Pluralismus als Falle

pdf der Druckfassung aus Sezession 19/August 2007

sez_nr_191von Karlheinz Weißmann

Die Anziehungskraft des Pluralismus erklärt sich daraus, daß er die Suspendierung politischer Entscheidungen zu erlauben scheint. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Lebensformen und Weltanschauungen gilt den meisten als Garant von innerem Frieden, Freiheit und Demokratie. Pluralismus gehört demnach zu den Kennzeichen eines modernen Gemeinwesens, das jenen Zustand erreicht hat, in dem frühere Verhältnisse - Intoleranz, Ausgrenzung, Diskriminierung - überwunden sind oder jedenfalls nur noch Randphänomene darstellen.


Es gibt durch­aus eine kon­ser­va­ti­ve Theo­rie des Plu­ra­lis­mus – von den Fede­ra­list Papers über die Schrif­ten Toc­que­vil­les bis zu denen Oth­mar Spanns – aber die spielt für die heu­ti­gen Vor­stel­lun­gen kei­ne Rol­le. Mehr noch, die Kon­ser­va­ti­ven selbst bil­den kei­nen Teil des plu­ra­lis­ti­schen Sys­tems. Sie sehen sich regel­mä­ßig den erwähn­ten Rand­phä­no­me­nen zuge­schla­gen. Die Ursa­che dafür zu begrei­fen, fällt ihnen schwer, und sie appel­lie­ren in rüh­ren­der Wei­se an die Mäch­ti­gen, sie doch nach Maß­ga­be des­sen zu behan­deln, was sonst als erwünscht gilt, ihnen Spiel­raum, Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten zu geben, wie den ande­ren „gesell­schaft­lich rele­van­ten” Kräf­ten auch. Und wenn das nicht geschieht, dann fällt in Deutsch­land regel­mä­ßig der Hin­weis auf die dunk­le Ver­gan­gen­heit. Seit dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs, so das On dit, habe alles, was rechts von der Mit­te steht, damit zu leben, daß es ver­däch­tigt wird oder jeden­falls zu dau­ern­der Ent­schul­di­gung ver­pflich­tet ist.
Unbe­streit­bar wur­de die Nie­der­la­ge von 1945 auch als Nie­der­la­ge der Rech­ten auf­ge­faßt. Das war so aus der Sicht der Alli­ier­ten und auch aus der Sicht der Mehr­heit in Deutsch­land, und die Kon­ser­va­ti­ven waren durch die­ses Ver­dikt mit­be­trof­fen. Aller­dings besag­te das nichts gegen die Annah­me einer prin­zi­pi­el­len Legi­ti­mi­tät der kon­ser­va­ti­ven Posi­ti­on. Unmit­tel­bar nach Kriegs­en­de wur­de ein Mani­fest der Rech­ten, auch Kon­ser­va­ti­ves Mani­fest, ver­brei­tet, des­sen Ver­fas­ser sich selbst­be­wußt als Kon­ser­va­ti­ve, und damit als dem rech­ten poli­ti­schen Spek­trum zuge­hö­rig, betrach­te­ten. Aus ihrer Sicht war Hit­ler ein Revo­lu­tio­när und das Kind einer Revo­lu­ti­on – der bol­sche­wis­ti­schen näm­lich -, was die neue Ord­nung ver­pflich­te, anti­re­vo­lu­tio­när zu sein, also aus einer „bewah­ren­den Welt­an­schau­ung” her­vor­zu­ge­hen; Deutsch­land, so das Mani­fest wei­ter, soll­te am bes­ten eine Mon­ar­chie auf demo­kra­ti­scher Grund­la­ge erhal­ten und sich als Teil des christ­li­chen Abend­lands verstehen.

