In unmittelbarer Nachbarschaft zu Schnellroda – dem Zweihundert-Seelen-Dorf, in dessen Rittergut seit nunmehr bald fünf Jahren unter anderem an der Sezession gebastelt wird – liegt ein noch kleinerer Ort. Er hat keine Kneipe und keinen Kindergarten, keine Feuerwehr und keinen Fußballplatz. Dieser kleine Ort, in dem in zweiunddreißig Gebäuden hundertsechs Leute wohnen, hat im letzten halben Jahr noch einmal drei Häuser und ein halbes Dutzend Einwohner verloren.
Mit den Häusern ging es so: Das erste stand zehn Jahre lang leer. Irgendwann löste ein Sturm ein paar Ziegel, dann das halbe Dach. Niemand besserte den Schaden aus, der Regen durchweichte den Dachboden und die Decke zum Obergeschoß. Und so fiel im Frühjahr die Entscheidung, daß man die Ruine besser abreiße. Es war ein solides Haus, errichtet nach der Jahrhundertwende in der reichen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bagger luden mit dem Schutt auch das Mauerwerk auf die Lastwagen: große Kalk- und Buntsandsteinquader, für die es keine Verwendung mehr gab.
Das zweite Haus war eine Scheune. Auch sie stand leer und hatte ein schadhaftes Dach. Der März-Sturm drückte die Giebelfront ein und ließ das Gebälk auf der ganzen Länge splittern. Bloß um das dritte Haus war es nicht schade: ein häßlicher Flachbau, der ehemalige Konsum, in dem nach der Wende jemand für ein paar Jahre einen Getränkehandel betrieben hatte. Irgendwoher trieb die Gemeinde Geld auf, um mit der Scheune gleich auch diese Bude abräumen zu lassen.
Von den Einwohnern, deren Zahl nicht ausreichte, um aus den drei nun beseitigten Gebäuden etwas zu machen, sind wiederum nur einige von den jungen gegangen. Zwar hat das platte Land seit jeher einen Teil seiner Kinder an die Stadt abgegeben; aber dort, wo es die letzten Kinder sind, hat ein Dorf seinen Tod vor Augen. Die Prognose: Der kleine Ort wird in zwanzig Jahren im großen und ganzen eine Wüstung sein, eine Ansammlung leerer Gebäude. Solches gab es zuletzt nach dem Dreißigjährigen Krieg massenhaft in Deutschland, und dann noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches: In Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen kann man noch heute durch dörfliche Ruinen stolpern und deutsche Friedhöfe freilegen. Die Bewohner sind 1945ff vertrieben oder umgebracht worden, die Ortschaften sind wüstgefallen.
Etliche kleine mitteldeutsche Siedlungen werden in den nächsten Jahrzehnten ganz oder teilweise veröden, ohne daß vertrieben oder getötet würde. Abwanderung und Kinderlosigkeit leisten ganze Arbeit. Es wird einsamer und männlicher werden und sehr deutsch bleiben. Denn abgewandert sind überdurchschnittlich viele junge Frauen, die an der Perspektivlosigkeit seltsamerweise stärker zu leiden scheinen als die jungen Männer. Mädchen und junge Frauen machen mehr aus dem, was in ihnen steckt, und sie sind deshalb schneller unzufrieden mit ihrer Situation als die jungen Männer gleichen Alters.
Jüngst stand in einer Studie etwas über die Gründe für dieses Gefälle im Selbstwert zwischen Buben und Mädchen. Es habe etwas mit der Schulatmosphäre zu tun: Sie ist auf Mädchen zugeschnitten, schon alleine deswegen, weil in der Grundschule vielerorts hundert Prozent, aber auch an Gymnasien leicht siebzig, achtzig Prozent des Lehrkörpers weiblich ist. Den Jungs, den jungen Männern fehlt es an Vorbildern, an konstruktiver und wirkmächtiger Anleitung zum Männlichsein, und wer da nicht in der Lage ist, sich selbst zu erziehen, bleibt erkennbar unterentwickelt, bleibt unter seinen Möglichkeiten, bleibt sichtbar zurück hinter den Mädchen und jungen Frauen, bleibt beim Gehabe und beim Gruppenbild mit Bier, bleibt im Lande (immerhin).
