Wohl sah sich Grass in der ihn kennzeichnenden Larmoyanz, die ihn überhaupt nicht verstehen läßt, was die bösen Leute denn von ihm wollen, eine Zeitlang verfolgt und hat vielleicht sogar wieder die Auswanderung erwogen, wie seinerzeit, als ihn der Spiegel gar zu karikieren wagte. Aber spätestens neuerliche Preisverleihungen und Beifallsbekundungen bei Talkshows haben ihn seiner weiteren treuen Anhängerschaft versichert, der er zur allgemeinen Beruhigung versprechen konnte, er werde sich dem „entarteten” deutschen Journalismus nicht beugen und „auch weiterhin den Mund aufmachen”. Kurz: Wir sollten uns nicht allzusehr um ihn sorgen. Was hätte er wohl auch anderes verdient als schärfste Kritik, selbst wenn sie von Personen kommt, die nun schwerlich die Befähigung zum moralischen Richteramt besitzen: von selbstgerechten Parteikarrieristen etwa, die üblicherweise bei jeder sich bietenden Opportunität sogenannte Vergangenheitsbewältigung zum Zielschießen auf mißliebige Meinungen nutzen oder von jenen Vertretern im vermeintlich konservativen Lager, die dann ebenso alert wie hasenherzig ihre früheren politischen „Freunde” dem Rufmord preiszugeben pflegen.
Im Himmel herrscht zwar größere Freude über einen reuigen Sünder als über neunundneunzig Gerechte. Aber ein klein wenig Vergnügen mag man selbst dort empfinden über den Stolpertritt eines Scheinheiligen. Wer Wasser predigt, sollte nicht Wein trinken. Wer sich als Sittenapostel der Nation aufspielt, sollte nicht schwüle Kokainparties feiern. Wer den Rechtsstaat seinerzeit so vorgeführt hat wie ein prominenter Strafverteidiger von „engagierten”, nur leider ein wenig raubenden und mordenden „Volksbefreiern”, spielt als staatlicher Terroristenjäger eher eine groteske Rolle, es sei denn, er werde Innenminister der Bundesrepublik Deutschland. Und wer sich als Praeceptor Germaniae so mitleidlos anderen gegenüber geriert, muß sich an eigenen Scharfrichter-Maßstäben messen lassen.
Dabei ist – fast scheut man sich, das noch eigens zu erwähnen – das eigentlich Anstößige natürlich nicht die SS-Mitgliedschaft eines Siebzehnjährigen. Auch nicht das jahrzehntelange Verheimlichen. Selbst diese Art von Schweigen kann eine respektable Haltung sein. Denn wer über früheres Tun oder Empfinden verstummt, weil er es mit zunehmendem Abstand, entblößt vom umhüllenden Mantel des damaligen Zeitgeists, fast selbst nicht mehr (völlig) versteht und schon gar nicht einem von rückschauenden Klischees beherrschten Nachgeborenen erklären kann, zeigt gewiß nicht weniger Einsicht als derjenige, der durch wohlfeile nachträgliche Verdammungsurteile oder Entschuldigungsfloskeln glänzt. Das tatsächlich Skandalöse liegt in der lange gelebten Doppelmoral des Herrn Grass, genauer: in seinem für einen repräsentativen Sozialtypus kennzeichnenden Pharisäertum, gemäß dem 68er-Slogan: „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche.”
Es wird Grass’ Geheimnis bleiben, wie er seit Jahrzehnten so entschieden gegen die „Verdränger” wettern konnte – gegen Kohl und Bitburg als Höhepunkt der Infamie – und sich selbst dabei völlig ausblendete. Es ist dies ein Treppenwitz der Zeitgeschichte, denn was Grass und Genossen der vielbelästerten Adenauerschen Restauration vorwarfen, war just diejenige Nachsicht, deren Mangel er heute so mitleidheischend beklagt. Auch warum Grass jetzt gestand, kann nur er alleine beantworten. Waren es PR-Motive, Angst vor fremder Entlarvung oder Erpressung, der perverse Kitzel, im Zentrum eines Medientaifuns zu stehen, oder tatsächlich späte Scham- und Bußfertigkeit? Als Spieler hat er jedenfalls mit höchstem Risiko gepokert und fast alles gewonnen. Aber gerade das wirft Probleme auf, die uns endlich vom unschönen Einzelfall zum Grundsätzlichen bringen.
