Dritte Wege

pdf der Druckfassung aus Sezession 20/Oktober 2007

sez_nr_201von Karlheinz Weißmann

Alain de Benoist, der Kopf der französischen „Neuen Rechten", hat unlängst zwei Bücher herausgegeben und mit ausführlichen, sehr kenntnisreichen Einleitungen versehen. Das eine umfaßt alle Nummern der Cahiers du Cercle Proudhon, einer nur 1912 / 13 erschienenen Zeitschrift, die für ein ganz unwahrscheinliches intellektuelles Experiment stand: Die Cahiers wurden von Anhängern der äußersten Rechten und der äußersten Linken gemeinsam gestaltet.

Wäh­rend die einen aus dem Umfeld der Action Fran­çai­se (AF) kamen, der von Charles Maur­ras geführ­ten Orga­ni­sa­ti­on, die nicht nur für die Rück­kehr zum König­tum, son­dern mehr noch für einen „Inte­gra­len Natio­na­lis­mus” stand, gehör­ten die ande­ren zur Anhän­ger­schaft Geor­ges Sor­els, Syn­di­ka­lis­ten, radi­ka­le Sozia­lis­ten also, die mit einem „Gene­ral­streik”, den die Gewerk­schaf­ten – die syn­di­cats – zu tra­gen gehabt hät­ten, die gesam­te Gesell­schafts­ord­nung umstür­zen wollten.

Daß die Radi­ka­len bei­der Sei­ten in die­ser letz­ten Pha­se der Vor­kriegs­zeit zusam­men­fan­den, hat­te mit der Nie­der­la­ge der Rech­ten in der Drey­fus-Affä­re einer­seits, mit der Ent­täu­schung der revo­lu­tio­nä­ren Lin­ken über die Sozi­al­de­mo­kra­ti­sie­rung der gemä­ßig­ten ande­rer­seits zu tun, vor allem aber mit der Kon­ver­genz in der Feind­be­stim­mung. Für Maur­ras wie für Sor­el war, ohne den Welt­an­schau­ungs­un­ter­schied zu bestrei­ten, der Bür­ger und des­sen poli­ti­sches Sys­tem, der Par­la­men­ta­ris­mus, der eigent­li­che Geg­ner. Die Ableh­nung der bür­ger­li­chen Wirt­schafts­ord­nung, des Kapi­ta­lis­mus, war bei Maur­ras nicht ganz so inten­siv, aber sei­ne Ideen zum kor­po­ra­ti­ven Wie­der­auf­bau hat­ten auch nichts mit Libe­ra­lis­mus zu tun. Er gewähr­te sogar einem sei­ner Unter­füh­rer in der AF freie Hand, der wei­ter­ge­hen­de Ideen ver­trat und auf Grund sei­nes Her­kom­mens mit sozia­lis­ti­schen Gedan­ken­gän­gen bes­tens ver­traut war.
Geor­ges Valo­is (eigent­lich: Alfred-Geor­ges Gres­sent) stamm­te aus dem Pro­le­ta­ri­at und hat­te sich die längs­te Zeit dem sozia­lis­ti­schen La ger zuge­rech­net. Aller­dings gehör­te er zu jenem Flü­gel der fran­zö­si­schen Lin­ken, der eine dezi­diert natio­na­le und wehr­haf­te Pro­gram­ma­tik ver­trat und jeden­falls die zuneh­mend pazi­fis­ti­sche und anti­pa­trio­ti­sche Ten­denz ablehn­te. Wei­ter hat sein Katho­li­zis­mus und die Über­zeu­gung, daß eine Lösung der sozia­len Fra­ge nur auf auto­ri­tä­rem Wege mög­lich sei, dazu bei­getra­gen, daß sich Valo­is zuletzt der geg­ne­ri­schen Sei­te anschloß und von Maur­ras als einer der weni­gen Ver­tre­ter der Arbei­ter­klas­se in der Action damit beauf­tragt wur­de, eine Ver­bin­dung mit dis­si­den­ten Tei­len der Lin­ken zu suchen. Hilf­reich konn­te dabei sein, daß in der Ideo­lo­gie der Neo­roya­lis­ten die Vor­stel­lung des Aus­gleichs zwi­schen den „Pro­du­zen­ten” – denen man auch die Arbei­ter­schaft zurech­ne­te – durch einen über den Par­tei­en ste­hen­den König eine wich­ti­ge Rol­le spielte.