Einsam und deutsch: Wenn im Westen starke Ausländeranteile das Schrumpfen des deutschen Volkes zahlenmäßig abfangen, indem sie ganze Viertel aufsiedeln, kann davon in Mitteldeutschland keine Rede sein: auf dem Lande nicht und nicht in den Städten. Um das ottonische Merseburg herum stand etwa noch vor fünf Jahren ein Ring aus Plattenbauten, der jede Einfahrt zu einer trostlosen Angelegenheit machte. Mittlerweile sind sie allesamt abgerissen, und von Halle, Leuna oder Bad Lauchstädt her bietet sich ein freier Blick auf den Domberg. Für Leipzig gibt es Pläne, schlappe zehntausend Türken oder Asiaten für die Besiedelung eines Gründerzeit-Quartiers zu rekrutieren: Man wird scheitern, man wird abreißen müssen.
Aber warum die Landstraße entlang nach dem nächsten Ort oder die Autobahn entlang nach Leipzig spähen? Schnellroda hat einen Landgasthof mit Festsaal, einen Kindergarten, der voll belegt ist, einen Fußballplatz, eine Freiwillige Feuerwehr und einen Männerchor. Und dennoch hat auch Schnellroda, das aus siebenundfünfzig Gebäuden mit zweihundertfünf Einwohnern besteht, in diesem Jahr bereits zwei Häuser verloren und noch keine Geburt verzeichnet. Nun war das eine Haus nicht wirklich der Rede wert; das andere aber lohnt der Beschreibung: Es war ein kleines Gehöft mit einem Wohnhaus und einem Wirtschaftsgebäude, einem zugegebenermaßen sehr feuchten Keller und einem bereits eingestürzten Stall. Hier ist der Sanierungsplan:
Ein junger Mann und eine junge Frau kaufen das Gehöft für 2.500 (zweitausendfünfhundert) Euro plus Grunderwerbssteuer und richten sich für die erste Zeit der Arbeiten in der Gästewohnung des Ritterguts ein. Sie beginnen mit der Renovierung der Küche, der Stube und des Bades im Erdgeschoß, indem sie zunächst die Leimfarbe, die Tapetenreste und jede lockere Putzstelle entfernen, dabei die Fenster Tag und Nacht offenhaltend, damit alle Feuchtigkeit aus den Räumen weicht. Der Elektriker aus dem Nachbarort verlegt die Kabel und setzt Schalter und Steckdosen auf die rohe Wand. Nebenbei arbeiten die jungen Leute einen Teil des Lehms auf, den sie aus den Wänden des eingestürzten Stalls nach Belieben entnehmen können. Mit diesem Lehm, der keinerlei Zusatz braucht, verputzen sie die Wände ihrer Wohnräume und schaffen ein wärmedämmendes, feuchtigkeitsregulierendes, chemiefreies Klima. Das kostet die jungen Leute keinen Pfennig. Die Dielen schleifen und ölen sie, die Kacheln in Küche und Bad werden, sollten zu viele davon beschädigt sein, mit Spaltplatten oder anderen gebrannten Ziegeln (beispielsweise wiederum vom eingestürzten Stall) überfliest.
Für den Winter steht in der Küche ein funktionstüchtiger Kachelofen, in der Stube ist auch einer, der das Bad gleich mitbeheizt. Das Gebälk vom Stall und eine Tonne Kohlen reichen für mindestens zwei Winter. Sofern genügend Geld vorhanden – das Haus hat ja kaum etwas gekostet -, ist noch vor dem Lehmputz der Einbau einer Zentralheizung leicht möglich, die Rohre verschwinden wie die Kabel in der Wand und der Lehm wirkt als große Heizfläche.
Arbeitsaufwand bisher: drei Monate. Natürlich ist das eine Schinderei, natürlich macht man Fehler, und es mag sein, daß der feuchte Keller nicht so leicht trocken zu bekommen ist oder daß die Fenster dringend ersetzt werden müssen. Aber was macht das schon? Dieses Gehöft war eine Möglichkeit, ein herrliches Unternehmen für kräftige Hände, eine junge Familie, war ein freier Raum mit allen Unwägbarkeiten, die der Schritt ins Offene nun einmal mit sich bringt: nicht jedermanns Sache und etwas sehr Entschiedenes, um das herum dann alles Weitere angeordnet werden muß: Da wird nicht viel vom alten Leben bleiben, auch beruflich hat man sich neu zu orientieren und wird am besten selbständig.
