eine Schule in freier Trägerschaft anzumelden, die sich den Idealen der bündischen Jugend verpflichtet sieht? Vor Jahren schlug ein junger Mann aus dem Freibund genau das vor. Ich versuchte damals, hier anzusetzen, aber mir fehlten schließlich die Mittel, die Lobby, die Mitstreiter. Es blieb beim Konjunktiv irrealis:
Wenn wir eine Schule gründeten, die zum einen die brachliegende Traditionslinie von Hermann Lietz und Gustav Wyneken aufnimmt, zum anderen mit den verlogenen Euphemismen und Nonsensbegriffen vermeintlich moderner Pädagogik offensiv bricht, um Jugend wieder an den Inhalten selbst zu motivieren – mit Lust an Tiefgründigkeit und der Inspiration eigenen selbsttragenden Interesses. Neue Wachheit, neue Empfindungsstärke, neue Erregung! Kein Konventionalismus, kein retrospektiver Blick, aber das Bewußtsein ursprünglicher Anliegen, mobilisiert im Sinne von neuer Avantgarde.
Und nicht nur dies: Eine Schule, die überhaupt erst die Fähigkeit zur Haltung und Form ausbildete, im Sport und auf Fahrten Selbsterfahrungen ermöglichte und Selbstüberwindung erleben ließe. Der Jugend fehlt neben vielem anderen vor allem dies: Erlebnis, Bewährung, Verantwortung. – Ja, es gibt die Landerziehungsheime noch, und sie mögen redlicher arbeiten als all die rein unternehmerischen Privatschulen, deren Elite-Begriff sich bei genauer Betrachtung auf die Höhe der finanziellen Aufwendungen durch die Elternhäuser beschränkt. Die LEH-Bewegung firmiert nach allen Wendungen und Skandalen unter neuem Namen und hat sich ihren Ursprungsidealen stark entfremdet.
Wäre ein neuer Impuls denkbar, ähnlich gemeinschaftlich finanziert vielleicht wie die neue Bibliothek des Konservatismus in Berlin? Was sagten Eltern wohl dazu, würde ihnen schon im Informationsgespräch erläutert, daß sich eine solche Schule nicht dazu instrumentalisieren ließe, Karrierepläne zu garantieren, wohl aber ihr Ziel darin erkennt, Stehvermögen, Mut und kritische Urteilskraft auszubilden, auf daß der junge Erwachsene seinen Ort selbst finden werde, von dem aus er engagiert handeln kann, ohne sich zu verbiegen und durchaus zugunsten der Allgemeinheit? Mit einer inneren Stärke, die ihn selbst widrige gesellschaftliche Umstände bestehen ließe, und mit der Courage, für deren Veränderung einzutreten?
Weiter im Konjunktiv: Gäbe es eine Klientel, die es vertrüge, daß Bewertungen und Noten entgegen der landläufigen Inflationierung wieder realistisch erfolgten und die „Schnitte“ daher bisweilen sogar schlechter ausfielen als an den staatlichen Durchreiche- und privaten Dienstleistungsgymnasien, dafür aber zu erwarten wäre, daß jemand aus dieser Schule mit einer Drei tatsächlich garantiert befriedigende und mit einer Vier ausreichende Leistungen brächte und dazu laut differenzierter Beurteilung noch allerlei genauer bestimmbare Stärken und Talente vorwiese, die sich in einer Zensur, einer Ziffer allein, nicht widerspiegeln?
Würde eine Schule akzeptiert, die den üblichen Etikettenschwindel und die Lächelgesichter-Prospekte bewußt vermiede, dafür jedoch ehrliche Vereinbarungen schlösse, eine Schule, der man Bildung im Sinne persönlicher Reife verdanken, an deren Anforderungen man wachsen, aber selbstverständlich auch scheitern könnte, wenn das intellektuelle und charakterlich-mentale Vermögen trotz aller Trainings- und Fördermöglichkeiten nicht ausreichte? Der Gescheiterte ist kein Verworfener; er bedarf lediglich eines anderen, für ihn auskömmlichen Ortes.
Es ginge mit einer solchen Schule um den Versuch einer neuen Verbindlichkeit, die woanders zugunsten der großen Bequemlichkeit des Durchbringens von all und jedem aus politischen Gründen im Akt eines fatalen Selbstbetruges längst aufgegeben wurde. Man stelle sich das vor: neben Mathematik und Naturwissenschaften die deutsche Sprache im Mittelpunkt, weil ihr Beherrschen mehr als alles andere Individualität, Argumentationsvermögen und ein breites Spektrum an Anschauung von Welt, Mensch und Gesellschaft ermöglicht. Dazu ein intern zusammengestellter Kanon an nationaler und Weltliteratur, der nicht starr sein müßte, sondern stets neu revidiert werden könnte.