Ver­ant­wort­lich für das Mani­fest waren Otto Schmidt-Han­no­ver, ein ehe­ma­li­ger hoher Funk­tio­när der DNVP, und Hans Zeh­rer, vor 1933 Her­aus­ge­ber der Tat, einer der wich­tigs­ten Zeit­schrif­ten der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on. Bei­de ohne Zwei­fel Män­ner der Rech­ten und dezi­dier­te Geg­ner des NS-Regimes. Die von ihnen und eini­gen ande­ren gegrün­de­te „Kon­ser­va­ti­ve Ver­ei­ni­gung” oder „Kon­ser­va­ti­ve Par­tei” war kein Erfolg, und Schmidt-Han­no­ver wie Zeh­rer schlu­gen im Nach­kriegs­deutsch­land ganz ver­schie­de­ne Wege ein; an Par­tei­neu­grün­dun­gen haben sie sich nicht mehr ver­sucht. Ihre Vor­stel­lun­gen erschei­nen aller­dings weni­ger phan­tas­tisch, wenn man sich vor Augen hält, in wel­cher Atmo­sphä­re sie agier­ten. Es han­del­te sich um jene Pha­se in der Ent­wick­lung der Zusam­men­bruchs­ge­sell­schaft, als katho­li­sche Krei­se an eine Wie­der­be­le­bung der Reichs­idee dach­ten, der aus dem KZ befrei­te Mar­tin Niem­öl­ler den ame­ri­ka­ni­schen Ver­hör­spe­zia­lis­ten nüch­tern erklär­te, die Deut­schen sei­en für die Demo­kra­tie unge­eig­net, man möge ihnen ein auto­ri­tä­res Regime zubil­li­gen, und ein lin­ker Autor wie Alfred Andersch die „Hal­tung” der Front­ge­ne­ra­ti­on beschwor, die mit der der Résis­tance durch­aus ver­gleich­bar sei und bewun­dernd von den „erstaun­li­chen Waf­fen­ta­ten jun­ger Deut­scher in die­sem Krie­ge” sprach.
Es hat die dann ein­set­zen­de Ent­wick­lung seit dem Ende der vier­zi­ger Jah­re schon die meis­ten die­ser Vor­stel­lun­gen besei­tigt, aber das Kli­ma war doch immer noch von einer gro­ßen Offen­heit geprägt, und die intel­lek­tu­el­le Rech­te spiel­te dabei eine wich­ti­ge Rol­le. Man konn­te durch­aus das Emp­fin­den haben, als ob Män­ner wie Gott­fried Benn, Ernst Jün­ger und Mar­tin Heid­eg­ger die Debat­te bestimm­ten, wäh­rend ihre Geg­ner ver­gleichs­wei­se ein­fluß­los blie­ben. Ähn­li­ches wäre in bezug auf Arnold Geh­len oder Hans Frey­er zu sagen. Aber sie alle wuß­ten natür­lich, daß sich die poli­ti­sche Kon­stel­la­ti­on gegen­über der Wei­ma­rer Zeit gra­vie­rend ver­än­dert hat­te und such­ten kei­ne unmit­tel­ba­re Wie­der­an­knüp­fung an älte­re Positionen.
Der Kal­te Krieg beherrsch­te damals die Gemü­ter, und zu den am meis­ten dis­ku­tier­ten Stel­lung­nah­men der fünf­zi­ger Jah­re gehör­te Win­fried Mar­ti­nis Buch Das Ende aller Sicher­heit. Die­se „Kri­tik des Wes­tens” argu­men­tier­te unter aus­drück­li­cher Bezug­nah­me auf Carl Schmitts Bestim­mung des Poli­ti­schen durch die Unter­schei­dung von Freund und Feind, for­der­te die Auf­ga­be aller Wie­der­ver­ei­ni­gungs­er­war­tun­gen, die Schaf­fung einer Armee, die den Namen ver­dien­te – und die Besei­ti­gung der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie. Unter Ver­weis auf das Regime Sala­zars in Por­tu­gal emp­fahl Mar­ti­ni die Wie­der­an­knüp­fung an das Kon­zept des „Neu­en Staa­tes” wie es schon von den Jung­kon­ser­va­ti­ven dis­ku­tiert wor­den war, um den Zer­set­zungs­er­schei­nun­gen ent­ge­gen­zu­tre­ten und einen fes­ten Damm gegen den Kom­mu­nis­mus zu bilden.

