Geistesgeschichtliche Wurzeln der Konservativen Revolution

pdf der Druckfassung aus Sezession 44 / Oktober 2011

von Steffen Dietzsch

Das konservative Denken (in Deutschland) hat einen expliziten Sinn für das, was nicht dem jeweiligen Zeitgeist unterworfen ist –...

»Kon­ser­va­tis­mus hat die Ewig­keit für sich.« (Moel­ler van den Bruck) Das heißt, weni­ger pathe­tisch, der Kon­ser­va­ti­ve hat einen stren­gen Sinn für das Grün­den­de im Leben (des Men­schen), das nicht sel­ber »wie­der­um bloß als Voll­zugs­form oder Facet­te die­ses Lebens zu beschrei­ben ist« (Die­ter Henrich).

Hier soll nun auf drei geis­tes­ge­schicht­li­che Kon­stel­la­tio­nen ver­wie­sen wer­den, die das Grün­den­de für kon­ser­va­ti­ves Den­ken in Deutsch­land ausmachen:

I. Die Reichs­idee, die, in den Wor­ten von Ernst Jün­ger, »weni­ger an ein natio­na­les Erwa­chen als an das Ein­schmel­zen der Gren­zen« den­ken läßt. Das lite­ra­risch-spi­ri­tu­el­le Pro­jekt des Gehei­men Deutsch­land (Ste­fan Geor­ge) ist pro­to­ty­pisch für kon­ser­va­ti­ves Denken.

II. Die Idee der Frei­heit, die aus luthe­ri­scher Bestim­mung des Zugleich­seins von Frei­heit und Pflicht folgt: »Eyn Chris­ten mensch ist eyn frey­er herz / über alle ding / und nie­mandt unterthan«, und »Eyn Chris­ten mensch ist eyn dienst­par knecht aller ding und yder­man unterthan.«

III. Die Idee der Anti­po­li­tik, so wie sie in jenem poli­ti­schen Säku­lum zwi­schen Fried­rich Nietz­sche – »was gross ist im Sinn der Cul­tur war unpo­li­tisch, selbst anti­po­li­tisch« – und Gott­fried Benn gera­de in Deutsch­land als unzeit­ge­mä­ße Idee frei­en Den­kens ent­wor­fen wurde.

 

I.

Als Ernst Jün­ger die Nach­richt vom Fall der Ber­li­ner Mau­er erhielt, schrieb er in sein Tage­buch: »Daß es ein­mal zur Wie­der­ver­ei­ni­gung kom­men wür­de, habe ich nie bezwei­felt … Dabei habe ich weni­ger an ein natio­na­les Erwa­chen als an das Ein­schmel­zen der Gren­zen … gedacht.«

Die­se Über­le­gung Jün­gers führt uns ins Zen­trum des­sen, was ich Deutsch­lands Beruf nen­nen möch­te. Näm­lich jenes Ver­hält­nis von Natio­na­lem und Trans­na­tio­na­lem den­ke­risch und poli­tisch aus­zu­ba­lan­cie­ren, eine (viel­leicht anti­po­li­ti­sche) Form dafür kon­stru­ie­ren zu müs­sen. Nicht ent­we­der auf das eine oder das ande­re zu set­zen, wovon die deut­sche Geschich­te schmerz­lich zeugt. – Jün­gers lan­ger Denk­weg sel­ber, durchs 20. Jahr­hun­dert, ist der exem­pla­ri­sche Fall, wie man vom exis­ten­ti­el­len Gegen­ein­an­der des Einen und Ande­ren, und des Sich-in-die-Schan­ze-Schla­gen für das Eine gegen das Ande­re, zu einer Syn­the­se bei­der, d. h. zu einem »Drit­ten« den­ke­risch kom­men kann. Das kann dann auch zunächst, wie eben beim Jün­ger-Freun­des­kreis, zu Kon­stel­la­tio­nen des Trans­po­li­ti­schen und Anti­po­li­ti­schen füh­ren. Etwas, das der fran­ko­phi­le Ernst Jün­ger in einer Begriffs­as­so­zia­ti­on von der lite­ra­ri­schen Moder­ne her viel­leicht Sur-Natio­na­lism (und gera­de nicht Inter­na­tio­na­lis­mus) genannt hätte.