Was die­sen Pater­na­lis­mus für die Lin­ke inak­zep­ta­bel mach­te, war das Feh­len jeder akti­ven Mit­be­stim­mung. Anders als Maur­ras dach­te Valo­is des­halb an die Schaf­fung eines Räte­sys­tems, das die Selbst­ver­wal­tung des Arbeiter-„Standes” gewähr­leis­ten soll­te. Damit hat­te er sich rela­tiv weit vom pro­gram­ma­ti­schen Kern der AF ent­fernt, aber den Ideen genä­hert, die im Umfeld Sor­els ent­wi­ckelt wur­den. Das war für Edouard Berth, den Ver­trau­ens­mann des „maît­re” im Her­aus­ge­ber­kreis der Cahiers, ein aus­schlag­ge­ben­der Grund, sich an dem Pro­jekt über­haupt zu betei­li­gen. Vor­be­hal­te blie­ben aller­dings. Berth und Sor­el sahen zwar, daß die Natio­na­lis­ten der Vor­stel­lung von der Macht des „Mythos” offe­ner gegen­über­stan­den als die Sozia­lis­ten, aber sie bezwei­fel­ten, daß die Rech­te jene Dyna­mik ent­fal­ten konn­te, die nötig sein wür­de, um die Epo­che der Deka­denz durch einen gro­ßen Gewalt­akt abzu­schlie­ßen. Im Lau­fe der Zeit wuchs auch die Skep­sis in bezug auf die Zuver­läs­sig­keit des unglei­chen Ver­bün­de­ten, was erklärt, war­um Berth nach rela­tiv kur­zer Zeit – es erschie­nen nur sechs Aus­ga­ben – das Expe­ri­ment der Cahiers abbrach.
Nach Auf­fas­sung von de Benoist sind die Cahiers denn auch kein Bei­spiel für den „Drit­ten Weg”, eher eine Art Vor­läu­fer, des­sen Schei­tern man als sym­pto­ma­tisch betrach­ten muß. Sei­ner Mei­nung nach hat über­haupt erst die Wahr­neh­mung Sor­els und Berths, daß die Rech­te in wesent­li­chen Punk­ten eine Annä­he­rung ver­wei­ger­te, zu einer Klä­rung der Posi­ti­on des „Drit­ten Weges” geführt. Die wur­de in Berths 1914 erschie­ne­nem Buch Les Méfaits des Intellec­tuels deut­li­cher erkenn­bar, das in Fort­set­zung der Argu­men­ta­ti­on Sor­els die Auf­fas­sung ver­trat, daß kei­ne „Reak­ti­on” mög­lich sei, die rück­gän­gig mache, was mit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on in die Welt trat, womit die klas­si­sche Rech­te bes­ten­falls als Ver­zö­ge­rer, aber nicht als schöp­fe­ri­scher Gestal­ter auf­tre­ten kön­ne; wich­ti­ger als die­se Fest­stel­lung sei aber die Ein­sicht, daß die „Phi­lo­so­phen”, die vom Ratio­na­lis­mus des 18. Jahr­hun­derts geprägt, die Welt­an­schau­ung der Lin­ken bestimm­ten, in allen ent­schei­den­den Punk­ten Irr­tü­mern auf­ge­ses­sen waren, und die­se jetzt so genann­ten Intel­lek­tu­el­len für alle gro­ßen geis­ti­gen Fehl­ent­wick­lun­gen Ver­ant­wor­tung trugen:

1. Die Durch­set­zung des Mate­ria­lis­mus, vor allem im Gefol­ge der mar­xis­ti­schen Theorie,
2. die damit ver­bun­de­ne Über­schät­zung des Öko­no­mi­schen, die dazu führ­te, daß die Welt­an­schau­ung der Lin­ken der des Bür­ger­tums in ihrer „plu­to­kra­ti­schen” Fixie­rung spie­gel­bild­lich entsprach,
3. die demo­ra­li­sie­ren­de Wir­kung des Eudä­mo­nis­mus mit sei­ner Pfle­ge des indi­vi­du­el­len Wohl­le­bens und sei­ner Unfä­hig­keit, eine poli­ti­sche Ord­nung zu stiften.