Selbst­ver­ständ­lich fand die Argu­men­ta­ti­on schar­fen Wider­spruch, aber es wur­de nicht bezwei­felt, daß sie eine Aus­ein­an­der­set­zung ver­dien­te. Dolf Stern­ber­ger, der Grals­hü­ter des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Libe­ra­lis­mus, sprach aus­drück­lich von einem „erz­ge­schei­ten” Buch, und nie­mand kam auf die Idee, Mar­ti­nis Mit­ar­beit an der Zeit oder sei­ne Posi­ti­on als Kom­men­ta­tor des Baye­ri­schen Rund­funks in Fra­ge zu stellen.
Einen gewis­sen Schutz bot ihm, daß auch er zu den Geg­nern des NSRe­gimes gehört hat­te. Wegen eines 1943 aus­ge­spro­che­nen Berufs­ver­bots erteil­te ihm die ame­ri­ka­ni­sche Besat­zungs­be­hör­de sofort nach Kriegs­en­de eine Arbeits­ge­neh­mi­gung als Jour­na­list. Er befand sich damit in einer Posi­ti­on, die sonst nur Kon­ser­va­ti­ve jüdi­scher Her­kunft in Anspruch neh­men konn­ten – Hans-Joa­chim Schoeps, Wil­liam S. Schlamm, Hans Roth­fels – und die eine gewis­se Unan­greif­bar­keit sicher­te. Aber das allein war es nicht. Hier spiel­te auch hin­ein, daß nie­mand in Fra­ge stell­te, daß kon­ser­va­ti­ve Posi­tio­nen ein Recht auf Gehör hat­ten, weil sie einen ent­schei­den­den Aspekt der Wirk­lich­keit zur Gel­tung brachten.
Dar­aus erklärt sich auch, daß Mar­ti­ni nach dem ers­ten einen zwei­ten „Best­sel­ler” schrei­ben konn­te, der 1960 unter dem Titel Frei­heit auf Abruf erschien. In die­sem Buch behan­del­te er ein Pro­blem, das zu den am hef­tigs­ten dis­ku­tier­ten der sech­zi­ger Jah­re wer­den soll­te: die Fra­ge eines Not­stands­rechts. Es ging dabei um das Pro­blem der Staat­lich­keit der Bun­des­re­pu­blik über­haupt, und die kon­ser­va­ti­ven Stel­lung­nah­men kreis­ten alle um die Mög­lich­keit ihrer Stär­kung. Die klei­nen Fluch­ten und der gro­ße Exis­ten­tia­lis­mus der fünf­zi­ger Jah­re waren Ernüch­te­rung gewi­chen. Es ging dar­um, ein Gemein­we­sen zu sta­bi­li­sie­ren, das lan­ge Zeit im Wind­schat­ten der west­li­chen Vor­macht exis­tiert hat­te und in dem sich jetzt eine Stim­mung breit­mach­te, als gehe es in der Poli­tik um Fra­gen der Sozi­al­tech­no­lo­gie, der Mensch­heits­be­glü­ckung und der Klä­rung mora­li­scher Probleme.