Der deut­sche Geist – sozu­sa­gen das L’Allemagne èter­nel­le – stand immer in der (bis­wei­len auch tra­gisch sel­ber unbe­grif­fe­nen) Span­nung natio­na­ler Selbst­tran­szen­denz. Wie unver­stan­den (und miß­ge­deu­tet) die­se spi­ri­tu­el­le Basis des »Deutsch­seins« gera­de zwi­schen den Krie­gen war, davon zeugt eine Erin­ne­rung des pol­ni­schen PEN-Mit­glie­des Jaros­law Iwasz¬kiewicz, der in sei­nen Erin­ne­run­gen (1975) schreibt: »Der mys­ti­sche Ghi­bel­li­nis­mus, die Grund­la­ge des deut­schen Den­kens und auch ent­schei­dend für die neue­re euro­päi­scher Geschich­te, war für mich ein Buch mit sie­ben Siegeln.«

Das heißt: Der Geist des Kon­ser­va­ti­ven in Deutsch­land woll­te sich nie natio­nal-begrenzt ver­ste­hen, nie­mals regio­nal (bzw. kon­fes­sio­nell) ein­ge­hegt als bei­spiels­wei­se Chris­tus der Natio­nen (wie Polen), oder als »Grand Nati­on« (wie Frank­reich), weder als impe­ria­les Com­mon­wealth noch als ein auf sich selbst bezo­ge­nes Reich der Mitte.

1. Was in die­sem Sin­ne Deutsch­lands Beruf genannt wer­den könn­te, soll am poe­ti­schen Pro­jekt des Geor­ge-Krei­ses – ide­al­ty­pisch für deut­sches kon­ser­va­ti­ves savoir-viv­re – vom Gehei­men Deutsch­land ver­deut­licht wer­den. – Ein im bes­ten Sin­ne meta­po­li­ti­sches Pro­jekt, das übri­gens aus­drück­lich gegen alle »bigot­te Kul­tur­se­lig­keit der moder­nen Welt« gerich­tet sei, wie es Robert Cur­ti­us ein­mal gesagt hat.

Die Idee vom Gehei­men Deutsch­land begeg­net uns exem­pla­risch in einer dra­ma­ti­schen deut­schen Stun­de, als tra­gi­scher Hoff­nungs­ruf am Ende jenes »Gegen­reichs«, das als »Drit­tes« woll­te gel­ten kön­nen. Als Stauf­fen­berg im Bend­ler­block füsi­liert wur­de, da war, so die Legen­de, von ihm als sein letz­tes Wort zu hören: »Es lebe das Gehei­me Deutschland!«

Damit war ein Gedicht von Ste­fan Geor­ge evo­ziert, das in einem sei­ner letz­ten Gedicht­bän­de – Das Neue Reich (1928) – ver­öf­fent­licht wur­de. Im Vers fünf heißt es:

 

»Da in den äußers­ten nöten

San­nen die Untern voll sorge

Hol­ten die Himm­li­chen gnädig

Ihr lezt geheimnis …

sie wand­ten

Stof­fes geset­ze und schufen

Neu­en raum in den raum …«

 