Nur die Kor­rek­tur die­ser „Fre­vel­ta­ten”, so die Auf­fas­sung Berths, eröff­ne­te einen Weg aus der Deka­denz, hin zu einer neu­en, „tra­gi­schen Kul­tur”. De Benoist hat des­halb in der Ein­lei­tung zur Neu­aus­ga­be der Méfaits geäu­ßert, daß Berth eine weit­ge­hend geschlos­se­ne Welt­an­schau­ung des „Drit­ten Weges” ent­wor­fen habe, ein Kon­zept, das gleich­weit von den Ideo­lo­gien des Libe­ra­lis­mus wie der kon­ven­tio­nel­len Lin­ken ent­fernt war. Aller­dings wird man fest­stel­len müs­sen, daß es das, was hier für Frank­reich sicht­bar gemacht wird, in ande­ren euro­päi­schen Län­dern der Vor­kriegs­zeit ähn­lich gege­ben hat: genannt sei­en die kon­ser­va­ti­ven Staats­und die libe­ra­len Natio­nal-Sozia­lis­ten in Deutsch­land, die Fabier und die Sozi­al­im­pe­ria­lis­ten in Groß­bri­tan­ni­en oder die Ver­fech­ter eines pro­le­ta­ri­schen Natio­na­lis­mus in Italien.
Kei­ne die­ser Strö­mun­gen hat sich durch­set­zen kön­nen, aber ihre ideo­lo­gi­schen Impul­se konn­ten auch nicht abge­drängt wer­den. Sie erleb­ten durch den Ers­ten Welt­krieg sogar eine Ver­stär­kung. Das erklärt auch etwas von ihrer blei­ben­den Anzie­hungs­kraft unter den Bedin­gun­gen des Welt­bür­ger­kriegs, der jede drit­te Posi­ti­on einem unge­heu­ren Druck von zwei ande­ren aus­setz­te, die für den Wes­ten hier, für den Osten dort einen glo­ba­len Füh­rungs­an­spruch erho­ben. Die kri­sen­haf­te Ent­wick­lung der zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­re führ­te jeden­falls nicht nur zu einer mas­si­ven Pola­ri­sie­rung, son­dern auch zu einer beson­de­ren Kon­junk­tur für „lin­ke Leu­te von rechts” oder „rech­te Leu­te von links”.
Das gilt ins­be­son­de­re für eine Bewe­gung, die man nicht unmit­tel­bar in die­sen Zusam­men­hang ein­ord­net: „Die Ideo­lo­gie des Faschis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus kann auch ver­stan­den wer­den als ein Aus­druck des euro­päi­schen Selbst­be­wußt­seins zwi­schen den Krie­gen – der drit­te Weg zwi­schen der libe­ra­len Demo­kra­tie des Kapi­ta­lis­mus und der kom­mu­nis­ti­schen Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats … Die Kraft die­ser drit­ten Posi­ti­on, ihre poli­ti­sche Viru­lenz, bezog sie aus dem alten Kon­ti­nent, der sich tau­send Jah­re als Mit­te der Geschich­te ver­stan­den hat­te und nicht kampf­los das Feld räu­men moch­te.” Die Sät­ze stam­men von Johan­nes Groß und wur­den in einer viel freie­ren geis­ti­gen Atmo­sphä­re – zu Beginn der acht­zi­ger Jah­re – geschrie­ben, als man sie wie jeden ande­ren Denk­an­stoß lesen konn­te, nicht unter dem Gesichts­punkt des Ver­dachts. Denn die For­mu­lie­rung dien­te auch dazu, eine gewis­se Legi­ti­mi­tät des faschis­ti­schen Ansat­zes zu behaup­ten, ein Akt des his­to­ri­schen Ver­ste­hens, der kur­ze Zeit spä­ter Ernst Nol­te zum Ver­häng­nis wer­den soll­te. Bei Nol­te spielt der „Drit­te Weg” als Inter­pre­ta­ment übri­gens nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le, da er in ers­ter Linie vom Dua­lis­mus Bol­sche­wis­mus-Faschis­mus aus­geht, aber es gibt eine ande­re ein­fluß­rei­che Deu­tung der Ideo­lo­gie­ge­schich­te die­ser Zeit, die die ent­spre­chen­de Vor­stel­lung ganz in den Mit­tel­punkt rückt.