Die „unbe­wäl­tig­te Ver­gan­gen­heit” war in dem Zusam­men­hang ein ent­schei­den­des Stich­wort, und der Erfolg, den die Lin­ke und jene Libe­ra­len, die immer deut­li­cher der Lin­ken zuneig­ten, bei der Instal­la­ti­on der „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung” hat­ten, führ­te zu einer deut­li­chen Ver­än­de­rung und Ver­schär­fung des Ton­falls in den poli­ti­schen Debat­ten. Es war aber nicht so, als ob Pole­mik für die Kon­ser­va­ti­ven ein Pro­blem dar­ge­stellt hät­te. Auf ihrer Sei­te gab es Federn, die es dies­be­züg­lich mit jedem Geg­ner auf­neh­men konn­ten. Zu den bekann­tes­ten gehör­te Armin Moh­ler. 1965 erschien des­sen Buch Was die Deut­schen fürch­ten im See­wald-Ver­lag, der sich bald zu einem der wich­tigs­ten kon­ser­va­ti­ven Häu­ser ent­wi­ckeln soll­te. Moh­ler behaup­te­te dar­in, daß man den Deut­schen nach dem Zwei­ten Welt­krieg das Mark aus den Kno­chen geso­gen habe. Es gab kaum ein heik­les The­ma, das er aus­ließ: von der Fra­ge nach der Schuld am Zwei­ten Welt­krieg über die Kon­se­quen­zen der „Umer­zie­hung” bis zur Not­wen­dig­keit, die West­bin­dung zu kap­pen und der Bun­des­re­pu­blik im Bünd­nis mit Frank­reich eine selb­stän­di­ge ato­ma­re Bewaff­nung zu verschaffen.

Das Buch war ein gro­ßer Erfolg, so groß, daß sich der Ull­stein-Ver­lag ent­schloß, 1966 eine erwei­ter­te Taschen­buch­aus­ga­be zu brin­gen. Auch die ver­kauf­te sich gut, so daß eine wei­te­re Auf­la­ge nötig wur­de. Aller­dings kam es wäh­rend­des­sen zu einer dra­ma­ti­schen Ver­än­de­rung. 1967 soll­te Moh­ler zu den Trä­gern des Kon­rad-Ade­nau­er-Prei­ses gehö­ren, und die­ser Vor­gang bot den Anlaß zu einer „Hexen­jagd”, wie sie zum wich­tigs­ten Instru­ment eines lin­ken McCar­thy­is­mus wer­den soll­te: gemeint ist die Hatz auf das „rech­te”, bald schon „reak­tio­nä­re”, „faschis­to­ide”, „faschis­ti­sche”, „nazis­ti­sche” Opfer unter Betei­li­gung sämt­li­cher Medi­en, der alten (Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten) wie der neu­en (Rund­funk und Fern­se­hen). Ziel war die Äch­tung, wenn mög­lich sozia­le Ver­nich­tung des Betrof­fe­nen, der bei Ankla­ge als schul­dig galt und dem selbst­ver­ständ­lich kei­ne Mög­lich­keit ange­mes­se­ner Ver­tei­di­gung ein­ge­räumt wurde.
Der­ar­ti­ge Hexen­jag­den haben sich seit­her immer wie­der voll­zo­gen und an Bru­ta­li­tät zuge­nom­men. Ihre Opfer waren regel­mä­ßig Kon­ser­va­ti­ve: von Moh­ler ange­fan­gen über Schoeps, Hell­mut Diwald, Ber­nard Will­ms bis zu Ernst Nol­te und Rai­ner Zitel­mann. Wich­tig war dabei die Wir­kung der Ver­fe­mung, die sich immer zuerst bei jenen zeig­te, die man eigent­lich auf sei­ten der Gejag­ten erwar­tet hät­te. Auch inso­fern war der Fall Moh­ler sym­pto­ma­tisch für die qua­li­ta­ti­ve Ver­än­de­rung, die in den sech­zi­ger Jah­ren statt­fand. Hat­te der Ull­stein-Lek­tor Wolf Jobst Sied­ler noch 1965 in einem fast fle­hent­li­chen Ton Moh­ler gebe­ten, sei­nen Ver­lag im Fall eines neu­en Buch­pro­jekts in Betracht zu zie­hen und sich im wei­te­ren dank­bar für des­sen Emp­feh­lun­gen gezeigt (was bei­spiels­wei­se die Über­set­zung von Roma­nen Drieu la Rochel­les betraf), so hat der­sel­be 1967 nicht gezö­gert, die Taschen­buch­aus­ga­be von Was die Deut­schen fürch­ten zurück­zu­zie­hen, um wirt­schaft­li­chen Scha­den durch Boy­kott der „Pro­gres­si­ven” abzuwenden.