Die Ent­ste­hungs­ge­schich­te jenes enig­ma­ti­schen Tex­tes ist immer noch unklar. Sie hängt aber mit Geor­ges Weg der Dich­tung über­haupt zusam­men, der zu einem bestimm­ten Zeit­punkt, näm­lich um 1900, sich tat­säch­lich auch mit der poli­ti­schen Situa­ti­on der Zeit über­kreuzt. Wenn sich Geor­ge hier für den Aus­druck »geheim« ent­schei­det, dann eben als Gegen­ent­wurf zu »öffent­lich« oder »offi­zi­ell«. Das »gehei­me« Deutsch­land ist immer dem offi­zi­el­len, öffent­li­chen ent­ge­gen­ge­setzt – und das war um 1900 für Geor­ge das »zwei­te« Reich, das Bis­marck­reich. Bis­marck war (wie Geor­ge) ursprüng­lich Rhein­län­der, genau­er: Rhein­hes­se, auf­ge­wach­sen in der Atmo­sphä­re der süd­deut­schen Mit­tel­staa­ten, deren poli­ti­sche Visi­on – seit der 1848er Revo­lu­ti­on – aber schon immer die groß­deut­sche Lösung für den sich auf­lö­sen­den Deut­schen Bund (von 1815) war. Dage­gen nun stand dann aber der preu­ßi­sche Macht­po­li­ti­ker Bismarck.

Kurz­um: Man kann das Gedicht »Gehei­mes Deutsch­land«, wie es jetzt vor­liegt, wie es ent­stan­den ist in einer ver­mut­lich lan­gen Inku­ba­ti­ons­zeit, nicht ver­ste­hen ohne die Wen­dung, die Geor­ge nach 1900 nimmt. Er hat noch 1902 ein Gedicht gegen Bis­marck – »Der Preu­ße« – in einer Lesung im Salon Lep­si­us in Ber­lin vor­ge­tra­gen, er hat die­ses Bis­marck-Gedicht immer bei sich getra­gen, bis zuletzt in Minus­io, sei­nem Ster­be­ort am Luga­ner See. Da heißt es:

 

»In des ehr­wür­dig römi­schen kaisertumes

Sand­gru­be die­ses reich gebaut, als mitte

Die kal­te stadt von heer- und handelsknechten/

Und herold wur­dest seel­lo­ser jahrzehnte

Von hab­gier fei­lem sinn und hoh­lem glanz?«

Geor­ge hat die­sen Text aber nie publi­ziert, obwohl es ein Zeit­ge­dicht ist und in die Rei­he der Zeit­ge­dich­te gepaßt hät­te, mit denen Der sie­ben­te Ring (1907) eröff­net wird.

Mit dem gehei­men Deutsch­land unter­schei­det sich Geor­ge ja gera­de von aller Pau­schal­kri­tik am und des »Deut­schen« schlecht­hin. Er wür­de nie­mals gegen »die Deut­schen« kla­gen (wie noch Nietz­sche), son­dern immer nur gegen die, die – wirk­lich oder ver­meint­lich – ihre Zeit impe­ri­al reprä­sen­tie­ren oder sich natio­nal für reprä­sen­ta­tiv hal­ten. Gegen die­se Deut­schen und deren Deutsch­land hat Geor­ge sei­ne Kri­tik an den deut­schen Ver­hält­nis­sen aus­ge­spro­chen, wäh­rend­des­sen er der Auf­fas­sung war, daß die Deut­schen ein zutiefst lei­den­des Volk in ihrer Geschich­te gewe­sen sei­en. Das meint nicht nur die reli­giö­se Spal­tung, die auf deut­schem Boden durch die Refor­ma­ti­on ent­stand – »mön­che­zank« (Ste­fan Geor­ge) – und die anschlie­ßen­den pro­vin­zia­li­sie­ren­den Glau­bens­krie­ge. Auf die­sem Wege ist den Deut­schen dann jeg­li­cher euro­päi­sche Gedan­ke aus­ge­trie­ben wor­den, und um 1900 war sozu­sa­gen ein natio­nal­po­li­ti­scher Höhe­punkt in die­ser Fehl­ent­wick­lung erreicht. Das preu­ßisch-deut­sche Reich, der mit Bis­marcks Name ver­bun­de­ne Natio­nal­staat mili­tä­risch-indus­tri­el­ler Prä­gung wur­de mit Attri­bu­ten einer gro­ßen Ver­gan­gen­heit geschmückt, die zum blo­ßen Reli­qui­en­kult ver­ka­men. Was ein­mal geschicht­li­che Wahr­heit war, das uni­ver­sel­le Kai­ser­tum des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches deut­scher Nati­on, geriet zur poli­ti­schen Lebens­lü­ge und zur »Auto-idolâ­trie« im Sich-sel­ber-Ver­ste­hen als Deutsche.