Ferner ein Umfeld, das Naturerlebnis, Arbeit, Technikerfahrung und den Umgang mit Bedürftigen ermöglicht, Solidarprinzipien folgt, die im besten Sinne den Korpsgeist eines Elitedenkens herausbilden, der sich immer wieder bewußt macht: Ein so hoher Anspruch will stets neu erarbeitet und angestrengt zum Gunsten aller erprobt werden. Wege zeigen, nicht oktroyieren, Nachdenklichkeit entwickeln, nicht manipulieren. Vielleicht eine schlichte Kluft, die mit den Jahren in Benutzung verdient ausbleicht, aber keine Uniformierungen. Widerspruch dulden, und doch: In der Disziplin dort eng führen, wo sie noch nicht vorhanden ist. Was diesbezüglich zählte, wäre – in Korrespondenz – die Fähigkeit zur Selbstdisziplin bei den Schülern und die sich nur in Ergebnis biographischer Arbeit einstellende natürliche Autorität der Lehrenden.
Das Leistungsdenken bezöge sich an einem solchen Ort nicht allein pragmatisch auf künftige Marktfähigkeit, also nicht auf die stromlinienförmige Schülerpersönlichkeit eines künftigen Konsumenten und bequemen Demokraten, sondern würde das angestrebte Absolventenbild im Citoyen und kritischen Geist erkennen, der um sein geschichtliches Herkommen ebenso weiß wie um die Chancen und Gefahren, mit denen die Nation zu rechnen hat. Eine solche Schule vermiede zugunsten qualitativer Hochwertigkeit den Streß der Quantifizierungen, hielte sich aus dem großen kultusministeriellen Ausprobieren der pädagogischen Moden weitgehend heraus und wüßte, daß ohne Muße, Kontemplation und Ausgleichstraining gar nichts festzuhalten ist.
Alle gestellten Anforderungen, alle Inhalte, alle Veranstaltungen wären rigoros auf ihre Relevanz zu prüfen, wobei diese keinesfalls nach dem rein praktischen Wert oder ideologischen Gehorsam – einerlei wem gegenüber – bemessen werden dürfte. Nur ein Marketing: Offenheit, Verteidigung des Ansinnens, bescheidenes Herzeigen des Vollbrachten. Verzicht auf „Präsentation“, Priorität der Tat.
Man stelle sich eine Schule, idealerweise ein Internat, vor, das bewußt Gegenpositionen zu einem Bildungssystem aufruft, dessen Begriffe und Zeichen semantisch längst nicht mehr klar sind. Eine solche Alternative wäre entgegen zu erwartender Reflex-Vorwürfe nicht staatsfeindlich, sie versuchte vielmehr, einen Bildungsauftrag zu erfüllen, dessen Zielstellungen durch ministerielle Rhetorik und müdes bürokratisches Dauerlavieren sowie zauderndes, immer neue Zugeständnisse und Kulturverluste hinnehmendes Improvisieren hinter den Phrasen kaum mehr zu erkennen sind.
Was für ein neuer Alltag: Gemeinsamer Frühsport, um erfrischt zu sein und auf Puls zu kommen, ein Unterricht, der sich permanent seines Anliegens zu vergewissern hat, hohe Anforderungen, getragen aber von einem pädagogischen Ethos, das niemanden zurückläßt, der noch ehrlich willens ist, sich zu überwinden und Kräfte zu mobilisieren, eine Lebendigkeit, die von den individuellen Eigenheiten und dazu benötigten Freiräumen jedes einzelnen bestimmt wird und die aller bedarf. Mut zur Besonderheit, zur Eigenwilligkeit, ja mitunter zur Eigenbrötlerei, aber dennoch die Überzeugung, daß es die gesamte Truppe braucht, um große Aufgaben anzugehen.