Was sich hier abspiel­te, war nur ein Auf­takt, und die Kon­ser­va­ti­ven sahen auch in den sieb­zi­ger Jah­ren noch kei­nen Anlaß zu über­trie­be­nem Pes­si­mis­mus. Vie­les sprach dafür, daß die neue Vor­herr­schaft der Lin­ken ein Zwi­schen­spiel blei­ben wür­de. Die Stu­den­ten­re­vol­te und die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Ost­po­li­tik der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on hat­ten schon zur Ent­ste­hung einer ganz neu­ar­ti­gen kon­ser­va­ti­ven Publi­zis­tik geführt, die von der Bie­der­keit älte­rer Pro­jek­te weit ent­fernt war. Ein übri­ges taten Ölkri­se und Ter­ro­ris­mus nicht nur in der Bun­des­re­pu­blik, son­dern in allen west­eu­ro­päi­schen Län­dern. 1975 äußer­te Wil­ly Brandt – nicht öffent­lich, aber gegen­über Ver­trau­ten -, daß er fest mit dem Erfolg einer kon­ser­va­ti­ven „Gegen­re­for­ma­ti­on” rechne.

Wahr­schein­lich hing die­se Annah­me auch mit der sym­bo­li­schen Wir­kung jenes Kon­gres­ses zusam­men, der ein Jahr zuvor in der Mün­che­ner Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te unter dem Titel „Ten­denz­wen­de?” abge­hal­ten wur­de. Das Fra­ge­zei­chen war aller­dings sym­bo­lisch, so wie auch die Aus­wahl der Refe­ren­ten: zwei Bekehr­te von links (Her­mann Lüb­be, Golo Mann), ein Katho­lik (Robert Spae­mann), ein Offi­ziö­ser (Hans Mai­er als Baye­ri­scher Kul­tus­mi­nis­ter), ein Schein­kon­ser­va­ti­ver (Gerd Albers) und ein pro­mi­nen­ter Libe­ra­ler (Ralf Dah­ren­dorf). Es war kein ein­zi­ger Ver­tre­ter des authen­ti­schen Kon­ser­va­tis­mus gela­den, aber trotz­dem stieg die Erre­gung der Lin­ken. Der Begriff „Ten­denz­wen­de” wur­de für sie Teil eines Schreck­vo­ka­bu­lars, das jeder zu gebrau­chen hat­te, der wei­ter zu den Wohl­ge­lit­te­nen gehö­ren wollte.
Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann hat berich­tet, daß sie wäh­rend des Kon­gres­ses neben Arnold Geh­len geses­sen und ihn nach sei­ner Mei­nung gefragt habe. Des­sen Ant­wort habe lapi­dar gelau­tet, es gebe kei­ne Ten­denz­wen­de. Gemeint war damit, daß sich Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re zwar eine gewis­se Ernüch­te­rung über das Schei­tern der uto­pi­schen Erwar­tun­gen von ‘68 äußer­te, aber kein Begrei­fen der tat­säch­li­chen Ursa­chen vor­lag. Man wür­de, so die Ein­schät­zung Geh­lens, fort­fah­ren wie bis­her, nur den Ton etwas mäßi­gen, eine Keh­re war nicht im Ernst zu erwarten.
