Die große Parallele

pdf der Druckfassung aus Sezession 20/Oktober 2007

sez_nr_209von Karlheinz Weißmann

Der traditionsreiche Theiss-Verlag, bekannt für sein gediegenes Programm zur Archäologie, zur Vor- und Frühgeschichte sowie zur Geschichte der Antike und des Mittelalters setzt seit einiger Zeit besondere Akzente auf die Übergangsphase zwischen den zuletzt genannten Epochen. Dabei geht es nicht nur um solide Einführungen, die in der Reihe „Theiss WissenKompakt" erscheinen (Ernst Künzl: Die Germanen. Stuttgart: Theiss 2006, kt, 192 S., 19.90 €), sondern auch um Monographien, die sich spezielleren Problemen widmen. In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei neue, aus dem Englischen übersetzte Arbeiten zu nennen: Peter S. Wells Die Barbaren sprechen (Stuttgart: Theiss 2007, geb, 307 S., 29.90 €) und Bryan Ward-Perkins Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation (Stuttgart: Theiss 2007, geb, 240 S., 29.90 €).


Bei­de Unter­su­chun­gen ergän­zen sich, auch wenn sie ver­schie­de­ne The­men und ver­schie­de­ne Fra­ge­stel­lun­gen behan­deln. Die Arbeit von Wells unter­sucht in ers­ter Linie das Ver­hält­nis der kel­ti­schen und ger­ma­ni­schen Völ­ker zum Impe­ri­um und betont gegen die übli­che Auf­fas­sung, daß weder die einen noch die ande­ren als kul­tur­los zu begrei­fen sind und sehr wohl über eine ent­wi­ckel­te Gesell­schaft, Spra­che und Reli­gi­on ver­füg­ten; die Kel­ten leb­ten jeden­falls in einer Sozi­al­ord­nung, die der der medi­ter­ra­nen Welt sehr ähn­lich und kei­nes­wegs in jeder Hin­sicht unter­le­gen war. Sicher bestand im Fall der Ger­ma­nen ein grö­ße­rer Abstand, aber auch sie gli­chen nicht dem Ide­al- oder Zerr­bild des „Wil­den”. Ent­spre­chend kri­tisch fällt Wells’ Wer­tung der zivi­li­sie­ren­den Wir­kung römi­scher Herr­schaft über die „indi­ge­nen euro­päi­schen Völ­ker” aus. Er betont die bru­ta­len Aspek­te der Nie­der­wer­fung und Macht­aus­übung, ohne zu ver­ken­nen, wie bereit­wil­lig vie­le Kel­ten und Ger­ma­nen den römi­schen Lebens­stil annah­men. Die­ses Phä­no­men war vor allem bei den Eli­ten zu beob­ach­ten, die als ers­te zur Kol­la­bo­ra­ti­on über­gin­gen; die Mas­se der Bevöl­ke­rung hielt län­ger an den Tra­di­tio­nen fest. Inter­es­san­ter­wei­se bot das die Mög­lich­keit für eine spä­te­re Neu­stif­tung alter Identitäten.
Wells selbst ver­gleicht der­ar­ti­ge Pro­zes­se aus­drück­lich mit denen, die in der heu­ti­gen Welt ablau­fen. Im Grun­de, so sei­ne The­se, geht es hier wie dort um Anpas­sung an eine „Glo­ba­li­sie­rung”, die man sich nur nicht als fina­len Zustand vor­stel­len dür­fe, son­dern als dyna­mi­schen Vor­gang, der von zahl­lo­sen Unwäg­bar­kei­ten mit­be­stimmt wer­de. Wie groß dabei die Gefahr eines kata­stro­pha­len Umschlags ist, kann man dem Buch von Ward-Per­kins ent­neh­men. Er behan­delt jene „Völ­ker­wan­de­rung”, die mit dem Über­gang der Goten über die Donau im Jahr 376 begann und mit der Grün­dung des karo­lin­gi­schen Groß­reichs im 8. Jahr­hun­dert ende­te. Ward-Per­kins geht es vor allem um die Wider­le­gung der modi­schen The­se von einer „Trans­for­ma­ti­on” der anti­ken römi­schen Gesell­schaft in ein Früh­mit­tel­al­ter, die nahe­legt, es habe sich eigent­lich nur ein schied­lich-fried­li­cher Wan­del voll­zo­gen. Er betont dem­ge­gen­über die Mas­si­vi­tät des Bruchs, und sei­ne Argu­men­te sind ein­drucks­voll. Dabei spie­len objek­ti­ve, durch archäo­lo­gi­sche Fun­de erhär­te­te, Daten eine wich­ti­ge Rol­le. So ver­weist Ward-Per­kins nicht nur auf den Grö­ßen- und Gewichts­schwund der Haus­tier­ras­sen, son­dern auch auf den Ver­lust zen­tra­ler tech­ni­scher Kennt­nis­se. Eine Ampho­re, wie sie in dem berühm­ten Fürs­ten­grab von Sut­ton Hoo als wür­di­ge Bei­ga­be eines angel­säch­si­schen Edlen gebor­gen wur­de, war in bes­se­rer Aus­füh­rung Mas­sen­wa­re der römi­schen Zeit, die man acht­los zer­schlug, sobald sie ihrem Zweck – dem Import von spa­ni­schem Oli­ven­öl etwa – gedient hat­te; ein Kir­chen­ge­bäu­de wie das von Alt-St. Peter, das Anfang des vier­ten Jahr­hun­derts errich­tet wor­den war, ließ sich schon wegen sei­ner Grö­ße in den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten nicht mehr errich­ten, die meis­ten Sakral­bau­ten erreich­ten kaum das Aus­maß ihres Chorraums.