Warum nur wurde Grass nicht von anderen enttarnt, wo es doch sicher noch weitere Mitwisser gab? Zweifellos stand dem eine massive Interessenkonstellation entgegen, und wir kennen ja auch andere Fälle, in denen das journalistische Juste Milieu jahrelang etwa die „Putzgruppen”- Fotos eines später hochreputierlichen Außenministers und Hochschullehrers gegen alle gängige Skandalpraxis ignorierte. Natürlich gehörte auch eine Riesenportion Glück dazu. Aber daß unsere sonst so gut informierten vergangenheitspolitischen Dossiersammler allesamt gar nichts gewußt oder geahnt haben sollten, will mir nicht so recht in den Kopf.
Plausibler erscheint mir der Umstand, daß sich Hochstapler und Publikum gegenseitig bedingen. Von Karl May bis Erich von Däniken gilt schließlich, daß die Überzeugungskraft des jeweiligen „Meisters” dann am stärksten ist, wenn wir genau diese Identifikationsfigur und Botschaft herbeisehnen. Und da ging es eben offenbar nicht billiger als mit einem moralischen Saubermann. Ein bißchen Flakhelfer war gerade noch tolerabel, SS-Mann hingegen jenseits von Eden, mit der Konsequenz, daß sich die Realität halt ein wenig unseren gestiegenen moralischen Ansprüchen anpassen mußte. So ist das häufig bei Geschichtsschreibung, die bekanntlich, wo sie uns nahesteht, zum überwiegenden Teil aus Geschichtspolitik besteht.
Wenn einundsechzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Geständnis einer politischen „Jugendsünde” zur tausendfach verbreiteten internationalen Topnachricht wird, die wahrlich bedeutsamere aktuelle Themen schlagartig aus der Spitzenposition verdrängt, wenn dieser Hype wochenlang anhält und auch höchste Repräsentanten des Staats oder der veröffentlichten Moral zu Erklärungen nötigt, zeigt dies jenseits der entfachten Medienhysterie, welch hoher Grad an (globaler) Gleichschaltung von Informationen und Ansichten bereits erreicht wurde. Die Meinungsindustrie zum Dritten Reich hat nicht nur ihre eigene Dynamik, sondern auch Kohärenz und Nachhaltigkeit, die einen naiven Beobachter verblüffen könnte: Unsere tägliche NSGruselstory gib uns heute!
Es ist zwar unerquicklich, die in Tausenden von Textzeilen verbreitete Feuilleton-Suada jener Tage erneut zu mustern. Insbesondere Grass’ zweiseitiges (!) Interview in der FAZ, das die Rechtfertigung in eine dreiste Polemik kleidete, war nur mit Ekelgefühlen zu Ende zu lesen. Aber die eine oder andere lesenswerte Pointe war denn doch dabei, auch manche Trouvaille einer wunderschönen Phrasensammlung, die nach einem Fackel-Kraus unserer Tage ruft. Ich denke stellvertretend an Walter Jens. Der nennt Grass’ Bekenntnis „abgewogen, präzise und vernünftig” und vom Zeitpunkt her richtig gewählt: „Vorher wäre manches besserwisserisch erschienen.” (FAZ, 14. August 2006) Tatsächlich? Darauf wäre ich nie gekommen. Auch Heinz Budes Urteil in der Süddeutschen Zeitung (17. August 2006) hat etwas Apartes und zugleich unfreiwillig Ironisches, erst Grass’ „Geheimnis seiner jugendlichen soldatischen Begeisterung” mache ihn „zu einem echten Repräsentanten der Bundesrepublik”, ja verleihe „seiner Person ihre spezifische historische Glaubwürdigkeit (…) Deshalb ist Günter Grass ein würdiger Nobelpreisträger aus Deutschland.” Eine weitere schöne Blüte präsentiert uns Hans Mommsen in der Frankfurter Rundschau. Die Kritik an Grass sei „scheinheilig” und die Vorhaltung „absurd”, daß er sich spätestens zum Bitburg-Anlaß hätte offenbaren sollen. „Das öffentliche Geheul wäre um keinen Grad geringer gewesen.”