Aber nun ist es weg, das Gehöft. Vielleicht hätte man es einfach erwerben sollen, es ist ja bloß einen Steinwurf weit vom Rittergut entfernt. Dann hätte es noch eine Weile warten können und wäre als Möglichkeit, als freier Raum erhalten geblieben. Aber andererseits: In Naumburg, Querfurt, Mücheln, in den kleinen Städten und Dörfern zwischen Halle und Weimar ist es nicht anders als in allen Regionen der ehemaligen DDR: Freien Raum gibt es dort in Hülle und Fülle, und damit ist nicht nur das Land, sind nicht nur die Häuser gemeint: Auch politisch ist der Kuchen nicht verteilt. Etliche der jungen Männer, von denen oben die Rede war, gehören latent oder bewußt provozierend einer rechten Szene an, einem subkulturellen Milieu, das auch den großen Blättern mittlerweile seitenlange Reportagen wert ist.
Man sieht die Zusammenrottungen dieser jungen Männer (an denen auch einzelne Frauen teilnehmen) zur besten Arbeitszeit in einer beliebigen Kleinstadt. Diejenigen, für die es zu spät ist, sammeln sich mit den verwüsteten Alkoholikern an irgendeiner Mauer, auf der sie ihre Bierflaschen abstellen. Aber für sehr viele dieser jungen Männer ist es mitnichten zu spät. Sie haben ganz einfach ihre zivilgesellschaftliche Lektion nicht gelernt, auf die sich der Westen so viel einbildet, und es sieht ganz danach aus, als würden sie diesen Import auch gar nicht annehmen wollen, sondern auf ganz anderen Lernstoff aus sein. Er müßte sich aus Heimatbewußtsein, Lebensperspektive und Vertrauensbildung zusammensetzen: Die meisten dieser jungen Männer möchten nicht abwandern, sondern in ihrer Heimat bleiben, nicht von Staatsalmosen abhängig sein, sondern in ihrem erlernten Beruf arbeiten, nicht belogen, sondern in ihrer Anstrengungsbereitschaft ernst genommen werden und jemandem nacheifern, der sagt: So könnte es gehen.
Es ist da in der Tat ein Zeitfenster offen, nur eben nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Weil aus manchen Abgangsklassen nach drei Jahren bereits die Hälfte in München, Stuttgart und Köln lebt, weil nach hundert Bewerbungen und der fünften Zeitarbeitsfirma der Selbstwert den Nullwert kratzt und im Fernsehen Abend für Abend ein Teil der deutschen Jugend als marschierender Abschaum gebrandmarkt wird, wird aus einem großen Teil der willigen jungen Männer ein Trupp perspektivloser Schwätzer, die sich in der Politik versuchen.
Während der Lektüre der ganzseitigen Reportagen in der großen Presse (etwa von Olaf Sundermeyer in der FAZ) wird man das Gefühl nicht los, daß man dort genau darauf gewartet hat und nun mit den immergleichen zehn Klischees über etwas schreibt, dem man den Untergang wünscht. Daß es sich um junge deutsche Männer in einer verfahrenen Situation handelt, scheint keine Bedeutung zu haben.
Die Kameradschaften bilden die Subkultur der NPD, aber sie sind nicht die NPD. Sie sind in ihrer Ausprägung so schillernd wie die Freikorps der ersten Weimarer Zeit. Ihre Schlagkraft und Größe steht und fällt mit dem Organisationstalent und dem Charisma des Anführers vor Ort. Alle eint die Überzeugung, daß Deutschland den Deutschen gehört und daß den ehrlichen, fleißigen Deutschen – vornehmlich den Arbeitern und kleinen Leuten – übel mitgespielt wird im Zeitalter der Globalisierung. Nationaler Sozialismus ist das große Wort, das betont aus zwei Wörtern besteht. Wenn dieses große Wort dann manchmal bloß noch aus einem Wort besteht und dadurch eine gewisse historische Aufladung bekommt, ist auch der nächste Versandkatalog nicht weit, der das Identitätsbedürfnis der Kameradschaften auf unverantwortliche Weise mit NS-romantischen Buch- und Devotionalienangeboten bedient.