Der israe­li­sche His­to­ri­ker Zeev Stern­hell hat in meh­re­ren grund­le­gen­den Arbei­ten die Auf­fas­sung ver­tre­ten, daß der euro­päi­sche Faschis­mus pri­mär aus dem Bedürf­nis frus­trier­ter Sozia­lis­ten ent­stand, einer­seits die Radi­ka­li­tät der Lin­ken wie­der­zu­ge­win­nen, ande­rer­seits die bol­sche­wis­ti­sche Des­po­tie zu ver­mei­den. Von Mus­so­li­ni über Déat und Dori­ot bis zu de Man oder Mos­ley las­sen sich vie­le bio­gra­phi­sche Bei­spie­le für die­se The­se fin­den, die man unschwer um Hin­wei­se auf die beson­de­re ideo­lo­gi­sche Struk­tur der Faschis­men – die immer natio­na­lis­ti­sche, also rech­te, und sozia­lis­ti­sche, also lin­ke, Ele­men­te ver­klam­mer­ten – ergän­zen könn­te. Ent­schei­dend ist dabei aus Sicht Stern­hells, daß die Idee eines „Drit­ten Weges”, jen­seits der alten ideo­lo­gi­schen Schei­de­li­ni­en und jen­seits der alten Klas­sen­ge­gen­sät­ze, das „wah­re Geheim­nis” der intel­lek­tu­el­len Anzie­hungs­kraft des Faschis­mus ent­hal­te, weil sie mit der Ver­hei­ßung einer „neu­en Kul­tur” ver­knüpft war.
Wenn de Benoist die­ser Argu­men­ta­ti­on nicht zu fol­gen bereit ist, hat das sei­nen Haupt­grund in der Igno­ranz Stern­hells gegen­über dem Dis­pa­ra­ten der Ent­wick­lung. Hier kommt vor allem dem Hin­weis Gewicht zu, daß kei­ner der Haupt­be­tei­lig­ten des Expe­ri­ments von 1912 / 13 den Weg in den Faschis­mus gegan­gen ist: weder Maur­ras noch Sor­el, der eine nahm zwar Par­tei für das auto­ri­tä­re Vichy, blieb aber ohne Sym­pa­thie für die ideo­lo­gi­sche Kol­la­bo­ra­ti­on, der ande­re froh­lock­te zwar über Mus­so­li­ni, der end­lich „kein Sozia­list in bür­ger­li­cher Sau­ce” war, stand aber schon der Ent­ste­hung der „Kampf­bün­de” vor­sich­tig abwar­tend gegen­über, und Berth ver­focht das Volks­front-Pro­jekt lan­ge bevor es – um ent­schei­den­de Aspek­te beschnit­ten – rea­li­siert wer­den konn­te. Bleibt nur der Fall des Geor­ges Valo­is, der sich nach dem Ende des Ers­ten Welt­kriegs von Maur­ras los­sag­te und 1925 den Fais­ceau – die ers­te faschis­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on auf fran­zö­si­schem Boden – grün­de­te. Aller­dings gewann sie nie­mals irgend­wel­che Bedeu­tung, und, was wich­ti­ger ist, Valo­is begriff rasch sei­nen Irr­tum, schwor dem Faschis­mus ab und kehr­te zu sei­nen Wur­zeln zurück. Seit dem Ende der zwan­zi­ger Jah­re sam­mel­te er Anhän­ger um eine liber­tä­re Zeit­schrift und such­te 1935 den Wie­der­an­schluß an die sozia­lis­ti­sche Par­tei, der ihm aber ver­wei­gert wur­de; unmit­tel­bar nach der Beset­zung Frank­reichs durch die Wehr­macht ging er in die Résis­tance; 1944 fest­ge­nom­men, starb er kurz vor Kriegs­en­de an den Fol­gen der Haft im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Bergen-Belsen.
Wenn der Begriff „Drit­ter Weg” den Ver­such bezeich­net, die Feh­ler zwei­er Extre­me zu ver­mei­den, so wird man die­se Leis­tung dem Faschis­mus nicht zubil­li­gen kön­nen. Für sei­ne Anhän­ger spiel­te die not­wen­di­ge Syn­the­se, die alle authen­ti­schen Kon­zep­te eines „Drit­ten Weges” immer ange­strebt haben, eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Inso­fern kommt für eine ent­spre­chen­de Zuschrei­bung in der Zwi­schen­kriegs­zeit weni­ger der Faschis­mus in Fra­ge, eher wird man der Kate­go­rie Bewe­gun­gen wie den stark katho­lisch gepräg­ten Per­so­na­lis­mus oder die „Non­kon­for­mis­ten” in Frank­reich zuord­nen kön­nen, die jung­kon­ser­va­ti­ven und natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­ren Ideo­lo­gien, die nicht nur in Deutsch­land, son­dern auch in der Schweiz, in Skan­di­na­vi­en und in Groß­bri­tan­ni­en Anhän­ger besa­ßen, die „Jun­ge Rech­te” der Sozi­al­de­mo­kra­tie oder die „Pla­nis­ten”, die Soli­da­ri­er oder die „Eura­si­er” der rus­si­schen Emi­gra­ti­on, die sich nicht vor­be­halt­los den „Wei­ßen” oder den alten Par­tei­en anschlie­ßen woll­ten. In Deutsch­land, nicht nur der geo­gra­phi­schen, son­dern auch der geis­ti­gen Mit­te Euro­pas, das immer eine rei­che Tra­di­ti­on besaß, aus der sich alle mög­li­chen „Drit­ten Wege” speis­ten, gab es damals eine beson­de­re Kon­junk­tur pas­sen­der Schlüs­sel­for­meln, vom „Drit­ten Reich” und dem „Drit­ten Stand­punkt” bis zur „Drit­ten Par­tei” oder der „Drit­ten Front”.