Wirklich nicht? War denn nicht der Rundumschlag gegen Verdränger samt „Haltet-den-Dieb”-Pose ausgerechnet an diesem Tag die wohl größte Ungeheuerlichkeit? Und was ist das plötzlich für eine Moral, was für ein Moralist, der sich um Zustimmung oder Ablehnung schert? Beenden wir dies Potpourri der Verwirrung mit Adolf Muschg, der in der FAZ nun wirklich alle Verantwortung vertauschte: „Sieht sie so aus, die Scham eines spät ertappten Sünders? Oder könnte es auch die Scham eines Menschen sein, der angesichts so vieler ertappter Pharisäer einsehen mußte, daß seine Lebensarbeit wirkungslos gewesen ist? Denn: Freien Menschen müßte er jetzt nichts erklären; sie würden an seine Seite treten, wenn er von ahnungslosen Moralisten erledigt werden soll.” (18. August 2006)
Vor allem den ersten Kommentaren merkt man eine gewisse Panik, auch Ratlosigkeit an, wie man den politischen Flurschaden im Lager der professionellen Vergangenheitsbewältiger begrenzen könne. Schon bald kristallisierten sich zwei grundsätzliche Strategien heraus: Die erste lief, solange der Ausgang der Affäre noch nicht absehbar war, auf strikte Abnabelung hinaus, auf schnelles Liquidieren einer Schwachstelle, bevor sie möglicherweise die ganze Art der Geschichtsschreibung à la Grass madig machen könnte. Das gilt etwa für Rolf Hochhuth, der den Vorgang „ekelhaft” oder „widerlich” nannte, Maxim Biller oder den Zentralrat der Juden in Deutschland, während Henryk M. Broders geschäftsfördernde Neigung zum Antigermanismus hierin eher sarkastische Bestätigung erfuhr. Die andere Strategie wiegelte ab. Was sei denn schon dabei?
Wer erregt sich denn noch über solche Jugendsünden? Mäßigen wir uns, denn das sei doch nur Wasser auf die Mühlen der Ewiggestrigen! Hat Grass denn nicht genug gesühnt durch sein vorbildliches Werk? Auch wenn er in diesem Fall gefehlt habe, bleibe doch unbestreitbar sein Beitrag zur Aufklärung und moralischen Sanierung Nachkriegsdeutschlands.
Bei dieser geläufigen Argumentationsfigur wollen wir etwas verweilen. Denn wirkliche Aufklärung ist vielleicht doch etwas mehr als die Geißelung von politischem Unrecht, Versagen und Massenmord. Und so notwendig es war, Vertuschungen und Beschönigungen zurückzuweisen, so aufklärend im umfassenden Sinn ist es ebenso, die jeweiligen Motive ernsthaft zu rekonstruieren, die aus den Beteiligten an Kriegen und Bürgerkriegen Sozialtypen formten, die ihre gemeinsame menschliche Basis zeitweise verleugneten. Dies aber leisten von Abscheu und Haß geprägte Abrechnungen gerade nicht. Indem Grass & Co. nur das Verbrecherische, Häßliche, Gemeine traktierten, teils zusätzlich karikaturistisch verzerrt, verstellten sie die substanzreichere Einsicht, daß jene Zeit nicht nur als moralisches Horrorkabinett, sondern zugleich als Epoche pervertierter Utopien zu kennzeichnen war. Indem sie all das dementierten und als grundsätzlich falsches Bewußtsein ächteten, was an damaligen Überzeugungen und Werten teilweise auch jenseits der spezifischen NS-Ideologie existierte (Nation, „Volksgemeinschaft”, Mut, Kameradschaft, Gemeinsinn, Opferbereitschaft), schufen sie gerade jenes Klima von rückschauendem Unverständnis, das auch für sie selbst die Chance minimierte, künftig ein ehrlicheres und freieres Leben zu führen. Wo das Personal im Dritten Reich angeblich nur noch aus Dämonen, Lemuren, Feiglingen oder kleinbürgerlichen Opportunisten bestand, war es für Nachgeborene schlicht unmöglich sich vorzustellen, wie man bei einem solchen Hexentanz hatte mitspringen können.