Durchaus ein asketischer Zug: Vermeidung von Verschwendung, einfache, aber gesunde Kost, Rituale und Symbole, die für den internen Bereich der billigen Oralität von Konsumismus und Ökonomismus absagen, Pflege vergessener bürgerlicher Tugenden wie der Sparsamkeit gegenüber und der Wertschätzung von Ressourcen, Würdigung der einfachen Arbeiten: Saubermachen, Dienste, Garten, Handwerk. Lebensart statt Lifestyle. Ferner: Fernsehen frühestens ab 19.00 Uhr, nur ausgewählte Sendungen, Internet zwar zeitlich portioniert, innerhalb dieser Phasen aber zur Orientierung und Korrespondenz ausreichend zugänglich, die Bibliothek stets offen, die wichtigsten Tageszeitungen immer ausliegend, Porto zur Pflege der Briefkultur vom Haus gestellt.
In einer solchen Schule wären Projekte keine Inszenierungen hinter Glas, sonderten wendeten sich der Praxis, etwa dem Ökologischen, vor allem dem Ausprobieren in den Künsten zu. Man lebte nicht im Kloster, sondern suchte in der Umgebung, wo zu helfen und dabei zu lernen wäre: Feuerwehr, gemeinnützige Einrichtungen, die unentgeltliche Hilfe bräuchten und schätzten, Rettungsschwimmerausbildung, Teilnahme an Renaturierungen, Arbeit mit Kindern, bastelnd und sportlich, Feste.
Mag sein, das klingt romantisch, aber diese Vorstellungen wären zu verwirklichen und gestaltbar. Das Hohnlachen erstürbe schnell, sähe man die jungen Menschen nicht künstlich animiert und unterhalten, sondern selbsttätig am Werk. Die Eigenständigkeit einer solchen Schule fiele auf, weil Idealismus über lange Jahrzehnte ebenso lächerlich gemacht wurde wie Nationalismus als politisch unmöglich gilt. Mut zum Besonderen, auch zur Abgrenzung: Das eine machen wir, das andere nicht, beides ziemlich prinzipiell. Leitbegriffe wie Liebe und Kampf bräuchten nicht umschrieben, sondern dürften ausgesprochen werden. Diese Schule wäre kein Ort des Subversiven und der heimlichen „Deutschtümelei“; sie stünde mitten im Bestreben des Grundgesetzes, vermutlich fester als all die verzettelten Vorhaben und Kampagnen, die der Bildungsbereich innerhalb der letzten dreißig Jahre durchlitt.
Mag sein, das gerufen wird: Napola! Bestimmt sogar. Das müßte man aushalten. Die Waldorf-Schulen etwa verdanken ihr pädagogisches Konzept Rudolf Steiners Anthroposophie, also einer reinen Esoterik und „Geheimwissenschaft“. Weshalb demonstriert keiner vor deren Toren? Weshalb brüllt keiner: Sekte! Weil sich die Steiner-Schulen einen besonderen Ruf erarbeitet haben und sie eine schulgeschichtliche Bilanz vorlegen, die beweist, wie erfolgreich sie im Sinne echter Menschlichkeit wirkten. Bei allem, was man von Anthroposophie halten mag – und eingedenk dessen, daß es diese Schulen nicht darauf anlegen, zwangsläufig bekennende Anthroposophen zu entlassen, sondern regsame und mit ihren eigenen Begabungen vertraute junge Menschen. Auch dies eines der vielen positiven und bereichernden Ergebnisse der Reformbewegung um 1900.
Kaum je aber waren Reformen so gefordert wie jetzt, hundert Jahre danach, denn das Vaterland dämmert in einem faulen Einvernehmen dahin; es funktioniert, ja, aber es weiß nicht weiter, ideell schon gar nicht. Jedes Angebot, das aus der Lethargie befreite, würde von aufmerksamen Menschen angenommen. Eine Schule, bündisch inspiriert, gehörte sicher dazu.
Weltversteher
Ein wunderbarer Beitrag, der eine der wichtigsten Gegenwartsfragen aufgreift! So mancher wird sich sofort angesprochen fühlen, etwas dafür zu tun. Jedoch: Die meisten von uns werden nach Ausbildung und Biographie an andere Dinge gebunden sein.
Also zwei Herausforderungen: Die Erwachsenen, die diese Schule tragen, nicht nur die Erzieher, sondern auch die vielen im Hintergrund, die unterstützen und bezahlen - was müßten das für Kerle ohne Schwächen sein! So edel mancher Gedanke in unserer Sphäre gelebt wird, so häufig sind Eigensinn und Eitelkeit.
Und dann die staatliche Verwaltung: Die wird ein solches Unternehmen hassen. Und wie sie schon viel harmlosere Schulprojekte verhindert oder im Wachstum gebrochen hat, so täte sie es gewiß auch hier.