Was alle Grup­pie­run­gen die­ses Lagers ver­band, war nicht nur die Ent­schlos­sen­heit, die Beschrän­kung der Wahl­mög­lich­kei­ten auf „Lenin oder Wil­son” zu ver­wei­gern, son­dern auch eine beson­de­re Sen­si­bi­li­tät für die Defek­te der Moder­ne, die Sor­ge ange­sichts des Tra­di­ti­ons­ab­bruchs, bei gleich­zei­ti­ger Skep­sis gegen­über dem Bür­ger­tum, das nicht in der Lage war, im Wort­sinn „bewah­rend” auf­zu­tre­ten. Daher die fort­ge­setz­te Kri­tik der Plu­to­kra­tie, die in ihrer Schär­fe aber regel­mä­ßig über­trof­fen wur­de von der Ableh­nung des Kom­mu­nis­mus, und die Suche nach einer alter­na­ti­ven Ord­nung, die nicht nur sozi­al befrie­dend wir­ken, son­dern auch in der Lage sein wür­de, die gesell­schaft­li­che Ato­mi­sie­rung auf­zu­hal­ten und dau­ern­de Sta­bi­li­tät zu bewirken.
Ihre Anzie­hungs­kraft gewan­nen sol­che Kon­zep­te aus dem Sowohl-als-auch, dem Ver­such, die Gegen­sät­ze zu ver­schmel­zen und eine Ganz­heit zu bil­den, die den älte­ren dadurch über­le­gen sein wür­de, daß sie deren Ein­sei­tig­kei­ten ver­mied. Ihre Schwä­che lag in der Nei­gung zum Weder-Noch, der Unent­schie­den­heit, wenn es zum Ent­we­der-Oder kam. Das war beson­ders miß­lich ange­sichts der Tat­sa­che, daß es kei­nem Kon­zept des „Drit­ten Weges” in der Zwi­schen­kriegs­zeit gelang, jene Mas­sen­ba­sis zu gewin­nen, der eine moder­ne Welt­an­schau­ung bedarf, um sich durchzusetzen.
Das Dilem­ma wur­de nach 1945 noch deut­li­cher erkenn­bar, vor allem da, wo es wie im geteil­ten Deutsch­land Zwän­ge gab, die den Rück­griff auf ein alter­na­ti­ves Modell beson­ders nahe­leg­ten, wäh­rend man es ande­rer­seits mit Macht­ver­hält­nis­sen zu tun bekam, die eine der­ar­ti­ge Opti­on aus­schlos­sen. Wenn also Ernst Jün­ger im Früh­jahr 1946 an Ernst Nie­kisch, das eine an das ande­re Schul­haupt der Natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re des Zwi­schen­kriegs, schrieb: „Ich sehe Euro­pa (…) als die drit­te Macht, und damit als den ein­zi­gen Fak­tor, der die sich ver­schär­fen­den Gegen­sät­ze zwi­schen dem Osten und dem Wes­ten, (…) zu neu­tra­li­sie­ren imstan­de ist”, dann lag in die­ser Ein­schät­zung vor allem eine Über­schät­zung eige­ner Hand­lungs­mög­lich­kei­ten. Das­sel­be ist auch von den Neu­tra­lis­ten zu sagen, die bis in die acht­zi­ger Jah­re mit der „Brücken”-Funktion Deutsch­land argu­men­tier­ten, die nicht nur geo­po­li­tisch, son­dern regel­mä­ßig auch welt­an­schau­lich auf­ge­faßt wur­de. Unter Rück­griff auf älte­re For­men des natio­na­len Son­der­be­wußt­seins haben die Anhän­ger des Christ­de­mo­kra­ten Jakob Kai­ser genau­so wie die lin­ken „Gesamt­deut­schen” um Gus­tav Hei­ne­mann, der libe­ra­le Kreis um Ulrich Noack genau­so wie die Natio­na­lis­ten um Ber­nard Will­ms, ver­sucht, einer Argu­men­ta­ti­on Gehör zu ver­schaf­fen, die den Vor­mäch­ten der Blö­cke die Wie­der­ver­ei­ni­gung als wün­schens­wert prä­sen­tier­te, indem sie auf die Mitt­ler­stel­lung Deutsch­lands- zwi­schen Ost und West, zwi­schen Kol­lek­ti­vis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus, zwi­schen Zwangs­wirt­schaft und Markt­wirt­schaft – hin­wie­sen, die dem Aus­gleich der Sys­te­me die­nen sollte.