Noel­le-Neu­mann hat die­ser Ein­schät­zung eine Bestä­ti­gung gelie­fert, als sie 1980 ihr Buch Die Schwei­ge­spi­ra­le ver­öf­fent­lich­te. Es han­delt sichum einen der letz­ten gro­ßen publi­zis­ti­schen Erfol­ge von kon­ser­va­ti­ver Sei­te. Ihre Grund­the­se lau­te­te, daß der Mensch, bedingt durch die Emp­find­lich­keit sei­ner „sozia­len Haut”, ganz genau spü­re, wel­che Mei­nungs­äu­ße­rung oppor­tun sei, wel­che nicht. Wer­de erfolg­reich der Ein­druck ver­mit­telt, daß eine bestimm­te Anschau­ung zu ver­tre­ten Nach­tei­le bedeu­te, vor allem den Aus­schluß von gesell­schaft­li­chen Kon­tak­ten, bestehe die Gefahr, daß nie­mand mehr bereit sei, für der­ar­ti­ge Posi­tio­nen ein­zu­tre­ten, schließ­lich ver­schwän­den sie ganz aus dem Kreis des Meinbaren.
Das „Mei­nungs­kli­ma” wird also von der „Iso­la­ti­ons­furcht” mit­be­stimmt, was an sich nicht neu ist. Neu ist aber, daß die moder­nen Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel bis dahin unvor­stell­ba­re Mög­lich­kei­ten bie­ten, auf das Mei­nungs­kli­ma Ein­fluß zu neh­men und vor allem zu sug­ge­rie­ren, daß eine bestimm­te Anschau­ung mehr­heit­lich ver­tre­ten wird, obwohl das fak­tisch gar nicht der Fall ist.
Die Auf­de­ckung und Ana­ly­se die­ses Sach­ver­halts erklärt die außer­or­dent­li­che Gereizt­heit, mit der die Kri­tik auf das Buch von Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann reagier­te. Denn die Stoß­rich­tung ihrer Argu­men­ta­ti­on war ein­deu­tig. Mit Hil­fe der Macht, die die Lin­ke seit den sech­zi­ger Jah­ren in den Medi­en gewon­nen hat­te, war es ihr gelun­gen, Posi­tio­nen durch­zu­set­zen, die ursprüng­lich nur von einer radi­ka­len Mino­ri­tät ver­tre­ten wur­den und sicher nicht all­ge­mein akzep­tiert waren. Die­ser „Links­ruck” erfaß­te dann Stück für Stück den größ­ten Teil der gesell­schaft­li­chen Eli­te. Die Funk­tio­nä­re der ein­zel­nen im Bun­des­tag ver­tre­te­nen Par­tei­en ste­hen seit­her immer deut­lich links von ihren Wäh­lern oder ein­fa­chen Mit­glie­dern; das gilt übri­gens auch für die der Union.

Ange­sichts des­sen ist nicht ver­wun­der­lich, daß sich in den acht­zi­ger Jah­ren ein Zustand ver­fes­tig­te, der durch wach­sen­de Unduld­sam­keit gegen­über jeder Bekun­dung kon­ser­va­ti­ver Posi­tio­nen gekenn­zeich­net ist. Ent­schei­dend war dafür das heim­li­che Ein­ge­ständ­nis der Lin­ken, daß ihr gro­ßer Anlauf geschei­tert war. Die Ent­schlos­sen­heit, kei­ne Debat­te über die Ursa­chen für den gesell­schaft­li­chen Zer­falls­pro­zeß zu dul­den, erklärt die Soli­da­ri­sie­rung und die Aggres­si­vi­tät, mit der man alle ent­ge­gen­ste­hen­den Posi­tio­nen bekämpf­te. Mag Ernst Nol­te 1986 durch „rei­nen Zufall” den „His­to­ri­ker­streit” aus­ge­löst haben, sei­ne Geg­ner waren von Anfang an ent­schlos­sen, ein Exem­pel zu sta­tu­ie­ren. Ange­sichts der aka­de­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Posi­ti­on Nol­tes war der nöti­ge Kraft­auf­wand erheb­lich, aber schließ­lich erfolg­reich. Einer der renom­mier­tes­ten deut­schen His­to­ri­ker wur­de fort­an wie eine Unper­son behan­delt; als sich unter faden­schei­ni­gen Vor­wän­den auch die FAZ von einer Unter­stüt­zung los­sag­te, war die Iso­la­ti­on vollständig.