Geor­ge woll­te den Bis­marck­staat im Namen eines »gehei­men Deutsch­land« rekul­ti­vie­ren. Deutsch­land soll­te wie­der aus sei­ner Reichs¬idee her­aus begreif­bar wer­den, die alle auf sei­nem Geschichts­bo­den ent­stan­de­nen Über­lie­fe­run­gen von Anti­ke, Chris­ten­tum und Huma­nis­mus bis hin zur Klas­sik in sich schloß. – Und er sah nun am Aus­gang sei­nes Lebens (1933) gro­tes­ker­wei­se einen neu­en Usur­pa­tor auf­stei­gen, der sel­ber auch eine deut­sche Fehl­ent­wick­lung beklag­te und sich (in einem Brief an Artur Din­ter, vom 25. Juli 1928) als Kämp­fer für ein ande­res Deutsch­land bekannte.

 

2. Man muß also genau zwi­schen dem ande­ren Deutsch­land und dem gehei­men Deutsch­land unterscheiden.

Das »ande­re« ist der Gegen­be­griff zum »gehei­men« Deutsch­land. Das aber ist ein Schlüs­sel­wort kon­ser­va­ti­ver Bis­marck-Oppo­nen­ten, um das zur Spra­che zu brin­gen, was durch den moder­nen Natio­nal­staat ver­schwie­gen wur­de: den euro­päi­schen Grund­zug deut­scher Ver­gan­gen­heit, ein Ver­schie­de­nes von glei­cher Art, das über die Jahr­hun­der­te hin­weg geis­tig iden­ti­täts­stif­tend wirk­te. Das ist der Gedan­ke des Uni­ver­sa­len, auf dem die Rei­he der mit­tel­al­ter­li­chen Kai­ser auf­bau­te, die die Herr­schaft nicht um der Herr­schaft wil­len anstreb­ten, son­dern die die­se Herr­schaft zu beglau­bi­gen such­ten durch die Kai­ser­krö­nung in Rom. Das aber war kei­ne his­to­ri­sie­ren­de Staf­fa­ge, son­dern die Idee, das Geis­ti­ge und das Mäch­ti­ge zu einer neu­en Syn­the­se zu brin­gen. Aus Rom kommt dann eben nicht bloß – wie im alten römi­schen Reich – ein neu­er Cäsar, son­dern ein neu­es Recht, dem die Idee der Gewal­ten­tei­lung inne­wohnt. Damit ist aber eine neue euro­päi­sche Ver­fas­sungs­kul­tur beför­dert – und so ist aus die­ser Reichs­idee Deutsch­lands die Bedin­gung der Mög­lich­keit eines neu­en Euro­pa identifizierbar.

Das »ande­re« Deutsch­land ist spä­ter ent­stan­den – inmit­ten des euro­päi­schen Bür­ger­krie­ges. Bei die­ser Zukunfts­idee – gewis­ser­ma­ßen einer »Gegen­zu­kunft« – über­sprin­gen ihre jewei­li­gen Wort­füh­rer sozu­sa­gen die geschicht­li­che Lebens- und See­len­la­ge und das Her­kom­men Deutsch­lands. Die links­extre­me Sei­te ver­sprach sich von der sozia­len Revo­lu­ti­on, daß Unter­schie­de unter Men­schen und Völ­kern ein­mal voll­stän­dig ver­schwin­den und eine natür­li­che Ver­brü­de­rung aller ein­tre­ten wür­de. Die extre­mis­ti­sche Rech­te woll­te eben­falls als »das Ande­re« die­se natür­li­che Ver­brü­de­rung, aller­dings für nur eine ein­zi­ge Grup­pe, das soge­nann­te »eige­ne« Volk erreichen.

