Anfang Mai 1933 fragt ein junger Mann von der Küste des Mittelmeers einen fast fünfzigjährigen in Berlin: „Was konnte Sie dahin bringen, Ihren Namen, der uns der Inbegriff des höchsten Niveaus und einer geradezu fanatischen Reinheit gewesen ist, denen zur Verfügung zu stellen, deren Niveaulosigkeit absolut beispiellos in der europäischen Geschichte ist und von deren moralischer Unreinheit sich die Welt mit Abscheu abwendet?”
Dieser andere, der Befragte, der mittels eines öffentlichen Briefes antworten wird, ist Gottfried Benn, Arzt und Schriftsteller, ein Jahr zuvor in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen, die er im Jahr 1933, trotz der Austritte vieler prominenter Mitglieder, nicht verläßt, und der sich zum neuen Staat bekennt. Seine Begeisterung und sein Engagement halten nur ein Jahr an. Doch in dieser Zeit hat er den Nationalsozialismus als die große Alternative für das deutsche Volk ausgemacht, da half ihm auch seine allzeit wachsame Skepsis nichts. Folgendes findet sich in seiner Antwort an Klaus Mann, der die oben zitierte Frage stellte: „(…) ich glaube, Sie kämen den Ereignissen in Deutschland näher, wenn Sie die Geschichte nicht weiter als den Kontoauszug betrachten, den Ihr bürgerliches Neunzehntes-Jahrhundert-Gehirn der Schöpfung präsentierte”. Sehr schroff, durchaus, vor allem aber ergibt sich aus diesem mächtigen Vorwurf, daß die Schöpfung, der Lauf der Dinge, sich weder von „Ochs’ noch Esel” aufhalten läßt, mögen diese auch noch soviel Elan – und noch so viele alternative Konzepte – in die Beeinflußbarkeit und Veränderlichkeit der Welt legen. Benn irrte 1933 nicht, vielmehr machte er sich, nach seinen eigenen Maßstäben, lächerlich, indem er mal eben kurz seine Ablehnung von politischer Tendenz und innerweltlichen Erlösungskonzepten, romantische Kindereien im Sinne eines „ewigen Frühlings am Nordpol”, beiseite schob, gab eine tragische Figur ab, maßte sich an, eine Alternative für das deutsche Volk zu sehen und propagierte diese – also, immer feste mitgemischt beim Kampf für eine bessere Welt.
Der Fairneß halber muß gesagt werden, daß historisch neuralgische Punkte und Zeiten nicht in den Versuchsaufbau zur Bewertung von Alternativen gehören. Es wird dann schnell von Notwendigkeiten gesprochen, die ein Subjekt zum Handeln drängen – man kann also gar nicht anders, die Situation gebiert die Tat, als auch die Idee, und nicht irgendein armseliges Subjekt für sich und aus freien Stücken. Aber ob man diese Notwendigkeiten überhaupt so ausmacht und dann von ihnen beeinflußt handelt, gehört wohl eher in den Bereich der Einbildungen und Privatangelegenheiten, also der Allgemeinplatz der Hirn- und Persönlichkeitsforschung: jedem seine eigene Realität, und jedem eine andere. Was wäre das auch für eine Freiheit, die wir doch zum größten Teil unser eigen nennen, wenn alle Handlungsentscheidungen nur aus Notwendigkeiten entsprängen? Der Dämon der Kausalität, der Dialektik, des Behaviorismus und all dieser Sachen, mit denen man die Erscheinungen und Probleme der Welt ausrechnen kann, hat da wohl seine gierigen Finger im Spiel!
Das Problem ist die Idee. – Wer wie Benn eine Alternative ausmacht, wer sich eine erdenkt, wer eine propagiert, der bringt seine eigene traumbeladene und bisweilen verzweifelte Existenz in Worten und Ideen unter, denn groß ist die Unzufriedenheit bei vielen und war es auch zu allen Zeiten, groß auch der Drang alles zum Guten und Richtigen zu verändern, nun endlich mal die ganze Sache in die richtigen Bahnen zu lenken.
Alternativen scheinen vor allem etwas für junge Menschen zu sein – Benn war erstaunlicherweise fast fünfzig, als er die „Flucht zu den Schachtelhalmen”, wie ein Kritiker seinerzeit schrieb, antrat und sich zum NS-Staat bekannte -, eine Art Vorrecht der Jugend, in der wir irgendwie und irgendwann Kommunist, Rebell, ein Outsider oder ähnliches waren, und die wir dann einige Jahre lärmend durchlebten – der Lärm ist natürlich auch ein Vorrecht der Jugend.