Kei­ne der Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die in den fol­gen­den zwan­zig Jah­ren – bis zur Gegen­wart – um wirk­li­che oder ver­meint­li­che Gefah­ren „von rechts” ent­facht wur­den, ist der Hef­tig­keit des His­to­ri­ker­streits ver­gleich­bar. Das gilt für den Kampf gegen die „Neue Demo­kra­ti­sche Rech­te” genau­so wie für die Angrif­fe auf die Jun­ge Frei­heit oder den „Auf­stand der Anstän­di­gen”. Der Grund dafür ist die Mar­gi­na­li­sie­rung der Kon­ser­va­ti­ven in einem gesell­schaft­li­chen Sys­tem, des­sen Macht­ha­ber sie bes­ten­falls in Nischen zu dul­den bereit sind.
Es ist an sich kei­ner Bemer­kung wert, daß zwi­schen pos­tu­lier­ter und tat­säch­li­cher Ver­fas­sung eines Gemein­we­sens ein Unter­schied besteht. Aller­dings wird man doch her­vor­he­ben müs­sen, daß ein Sys­tem, das aus­drück­lich die Viel­falt pro­pa­giert – ein Novum in der Geschich­te – sol­che Viel­falt nicht zu akzep­tie­ren bereit ist. Selbst­ver­ständ­lich hat das Estab­lish­ment Ent­schul­di­gun­gen bereit. Die rei­chen von der Behaup­tung, daß den Into­le­ran­ten (denen die Kon­ser­va­ti­ven zuge­schla­gen wer­den) kei­ne Tole­ranz zukom­me, bis zum Ver­weis auf admi­nis­tra­ti­ve Vor­ga­ben, die es erlaub­ten, Mei­nungs­äu­ße­run­gen von die­ser Sei­te über­haupt zu unterdrücken.
Es kommt aber noch ein wei­te­rer Fak­tor ins Spiel, der nur sel­ten offen­ge­legt wird. Näm­lich die, wenn man so will: geschichts­phi­lo­so­phi­sche, Grund­an­nah­me, daß die suk­zes­si­ve Ein­schrän­kung des Plu­ra­lis­mus des­sen tie­fe­rem Sinn ent­spricht. Harold J. Laski, der Vater der moder­nen Plu­ra­lis­mus­theo­rie, hat­te dies­be­züg­lich noch weni­ger Hem­mun­gen: die Geschich­te, so sei­ne Auf­fas­sung, bleibt dem Gesetz des Fort­schritts unter­wor­fen, dem ent­spre­che die Her­aus­bil­dung der plu­ra­lis­ti­schen Gesell­schaft, die ein immer höhe­res Maß an Indi­vi­dua­li­sie­rung der Men­schen för­de­re; sie ent­ste­he auf demo­kra­ti­schem Weg, habe aber nur Berech­ti­gung, inso­fern, sie der Auf­wärts­be­we­gung die­ne. Kon­se­quen­ter­wei­se sag­te sich Laski vom Plu­ra­lis­mus in dem Augen­blick los, als deut­lich wur­de, daß er der Lin­ken nicht dau­er­haft zur Macht ver­hel­fen würde.

Vor die­sem Hin­ter­grund wirkt es von kon­ser­va­ti­ver Sei­te gro­tesk, immer wie­der die Aner­ken­nung als gleich­be­rech­tig­ter Kon­kur­rent im Kampf um geis­ti­gen Ein­fluß zu for­dern. Aus der Per­spek­ti­ve ihrer Geg­ner sind die Kon­ser­va­ti­ven kei­ne gleich­be­rech­tig­ten Kon­kur­ren­ten, son­dern Ver­lie­rer im Gang des his­to­ri­schen Pro­zes­ses, deren Wider­stand gegen das Not­wen­di­ge nicht ein­fach als Mei­nungs­äu­ße­rung, son­dern bei ent­spre­chen­der Hart­nä­ckig­keit als bös­ar­tig oder als kri­mi­nell zu wer­ten ist. Die Beto­nung von Tole­ranz und Kom­pro­miß und das ewi­ge In-der-Schwe­be-Hal­ten der Dis­kurs­theo­rie dür­fen nicht über den dahin­ter ver­bor­ge­nen Macht­wil­len täu­schen. Weder die Pro­pa­gan­da für poli­ti­cal cor­rect­ness noch die Ein­füh­rung des „All­ge­mei­nen Gleich­be­hand­lungs­ge­set­zes” sind als Zufäl­le zu wer­ten; es han­delt sich um Waf­fen aus jenem reich bestück­ten Arse­nal, mit dem alles bekämpft wird, was der har­mo­ni­schen Ent­fal­tung des Plu­ra­lis­mus im Wege steht.