Und so blei­ben die – lan­ge klamm­heim­lich abge­lehn­te – Tat des Geor­ge-Schü­lers Stauf­fen­berg und des­sen geis­ti­ger Hin­ter­grund für uns hier­bei ein tra­gi­sches wie hoff­nungs­vol­les Sym­bol für das Hoch­hal­ten die­ser euro­päi­schen Dimen­si­on im Deut­schen. An die­sem deut­schen Wesen könn­te die Welt gene­sen! … um das miß­brauch­te Gei­bel­wort von 1861 gegen sei­nen natio­na­lis­ti­schen Strich zu bürsten.

II.

Luthers Frei­heits­theo­lo­gie macht für kon­ser­va­ti­ves Den­ken eine ent­schei­den­de anthro­po­lo­gi­sche Dimen­si­on deut­lich, die das Kreuz, die das Pas­si­ons­ge­sche­hen für den (neu­en) Men­schen stif­tet, näm­lich, daß der auch eine ganz neue Denk- und Ver­kehrs­form aus­weist: Frei­heit. Von allem Anfang an – »wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Frei­heit« (2 Korin­ther 3,17) – bis in den Umkreis der kul­tu­rel­len Geburt unse­rer Moder­ne im goe­the­zeit­li­chen Deut­schen Idea­lis­mus ist die­ser Sach­ver­halt das phi­lo­so­phi­sche Axi­om, aus dem alles ande­re erst folgt: »Frei­heit ist unser und der Gott­heit Höchstes.«

Frei­heit – und mit ihr das selbst­tä­ti­ge (per­so­na­le) Indi­vi­du­um – gewährt natür­lich nie­mals wie­der die alte Bin­dungs- und Gefolg­schafts­kraft der vor­ös­ter­li­chen (Gruppen-)Gemeinschaftlichkeit. Die­ser mit dem Frei­heits­ge­winn ein­her­ge­hen­de Ver­lust ist also nicht erst der soge­nann­ten Kor­rup­ti­bi­li­tät moder­ner, lai­zis­ti­scher, hedo­nis­ti­scher Gesell­schaf­ten geschul­det, son­dern eben: »Zur Frei­heit hat uns Chris­tus befreit« (Gala­ter 5,1). Frei­heit ist also kei­ne Hof­fart unse­rer Spät­kul­tur, son­dern jene Hoff­nung, ja Ver­hei­ßung, mit der unse­re (christ­li­che) Art, neu zu leben – als Frei­er, als per­so­nal Ein­zel­ner –, über­haupt ange­tre­ten ist. Das ja war es, was der Groß­in­qui­si­tor bei Dos­to­jew­ski dem über­ra­schend inmit­ten der insti­tu­tio­nell-christ­li­chen Hoch­kul­tur wie­der auf­tau­chen­den Chris­tus Jesus ver­stört ent­ge­gen­hält, daß der näm­lich von allem Anfang an immer nur eines gewollt habe – eben »Frei­heit, die du höher stell­test als alles ande­re. … Du mehr­test noch der Men­schen Frei­heit, statt sie ein­fach an dich zu nehmen!«

Die­ses neue Glau­bens­gut – der Gekreu­zig­te: »für Juden ein empö­ren­des Ärger­nis, für Hei­den eine Tor­heit« (1 Korin­ther 1,23) – über­win­det also alle bis­he­ri­ge geset­zes­för­mi­ge Reli­giö­si­tät, bei der Glau­ben und Glau­bens­treue an tages­aus­fül­len­de Vor­schrif­ten gebun­den waren. Das betrifft bei der­glei­chen Reli­gio­nen immer sowohl äuße­re All­tags­for­men (Beklei­dung, Beglei­tung, Bekös­ti­gun­gen) der Gläu­bi­gen als auch hoch­kon­trol­lier­te Gefolg­schafts- und Begeg­nungs­ri­tua­le in der Kom­mu­ni­ka­ti­on unter­ein­an­der und mit Frem­den. Und natür­lich betrifft das dort die straf-(ja todes-)bewährte Irrever­si­bi­li­tät des ein­mal bekun­de­ten Cre­dos. – Am Ende der Auf­klä­rung kommt man des­halb zu der gene­rel­len Auf­fas­sung, »daß Reli­gi­on nie auf Sat­zun­gen (so hohen Ursprungs sie immer sein mögen) gegrün­det wer­den könne«.