Der Begriff „Drit­ter Weg” wur­de dabei in ers­ter Linie außen­po­li­tisch ver­stan­den, die innen­po­li­ti­schen Kon­zep­te der Befür­wor­ter wichen kaum oder nur pha­sen­wei­se (etwa im Fal­le von Kai­sers „christ­li­chem Sozia­lis­mus” der vier­zi­ger Jah­re) gegen­über west­li­chen Vor­ga­ben ab. Einen ganz­heit­li­chen Ansatz wähl­ten nur noch Außen­sei­ter wie etwa Otto Stras­ser, der nach sei­ner Rück­kehr aus dem kana­di­schen Exil allen Erns­tes dar­an dach­te, die „Drit­te Front”, die er 1930 mit abtrün­ni­gen Natio­nal­so­zia­lis­ten gegrün­det hat­te, wie­der auf­le­ben zu las­sen. Stras­ser befür­wor­te­te nicht nur die Neu­tra­li­sie­rung eines wie­der­ver­ei­nig­ten Deutsch­lands, das Teil eines neu­tra­len Staa­ten­gür­tels in Mit­tel­eu­ro­pa sein soll­te, son­dern auch eine Art von stän­de­staat­li­chem Sozia­lis­mus, der an Wirt­schafts­re­form­ideen der Wei­ma­rer Zeit anknüpf­te. Obwohl dem in den fünf­zi­ger Jah­ren ein nicht uner­heb­li­ches media­les Inter­es­se ent­ge­gen­ge­bracht wur­de, gelang es Stras­ser nie, eine nen­nens­wer­te Anhän­ger­schaft zu sam­meln. Das Schick­sal teil­te er mit ande­ren, eher sek­tie­re­ri­schen Grup­pie­run­gen, die einen direk­ten Rück­griff auf Poli­tik­mo­del­le der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on versuchten.
Seit den sech­zi­ger Jah­ren schien die Idee eines „Drit­ten Weges” wenn über­haupt, dann nur noch von Links her auf­greif­bar zu sein. Infol­ge der Ent­täu­schung vie­ler Intel­lek­tu­el­ler durch den Kom­mu­nis­mus und die Hoff­nun­gen, die der „Pra­ger Früh­ling” – das kurz­le­bi­ge Pro­jekt eines Reform­so­zia­lis­mus in der CSSR – geweckt hat­te, bil­de­ten sich zahl­rei­che Grup­pen, die noch ein­mal ver­su­chen woll­ten, eine Ver­schmel­zung zwi­schen sozia­lis­ti­scher Wirt­schafts­form und Demo­kra­tie zu rea­li­sie­ren. Es spiel­ten dabei ganz all­ge­mein die uto­pi­schen Sehn­süch­te der Zeit eine Rol­le, auch angeb­li­che „Sozia­lis­men mit mensch­li­chem Ant­litz” in der Drit­ten Welt (Kuba, Tan­sa­nia, zuletzt noch das san­di­nis­ti­sche Nica­ra­gua) und schließ­lich die Suche nach neu­en authen­ti­schen Lebens­for­men in Land­kom­mu­nen und öko­lo­gi­scher Wirtschaft.

