köter niederbeißen, ist die Lektüre des Buches wert.
Aber bei derlei Paukenschlägen bleibt es leider nicht, denn nun setzen die Streicher ein: Die Tochter kommt nieder, der Schrebergarten ist angelegt, das Leben geht weiter. Schade.
(Davide Longo: Der aufrechte Mann, Rowohlt: Reinbek 2012. Roman, 478 S., 24.95 €)