Luthers Frei­heits­theo­lo­gie hat ein neu­es Reli­gi­ons­ver­ständ­nis ent­schei­dend mit vor­be­rei­tet. – Des­sen Dop­pel­na­tur aller­dings hat­te eben gera­de Nietz­sche mit kräf­ti­gem Strich gezeich­net. Einer­seits sei an Luther der Ein­fall »des indi­vi­du­el­len Han­delns« zu bewun­dern, also »nicht, wie einer sich unter ein Gesetz zwingt, son­dern wie einer trotz allem Gebot und Ver­bot sich sel­ber treu ist«. Ande­rer­seits »ver­steck­te sich bei Luther der abgründ­li­che Haß auf den ›höhe­ren Men­schen‹ und die Herr­schaft des ›höhe­ren Men­schen‹, wie ihn die Kir­che [ursprüng­lich] con­ci­pirt hatte«.

Das wie­der­um ist Nietz­sche im Blick auf die ple­be­ji­sche Her­kunft des Refor­ma­tors ein­leuch­tend, denn: »Was könn­te eine mit so gro­ben Begier­den über­la­de­ne Natur mit dem ursprüng­li­chen Chris­t­ent­hum anfan­gen!« – Luthers Frei­heit eines Chris­ten­men­schen denkt nach über die objek­ti­vi­täts­stif­ten­de Form einer logos­ge­bo­re­nen Frei­heit als jener ursprüng­li­chen Revo­lu­ti­on der Den­kungs­art, die mit dem Gol­ga­tha­er­eig­nis ver­bun­den bleibt. Luthers Dop­pel­be­stim­mung – sein »zween beschluß … [a] Ich byn frey yn allen din­gen / [sowie b] un hab mich eynß ydrma knecht gemacht«, also »diße zwo wid­ders­ten­di­ge rede / der frey­heyt und dienst­parkeyt … sol­len wir geden­cken / das eyn yglich Chris­ten mensch ist zwey­er­ley natur / geyst­li­cher un ley­pli­cher« – macht den Men­schen, als einen inner­li­chen und einen äußer­li­chen, zunächst zum Bür­ger zwei­er Wel­ten. Wie aber mit die­sem Wider­spruch leben? Denn der äußer­li­che Mensch »findt ynn seynem fleysch eynen wider­spens­ti­gen wil­len / der wil der welt die­nen vn suchen was yhn lust­et«. Hier fin­den wir noch nicht den Ort der Frei­heit. Und so wird dann zunächst allen, »die Christ ange­hö­ren« auf­ge­ge­ben, zu »creut­zi­gen yhr fleysch mit seynen bößen lüs­ten«. Das aber durch ein – objek­ti­ves – »werck« sub­li­mie­ren zu wol­len, ver­wei­gert der Refor­ma­tor. Er fokus­siert alles auf »die per­son zuu­or … die die werck thun soll«. Die (Per­son) nun erkennt ihren Grund (und Halt) jetzt in ihrer durch den – Tran­szen­denz struk­tu­rie­ren­den – Glau­ben geform­ten Inner­lich­keit, damit aber als Frei­heit (als Unbe­ding­tes), die als – objek­ti­ve – Teil­ha­be-Form an der Tran­szen­denz aller­dings etwas völ­lig ande­res ist als – solip­sis­tisch – »eitel teuf­fe­li­sche / vos­fu­ri­sche lere«. – Frei­heit erscheint damit hier zunächst als Glau­bens­frei­heit, »die rech­te / geyst­li­che / Christ­li­che freyheyt«.