In vie­ler Hin­sicht kann man die Par­tei der Grü­nen als erfolg­reichs­ten Ver­such anse­hen, aus die­sen Ansät­zen eine poli­ti­sche Kraft zu bil­den. In ihrer For­mie­rungs­pha­se ver­ein­te sie nicht nur per­so­nell lin­ke und bür­ger­li­che – durch die Hei­mat- und Natur­schutz­be­we­gung bestimm­te – Kräf­te, son­dern ver­lang­te auch pro­gram­ma­tisch eine basis­de­mo­kra­ti­sche und genos­sen­schaft­lich-sozia­lis­ti­sche Umge­stal­tung der Gesell­schaft. Außen­po­li­tisch for­der­te man NATO-Aus­tritt und sym­pa­thi­sier­te mit einer Neu­tra­li­sie­rung der Bun­des­re­pu­blik, nicht nur aus pazi­fis­ti­schen Erwä­gun­gen, son­dern auch, weil eini­ge die Wie­der­ver­ei­ni­gung so für denk­bar hiel­ten. Daß die­se „Bewe­gung”, die ein­mal „weder rechts noch links” sein woll­te, dann auf dem „Drit­ten Weg” ins Stol­pern geriet, hat­te Grün­de, die hier nicht zu erör­tern sind. Sie waren teil­wei­se mit­ver­ur­sacht von den gro­ßen Umwäl­zun­gen nach 1989, die ein Welt­bür­ger­kriegs­la­ger erle­dig­ten und dem ande­ren den End­sieg zu sichern schienen.
Daß die Pro­gno­se einer alter­na­tiv­lo­sen Ver­west­li­chung nicht unwi­der­spro­chen blei­ben wür­de, war aller­dings abseh­bar. Dabei kann man die natio­na­lis­ti­schen Grup­pen in Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en und Ita­li­en, die die Allein­ver­tre­tung des „Drit­ten Weges” für sich bean­spruch­ten, wegen ihrer Bedeu­tungs­lo­sig­keit bei­sei­te las­sen und die Ver­su­che von Tony Blair und Ger­hard Schrö­der – mit Antho­ny Gid­dens als phi­lo­so­phi­schem Eides­hel­fer -, den Begriff des „Drit­ten Weges” für eine neo­li­be­ral gewen­de­te Sozi­al­de­mo­kra­tie zu beset­zen, ruhig als Roß­täu­sche­rei betrach­ten. Inter­es­san­ter sind alle­mal jene Bewe­gun­gen, die seit der Ent­ste­hung des Kom­mu­ni­ta­ris­mus den Ver­such unter­nom­men haben, die Grund­la­gen gemein­schaft­li­cher Exis­tenz neu zu durch­den­ken und die beson­de­ren Gefähr­dun­gen in den Blick zu neh­men, die eben nicht nur der Tota­li­ta­ris­mus, son­dern auch die Kon­sum­ge­sell­schaft ame­ri­ka­ni­schen Mus­ters für eine men­schen­wür­di­ge Exis­tenz bedeuten.
Als eine Vari­an­te die­ses Kom­mu­ni­ta­ris­mus erscheint je län­ger je mehr auch das Kon­zept, das Alain de Benoist ver­tritt. Den Titel sei­ner Zeit­schrift Nou­vel­le Éco­le – „Neue Schu­le” als sym­bo­li­sche Ver­beu­gung vor Sor­el, der eben das: die Grün­dung einer neu­en Denk­schu­le, gefor­dert hat­te – mag man als Äußer­lich­keit abtun, wich­ti­ger erscheint in jedem Fall, daß hier über­haupt alter­na­ti­ve gesell­schaft­li­che Kon­zep­te durch­dacht wer­den. Das führt zu pro­duk­ti­ver geis­ti­ger Unru­he – immer das bes­te an allen „Drit­ten Wegen” -, deren Ergeb­nis­sen man viel­leicht mit Skep­sis gegen­über­steht, die aber not­wen­dig ist, um so not­wen­di­ger in einer Zeit, in der uns von allen Sei­ten weis­ge­macht wird, es gehe so und nur so und nicht anders.

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