Der wahre Aufklärer und Romancier Grass hätte nun aber gerade das leisten sollen, uns die jugendliche Faszination zu veranschaulichen, die bedauerlicherweise nicht nur Jugendliche ergriff. Er hätte dies als Voraussetzung seiner Produktion in einem selbstanalytischen Prozeß tun sollen, jenseits der öffentlichen Schaustellungen oder Rituale einer zweifelhaften Reeducation. Im Idealfall wäre so ein Panorama der Zeit entstanden, das nicht kopfschüttelnde oder selbstzufriedene Distanz des Lesers, sondern partielle einsichtleitende Identifikation hervorgerufen hätte. Die politische Verführung wäre anschaulich geworden, aber auch der Umstand, daß man letztlich verführt werden wollte, die unheimliche Attraktion, sich gesellschaftlich oder gar anthropologisch neu zu gebären, aber auch die Brutalität anderen gegenüber, der Hang zur großen Vereinfachung, die Lizenz zum Töten, die bei der Gelegenheit en passant verliehen wurde, der Lustgewinn, in einem Generationen- wie Nationenkonflikt endlich einmal reinen Tisch zu machen.
All dies wäre wahrlich eines großen Schriftstellers oder Historikers wert. Statt dessen produzierten Grass und viele seiner Kollegen politischmoralische Pappkameraden in der Tradition von Heinrich Manns Untertan. Den repräsentativen Roman, der aufklärerische Identifikation tatsächlich ermöglicht, gibt es nicht im Nachkriegsdeutschland, oder er ist von der veröffentlichten Meinung so ignoriert worden, daß wir kaum zu ihm finden. Daß Dieter Meichsner, Walter Kolbenhoff oder Walter Kempowski es wenigstens versucht haben, wurde kaum angemessen gewürdigt. Das feuilletonistische und theatermäßige Unverständnis, das einer Figur wie Harras in Zuckmayers Des Teufels General entgegenschlägt, spricht Bände.
„Ja, aber”, höre ich die Grass-Freunde sagen, „konnte man diesen notwendigen ideologischen Exorzismus denn anders vollziehen als mit rigorosesten Mitteln?” Gab es überhaupt vertretbare Alternativen zur völligen Verdammung? Gewiß nicht als Beschönigung der Untaten, aber um des tieferen Begreifens willen angesichts weltweiter Moralverdikte als etwas stärkere Einfühlung in die Schuldigen und ihr Fehlverhalten. Die politische Komplexität jener Zeit, die politische Verworrenheit durfte nicht volkspädagogisch simplifiziert werden, selbst wenn man sich dadurch dem Verdacht der Apologie aussetzte. Die Katastrophe war in ihren vielfältigen Ursachen ins Bild zu setzen, statt lediglich geschichtspolitische Instrumente zu präparieren für moralische Erpressungen im Sinne des „korrekten” Tugendterrors unserer Tage. Und nicht zuletzt hätte Grass, wenn es ums Dritte Reich ging, „ich” sagen sollen, nicht nur „die”, was ihn zudem sogar noch besonders befähigt hätte, die Dinge anschaulich werden zu lassen. Dies wäre der schwerere, ehrlichere, allerdings auch steinigere Weg zur tatsächlichen Aufklärung gewesen. Nicht gerade das, was weltweit nachgefragt wurde, wo man in der Regel nur einen Schindler gegenüber zehntausend Schindern akzeptiert. Für Grass hätte diese Haltung etwas weniger an Ruhm versprochen. Nobel- oder Friedenspreise wären wohl nicht dabeigewesen. Es hätte ein tägliches Opfer erfordert, nicht zuletzt die Zurücknahme der eigenen Person gegenüber der Sache. Aber wo man gerade dieser Generation den Heroismus so gründlich ausgetrieben hatte, war offensichtlich auch ein Moment der Zivilcourage mit verlorengegangen.
Daß Grass mit seinem Geständnis so endlos gezögert hat, irritierte auch Gleichgesinnte wie Hans-Ulrich Wehler: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihm damals, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, jemand einen Strick daraus gedreht hätte. Seinem Schreiben selber hätte das nicht geschadet.” (FAZ, 14. August 2006) Diese Einschätzung ist – mit Verlaub, Herr Wehler – ein wenig zu naiv, um seriös zu sein. Eher schon trifft Martin Walsers Diagnose, hier herrsche seit Jahrzehnten nun wahrlich „kein Klima, das einlädt, mit sich selbst freimütig abzurechnen”, eher eines „der Vergiftungen, der schnellen Verdächtigungen und des Rufmordes”. Walser vergißt in seiner kollegialen Schützenhilfe nur, daß es ausgerechnet Inquisitoren wie Grass waren, die wesentlich zu dieser neurotischen Atmosphäre beigetragen haben. Denn wer im bundesrepublikanischen Bewältigungsklima eine echte literarische Chance haben wollte, durfte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, offiziell keinen Vergangenheitsmakel aufweisen.