Es ist unangenehm, wenn man selbst mit einem solchen Versand verwechselt wird, bloß weil der eigene Verlag und die eigene politische Einstellung rechts sind. Neulich also klopften zwei Kameraden an und fragten, ob man auf dem Verlagskopierer eben mal ein paar hundert Flugblätter zum zwanzigsten Todestag von Rudolf Heß vervielfältigen dürfe. Es sei eine Aktionswoche geplant: „Mord verjährt nicht” und so weiter. Die zwei jungen Männer mußten ohne Flugblätter wieder abziehen, und vielleicht gilt Edition Antaios nun vor den hiesigen Kameraden als Behausung für Weicheier, die sich nicht für den Stellvertreter des Führers in die Schanze zu schlagen bereit sind.
Am selben Tag übrigens begann der Abriß des kleinen Gehöfts, und die Gelegenheit, dieses Anwesen der Kameradschaft aus der Region zur Renovierung zu überlassen, ist verpaßt. Dabei wäre so eine Renovierungsarbeit, so ein Instandsetzen leerer Räume so ziemlich das beste, was eine Kameradschaft in der Frühphase ihres Bestehens leisten könnte, besser jedenfalls als eine Flugblattaktion für Heß. Denn: Etliche dieser nationalen Sozialisten haben die Arbeit nicht erfunden, sind schlecht erzogen, drücken sich am Wehrdienst vorbei und lernen vor allem das Jammern und Krakeelen. Wie arm aber ist einer, der vom eigenen Auto aus ins neuste Handy jammern und krakeelen kann, obwohl er auf Hartz-IV-Niveau lebt?
Jedenfalls hat er nicht um sein täglich Brot zu kämpfen und könnte in einem kleinen Gehöft ordentlich anzupacken lernen, anstatt ein Bettlaken mit den letzten Worten aus Spandau an einen Brückenpfeiler zu hängen. Er würde beteiligt sein, wenn sich seine Gruppe einen Ort schafft, ein Nest, einen Hort: zum Wohnen, Grillen, Musik machen, Feiern; für Schulungen, Diskussionsrunden, als Basislager für den Aufbruch zu gemeinsamen Aktionen, Demonstrationen, Provokationen; ein Ort also, in dem und von dem aus alles betrieben werden könnte, wozu der Parteienstaat seine mündigen Bürger aufzurufen nicht müde wird: aktive Teilhabe am demokratischen Meinungsfindungsprozeß durch Präsenz im öffentlichen Raum, der zumindest in Mitteldeutschland ein in weiten Teilen leerer Raum ist.
Wofür wäre da einzutreten? Worum gälte es zu kämpfen? Nach ein paar Jahren könnte ein junger Mann feststellen: Ich habe vor allem mit mir selbst und um mich selbst gekämpft. Er wird stolz bemerken, daß sich der leere Raum, das wüste Land nicht mehr bis in sein eigenes Gemüt ausdehnt, sondern daß er dieser trostlosen Abhängigkeit vom scheinbar Vorgegebenen etwas entgegenzusetzen hat, und zwar mehr, viel mehr als eine sozialistische Nehmerqualität.
Das sind die guten Gründe dafür, sich mit leeren Gehöften und Kameradschaften zu befassen: Beide sind da, sie sind ganz und gar unfertig und bieten demjenigen, der Kraft, Ideen, Verantwortungsbewußtsein, Wagemut und Vorstellungsvermögen hat, ein weites Tätigkeitsfeld. Natürlich bietet auch der JU-Kreisverband Tübingen oder die Internet-Gemeinde dol2day ein weites Tätigkeitsfeld, aber: Im Vergleich zu dem, was angesichts der leeren Häuser und der aktionshungrigen jungen Männer in den neuen Ländern möglich ist, ist in Tübingen gar nichts möglich, obwohl es dort natürlich mindestens ebenso nötig wäre.
Teufel auch! Es wird doch in Deutschland Familien und junge Leute genug geben, die sich die leeren Häuser und die jungen Männer vornehmen und etwas aufbauen. Im Kern nämlich heißt Leben tatkräftig sein.