Die so erzeug­te Frei­heit ist aller­dings als sei­ne grün­den­de Aus­stat­tung für den Men­schen zu begrei­fen, die dann erst im Deut­schen Idea­lis­mus sys­te­ma­tisch auf­ge­deckt wird. Denn hier wird sie nicht als etwas bloß Kogni­ti­ves (Wis­sen) begrif­fen, son­dern als der­je­ni­ge prak­ti­sche Ver­kör­pe­rungs­mo­dus, als des­sen Resul­tat ein neu­er Mensch (Mensch-als-des-Men­schen-Nächs­ter) auto­poei­tisch erzeugt wird und der in der Gol­ga­thaer­zäh­lung sei­ne sozu­sa­gen ver­nunft­my­tho­lo­gi­sche Anschau­ungs­form aus­weist: »Alßo soll ein Chris­ten mensch / wie Chris­tus seyn« – ein leib­lich Kör­per zwar, aber (got­tes­ab­kömm­lich) mit über­leib­li­chen, spi­ri­tu­el­len Ver­mö­gen. Nament­lich des­sen Logos-Kom­pe­tenz ist das besee­len­de, ver­bin­den­de, ver­mit­tel­te – ana­lo­gi­sche – Prin­zip, das in der Meta­pher der Got­tes­bild­ähn­lich­keit des Men­schen (ima­go dei) anschau­lich wird. Daß wir als Men­schen Freie sind, ver­bin­det uns und ver­dan­ken wir unse­rer gött­li­chen Ver­wandt­schaft, unse­rer Abkunft aus dem ver­bum dei.

Gera­de das hat das kon­ser­va­ti­ve Den­ken immer wie­der hoch­zu­hal­ten ver­sucht: sich dem Geist – nicht nur dem Sym­bol – des Kreu­zes auch wie­der phi­lo­so­phisch zuzu­wen­den, gera­de »inmit­ten einer Zeit, wel­che die Bestim­mung und die Schmach des Kreu­zes nicht mehr kennt«.

III.

Mit der Moder­ne ist durch die kon­ser­va­ti­ve Sen­si­bi­li­tät auch das Anti­po­li­ti­sche auf­ge­kom­men: als das – bit­te­re – Lachen über die Epi­pha­ni­en soge­nann­ter his­to­ri­scher Mor­gen­rö­ten – je nach poli­ti­scher Pas­si­on – des Par­la­men­ta­ris­mus, der Suf­fra­get­ten, des Sozia­lis­mus, des Vege­ta­ris­mus, der Nati­on-Buil­ding mit ihren Heils-Ver­spre­chen … Der soli­tä­re, aris­to­kra­ti­sche Ges­tus dage­gen, jenem Neu­en ers­tens nicht ein­fach mit dem Erfolg und als Mit-Opfern-Erkämpf­tes auch gleich augen­schein­li­che natür­li­che Ver­nunft zu attes­tie­ren, und zwei­tens immer auch eine ver­bor­ge­ne Komik in den neu­en Erlö­sungs- oder Ver­hei­ßungs­wel­ten zu sehen, die mit Asym­me­trien und Sinn­ver­keh­run­gen zu tun haben, mit denen sie jeweils her­vor­bre­chen, gehört zum mar­kan­ten Stil der auf­kom­men­den kon­ser­va­ti­ven Kul­tur- und Zivi­li­sa­ti­ons­kri­tik. Die­ses »Das-Moder­ne-ist-das-Ver­nünf­ti­ge« mit dem »Der-König-ist-doch-nackt«(-und-häßlich) zu kon­fron­tie­ren, wird die kon­ser­va­ti­ve Essay­is­tik fort­an auszeichnen.

Von den euro­päi­schen Meis­tern mit einem fei­nen Sinn für para­do­xe Kon­stel­la­tio­nen der »auf­ge­klär­ten« Moder­ne weiß sich kon­ser­va­ti­ves Den­ken exem­pla­risch etwa mit Stendhal verbunden.