Allerdings, ein reaktionärer Mensch, ein Faschist, was könnte er denn für Alternativen haben, welche könnten von ihm kommen? Familie, Staat und Kirche – Sachen, die nicht erst irgendwie erdacht werden müssen, die doch schon ein paar Jahre existieren? Kann man so etwas Alternativen nennen? Fußball, Radfahren und gesunde Ernährung im Privaten? Eine Alternative zum kapitalistischen System, zum Markt? Sind die Produktionsmittel in privater Hand nach 150 Jahren marxistischen Scheiterns noch immer ein Problem?
Nein, es gibt da wohl nichts anzubieten. Mit seinen Privatliebhabereien, wie Brechung der Zinsknechtschaft und Rohkost für alle, sollte man die anderen in Ruhe lassen, sollte ablassen von der Anmaßung der „dritten Wege”, der besseren bis besten Lösungen, der beinharten und unerschütterlichen Ideen und Überzeugungen, ablassen von der Anmaßung, in jeder Möglichkeit eine Alternative zu sehen – und die letzte ist immer der Selbstmord, der nur allzuoft dem „Traum eines lächerlichen Menschen” folgt -, ablassen von der Anmaßung, die Welt in Mainstream, also die Masse, und die anderen, die Avantgarde, die Leute mit der Alternative einzuteilen, zu diffamieren und unseren Alltag zu bedrohen. Man möchte sagen: Geh, wohin dein Herz dich trägt – hin zu aufrechten Bürgerbewegungen und erlösenden Tyrannenmorden und zu all den anderen wichtigen Taten überzeugter Menschen. Die stehen doch ziemlich fett gedruckt auf dem Kontoauszug, der eines Tages der Schöpfung präsentiert wird. Und da gilt es sich zu fragen, ob unsere Alternativen nur ein Luxus sind, unserer komfortablen Situation und harmlosen Zeit geschuldet, ein trotziger und pubertärer Hang zur Kulturrevolution – irgendwann ist jeder einmal dran, so auf den Putz zu hauen wie die damals ’68. Wer den Masterplan hat, werfe den ersten Stein!
Irgendwie sind Menschen, die etwas machen, immer gefährlich. Und es dürften daher so ziemlich alle sein. Am gefährlichsten sind aber Menschen, die etwas aus Überzeugung, aus angestrengten Überlegungen, aus Ideen heraus tun, oder etwas tun möchten. Oft geht es dabei nicht um die große Weltrevolution, sondern eher um das private Glück. So beschreibt es etwa Knut Hamsun in vielen seiner Romane, in denen sich immer wieder Menschen in der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinschaft unpassend fühlen und durch ihre alternativen Ansätze unnötig viel Wirbel ins beschauliche Leben bringen, es sei denn, sie wandern aus. Und dann gibt es da noch die anderen, die „Helden” in Hamsuns Büchern, die immer so rätselhaft fest auf der Erde stehen: konservativ ohne eigenes Zutun. Sie heißen Isak (Segen der Erde) und Willatz Holmsen (Kinder ihrer Zeit, Die Stadt Segelfoß) und machen, was sie für richtig halten und wie es gemacht werden muß, und das ist eigentlich immer richtig.
Wir werden wohl nie werden wie diese Figuren, falls jemand überhaupt so war, ist oder sein wird. Doch ihre Botschaften sind keineswegs Romanphantastereien, sondern können recht deutlich gelesen werden: Rette dich erst einmal selbst, rette nicht die Welt (höchstens noch deinen Nächsten), denn jeder deiner Versuche wird nur zu noch mehr Unglück und immer größeren Lächerlichkeiten führen. Und noch etwas steht dort: Die Welt ist Prosa, nicht Idee. Jedoch, dies sind wohl eher leise Töne, die kaum zu hören sind, denn es rumpelt und rumort ständig irgendeine Alternative – und wir mit ihr – durch Stadt und Land und über die Erde hinweg und läßt selbst Goethe nicht zu Wort kommen, der wußte bereits: „Vornehme Menschen bringen ihr Leben ohne Geräusch zu.”
Ja, das Vornehm-Sein, das kann auch von einem Jahr Nationalsozialist und einer noch so großen und großartigen Alternative nicht kaputtgemacht werden. Als Benn 1949 in seinem Doppelleben sein Verhalten 1933 aufarbeitet, zitiert er an einer Stelle den Brief Klaus Manns, der ihn zu seiner Antwort an die literarischen Emigranten provozierte. Dazu schreibt er: „Ich veröffentliche den Brief auch als Ehrung für den Verstorbenen, für den ich trotz aller schweren Angriffe, die von ihm und seinem Kreise dann gegen mich vorgetragen wurden, immer ein freundliches Erinnern bewahrte.” Und: „Dieser schöne Brief lautet: (…).” So werden wir also nach dem Geschwätz und nach dem Terror die wichtigen Töne wieder hören, werden merken, daß Romantik nicht Politik, daß Maß nicht Willkür unserer Empfindung ist, und daß nach dem Inhalt vielleicht die Form kommt.