Neben sol­chen Befun­den steht dann die Inter­pre­ta­ti­on der – zum Teil sehr schma­len – Quel­len­ba­sis in bezug auf das Ver­hält­nis zwi­schen Römern und neu­en Her­ren. Vor­stel­lun­gen, hier habe es rasch einen Aus­gleich gege­ben, erteilt Ward-Per­kins eine kla­re Absa­ge. Sei­ner Mei­nung nach begann alles mit dem schlei­chen­den Zusam­men­bruch des Impe­ri­ums an den Rän­dern. Man über­ließ die Pro­vin­zia­len nach und nach sich selbst, wer nicht in die siche­ren Gebie­te aus­wei­chen konn­te, muß­te selbst für sei­nen Schutz sor­gen. Es bil­de­ten sich in den von Mili­tär ent­blöß­ten Ter­ri­to­ri­en Bür­ger­weh­ren, und ein­zel­ne war lords ris­sen die Macht an sich. Von Dau­er waren sol­che Aus­hil­fen aber nicht, die ein­drin­gen­den Ger­ma­nen konn­te man so nicht abweh­ren, es blieb des­halb kaum etwas ande­res als Unter­wer­fung und Anpas­sung. Der Preis dafür war hoch. Ward-Per­kins ver­weist nicht nur auf jenen römi­schen Adli­gen, der selbst Gotisch lern­te und sei­nen Söh­nen goti­sche Vor­na­men gab, um sich den Mäch­ti­gen ange­nehm zu machen, son­dern auch dar­auf, daß noch um 500 die Lex Sali­ca das Leben eines Fran­ken im Gefol­ge des Königs für dop­pelt so wert­voll hielt wie das eines Römers; ähn­li­che Bei­spie­le für ein aus­ge­bau­tes und lang­le­bi­ges Apart­heid­sys­tem sind auch aus ande­ren Ger­ma­nen­rei­chen bekannt, genau­so wie immer wie­der auf­flam­men­de Pogro­me der Ein­wan­de­rer gegen­über den Autochthonen.
Wer also meint, man könn­te Spät­an­ti­ke und Früh­mit­tel­al­ter als beru­hi­gen­des Bei­spiel für eine kul­tu­rel­le Meta­mor­pho­se betrach­ten, sieht sich mit einem Exem­pel ganz ande­rer Art kon­fron­tiert: dem Zusam­men­bruch eines Sys­tems in Fol­ge von Deka­denz im Inne­ren und wach­sen­dem äuße­rem Druck, der sich glei­cher­ma­ßen über fried­li­che Ein­wan­de­rung und mili­tä­ri­sche Bedro­hung auf­bau­te. Zu einem „Kom­pro­miß” zwi­schen Ger­ma­nen und Römern kam es jeden­falls erst nach einem sehr lang­wie­ri­gen und kon­flikt­rei­chen Umbau, und ohne Zwei­fel muß­te dabei die eine Sei­te ungleich mehr geben als die andere.
Mit einem gewis­sen Amü­se­ment gibt Ward-Per­kins eine Lis­te von 210 Grün­den wie­der, die schon als Ursa­che für den Nie­der­gang Roms genannt wur­den: von Aber­glau­be, Abso­lu­tis­mus, Acker­skla­ve­rei über Haupt­stadt­wech­sel, Hedo­nis­mus, Homo­se­xua­li­tät bis zu Wil­lens­läh­mung, Wohl­stand, Zen­tra­lis­mus, Zöli­bat, Zwei­fron­ten­krieg. Er selbst glaubt nicht dar­an, daß es einen ein­zel­nen Grund für den Kol­laps gege­ben hat, aber ein Zusam­men­wir­ken ver­schie­de­ner Fak­to­ren. Als His­to­ri­ker scheut er mono­kau­sa­le Erklä­run­gen und über­haupt die Ablei­tung bil­li­ger Hand­lungs­an­wei­sun­gen aus geschicht­li­chen Bei­spie­len, wenn­gleich er in sei­nem letz­ten Satz mahnt, „nicht genau­so selbst­ge­fäl­lig zu sein” wie die Römer. Sol­che Selbst­ge­fäl­lig­keit ist ohne Zwei­fel eine dau­ern­de Ver­su­chung für den Men­schen der west­li­chen Gegen­wart, aber ganz unge­bro­chen tritt sie kaum jemals auf. Wie ein Vor­satz­blatt hat man in das Buch von Ward-Per­kins die Wie­der­ga­be eines Stichs von Gust­ave Doré aus dem Jahr 1873 gesetzt, der einen Mann auf einem Säu­len­stumpf sit­zend zeigt – irgend­wann in der Zukunft -, und der sin­nend oder zeich­nend auf die Über­res­te einer euro­päi­schen Metro­po­le schaut, so wie die Bil­dungs­rei­sen­den die Rui­nen des anti­ken Roms betrach­te­ten. Das Bild bringt ein­drucks­voll jenes Bewußt­sein der Sterb­lich­keit der eige­nen Zivi­li­sa­ti­on zum Aus­druck, das die Euro­pä­er seit Gib­bons Werk über den Unter­gang des römi­schen Impe­ri­ums nicht mehr los­wer­den können.

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