So wur­de ein­mal gera­de von Stendhal am Abbé Siey­ès, einem der sozu­sa­gen ers­ten Ideen­in­ge­nieu­re einer neu­en Lebens­la­ge poli­ti­scher Ega­li­tät und All­ge­mein­heit – Qu’est-ce que le tiers état? (1789) –, das über­ra­schen­de Para­dox bezeich­net, daß eben der auch »der Begrün­der der lite­ra­ri­schen Aris­to­kra­tie war«. Ein Motiv dafür hat­te auch schon Stendhal emp­fun­den: »Ich sehe mich mit­ten in einem Zeit­al­ter des Über­gangs, d. h. der Mittelmäßigkeit.«

Von einem ande­ren lite­ra­risch bemer­kens­wer­ten, aris­to­kra­ti­schen Zeit­ge­nos­sen waren »die geruh­sa­men Umtrie­be der all­ge­mein gleich­ge­schal­te­ten Hir­ne« beklagt wor­den. Das eben ist zunächst die dem Mas­sen­zeit­al­ter ganz gemä­ße Betriebs­form des Ega­li­tär-All­ge­mei­nen – im Poli­ti­schen als Demo­kra­tis­mus, im All­täg­li­chen als reli­gi­ös kon­fir­mier­ter Moral­ka­non, im Nach­bar­li­chen als neid­be­währ­te Gleich­heit (vom Essen bis zum Ver­gnü­gen), sowie als Öffent­lich­keit ein bis­her unbe­kann­ter (massen)medienerzeugter, see­len­be­herr­schen­der Ser­vi­lis­mus und im Blick auf »Frem­de« und nach »drau­ßen« wahl­wei­se als com­mon-sen­se-Ras­sis­mus oder Patrio­tis­mus. Allem Extra­va­gan­ten im Leben wie im Den­ken steht man unsi­cher (und feind­lich) gegen­über, es wird mehr­heit­lich als kon­for­mi­täts­hin­dernd von sich fern gehal­ten und unter Ver­dacht gestellt (Deka­denz, Nihi­lis­mus, Relativismus).

Aber gera­de jetzt – im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert, da »das vor­züg­li­che­re Indi­vi­du­um sich auf­lehnt gegen die die gan­ze Art ver­der­ben­de Nivel­lie­rung« – ent­deckt der kon­ser­va­ti­ve Geist schließ­lich auch das, was im Gleich­ge­mach­tem eben ver­lo­ren­ging – Nobles­se, Eigen­sinn, Leben­dig­keit, Dis­kre­ti­on, Stil, Lei­den­schaft, Per­sön­lich­keit, Frei­heit. Daß aber dar­an inmit­ten unse­rer uni­for­men neu­en Welt doch dring­lich immer wie­der zu erin­nern ist, das will uns kon­ser­va­ti­ves Den­ken von Anfang an ver­deut­li­chen. – Es ent­wi­ckelt dabei etwas, was man früh schon »Anti­po­li­tik« genannt hat. Das Anti­po­li­ti­sche iden­ti­fi­ziert und distan­ziert sich von einem schein­bar natur­wüch­si­gen, aber gleich­wohl als patho­gen ver­mu­te­ten Sach­ver­halt im kul­tu­rel­len Selbst­ver­ständ­nis, der vom spä­ten Gott­fried Benn ein­mal so beschrie­ben wird: »Das Zoon poli­ti­kon, die­ser grie­chi­sche Miß­griff, die­se Bal­kani­dee – das ist der Keim des Unter­gangs, der sich jetzt vollzieht.«

Die­ser Affekt des Anti­po­li­ti­schen müß­te natür­lich auch auf die Bestim­mung des­sen, was dann noch »Revo­lu­ti­on« im Ter­mi­nus Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on bedeu­ten mag, eine deut­li­che seman­ti­sche Aus­wir­kung haben. Man wäre hier näm­lich gut bera­ten, sich jene mephis­to­phe­li­sche Resi­gna­ti­on zu eigen zu machen, die in Faust II so klingt: »O weh! hin­weg! Und laßt mir jene Strei­te / Von Tyran­nei und Skla­ve­rei bei Sei­te. / Mich langeweilt’s, denn kaum ist’s abgethan, / So fan­gen sie von vor­ne wie­der an; / Sie strei­ten sich, so heißt’s, um Frei­heits­rech­te, / Genau besehn sind’s Knech­te gegen Knechte.«

 

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