Anders als Laski haben spä­te­re Theo­re­ti­ker nicht mehr behaup­tet, daß der Plu­ra­lis­mus ohne ein inte­grie­ren­des Moment aus­kom­me. Aller­dings hoff­ten sie, daß der Staat nur einen Rah­men für das Wider­spiel der Kräf­te bil­den und sich mehr oder weni­ger mit der Rol­le des Schieds­rich­ters begnü­gen wer­de. Falls das nicht gelin­ge, so Ernst Fraen­kel, der eigent­li­che Begrün­der des „Neo­plu­ra­lis­mus”, dro­he der Plu­ra­lis­mus zur Mas­ke einer neu­en Unfrei­heit zu wer­den: „Erstar­ren die Grup­pen und Par­tei­en zu einer Fas­sa­de, hin­ter denen sich nichts ande­res ver­birgt als das Macht­stre­ben der Büro­kra­tien, der Par­tei- und Grup­pen­ap­pa­ra­te, dann ver­wan­delt sich die plu­ra­lis­tisch-demo­kra­ti­sche Gesell­schaft in eine Mas­se iso­lier­ter Indi­vi­du­en, deren poli­ti­sches Den­ken durch die Mas­sen­kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel uni­form gebil­det wird und deren poli­ti­sche Reak­tio­nen unschwer mit Hil­fe demo­sko­pi­scher Unter­su­chun­gen ermit­telt wer­den kön­nen. Die inne­re Aus­höh­lung der auto­no­men Grup­pen und Par­tei­en muß dazu füh­ren, daß der Mas­sen­wil­le mecha­nisch diri­giert und die Reak­ti­on auf die­se Direk­ti­ven mecha­nisch regis­triert wer­den kann.” Die Kon­se­quenz sei die „Schaf­fung einer form­lo­sen Mas­se”, die in Zei­ten der Kri­se die Basis jeder tota­li­tä­ren Dik­ta­tur bil­de, „sie ver­mag in Zei­ten des kon­ti­nu­ier­li­chen Wohl­stands zu einer alle Krei­se der Bevöl­ke­rung erfas­sen­den Selbst­ge­fäl­lig­keit und Selbst­zu­frie­den­heit und zur Errich­tung eines Regimes zu füh­ren, das kei­ne Kri­tik, kei­ne Kon­trol­le und vor allem kei­ne ech­te Oppo­si­ti­on und daher auch kei­ne Aus­ein­an­der­set­zun­gen kennt, die Alter­na­tiv­lö­sun­gen enthalten.”
Das ist eine bemer­kens­wer­te Beschrei­bung der Gegen­wart aus dem Jahr 1964, die man aber nicht nur wegen ihres pro­gnos­ti­schen Werts beach­ten soll­te, son­dern auch wegen des Hin­wei­ses dar­auf, daß die Aus­ein­an­der­set­zun­gen inner­halb eines plu­ra­lis­ti­schen Sys­tems kei­nen spie­le­ri­schen, son­dern poli­ti­schen Cha­rak­ter haben, daß es also um Fra­gen geht, die der Ent­schei­dung bedür­fen und daß am Kampf um die Ent­schei­dung nur die­je­ni­gen betei­ligt sind, die über Macht verfügen.

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