Exemplarisch zeigt dies der Fall Hans Baumann, der, als Hitler an die Macht kam, ganze achtzehn Lenze zählte. Es half ihm nichts, daß er nach dem Krieg völlig auf die Linie christlicher Toleranz umschwenkte und in einem entsprechenden anonym eingesandten Theaterstück sogar zunächst den Gerhart-Hauptmann-Preis gewann. Der wurde ihm nach Aufdeckung seiner wahren Identität flugs aberkannt, und Reich-Ranicki persönlich exekutierte dann das Stück nach Strich und Faden. Das war die Regel. Die Verstrickten jener Jahrgänge wurden von den nachdrängenden Eliten des Kulturbetriebs über die Moralschiene aus der Literaturgeschichte hinauskatapultiert. Ja, selbst das bloße Faktum der Nicht-Emigration erwies sich für den Nachruhm vieler deutscher Autoren als kaum zu meisterndes Handicap.
Nein, wir dürfen die Problematik nicht retrospektiv entschärfen. Denn im großen und ganzen hatte diese (schuldige wie beschuldigte) Generation zunächst nur eine Chance, wenn sie die (vollständige) Wahrheit verschwieg. Viele flüchteten in Lebenslügen, aber das gilt auch für heutige Kritiker, die nicht wahrhaben wollen, daß es für solches Verhalten mas- Autoren sive Gründe gab. Völlig aufrichtig zu sein, hätte für diese Zwanzig- bis Dreißigjährigen bedeutet, ihre berufliche Zukunft weitgehend abschreiben zu müssen, bevor sie nach einer fremdbestimmten Jugend erst richtig begann. Das mag man als geradezu religiöse Sühneleistung begrüßen, ob man es vom Großteil dieser Jahrgänge schlicht einfordern konnte, überlasse ich dem Urteil von Nachgeborenen mit verminderter Neigung zum Pharisäertum.
Das öffentliche Verständnis ist übrigens mit dem Abstand von Jahrzehnten keineswegs größer geworden, sondern durch eine flächendeckend zur Ersatzreligion erhobene Monumentalisierung der Schuld eher geringer. Insofern überrascht es, wenn nun plötzlich für Jens Jessen die „Untadeligkeit des Autors” für die moralische oder ästhetische Überzeugungskraft seines Werks keine Rolle mehr spielen soll (Zeit, 17. August 2006), oder Stefan Chwin dem Künstler Grass konzediert, seine Biographie nach Belieben zu „kreieren”: „Ein echter Schriftsteller trägt sein Leben lang in seinen Ärmeln ein schwarzes As, das er niemals auf den Tisch werfen wird” (FAZ, 25. August 2006). Gegenteilige Vorwürfe beträfen laut Fritz Raddatz lediglich „außerliterarische” Kategorien, „geeignet für den Leitartikel, nicht die Literaturkritik” (Zeit, 17. August 2006). Kunstwerke transzendierten ihren Schöpfer, meint Felicitas von Lovenberg (FAZ, 16. August 2006) und so weiter. Solche Auffassungen sind mir nicht unsympathisch, nur haben sie leider gar nichts mit den gängigen Nachkriegsgepflogenheiten zu tun, vieles hingegen mit einer schnellstens erlassenen ästhetischen Lex Grass. Denn üblicherweise haben Veröffentlichungen zur Kultur im Dritten Reich nur eine dominierende Zielrichtung: den Nachweis persönlichen Fehlverhaltens mit umgehend negativen Folgen für die künstlerische Bewertung. Ganze Bibliotheken lassen sich füllen mit solcherart nachträglichen „Spruchkammerverfahren”, die vielfach genuin philologische Textbetrachtungen zu erübrigen scheinen.
Zurück zur unmittelbaren Nachkriegszeit und den „Flakhelfer”-Jahrgängen. Sie suchten einen Ausweg aus ihrer Klemme, und einige fanden ihn schnellstens. Er lag darin, sich nicht länger als Teil der „verlorenen Jugend” gegen kollektive Inkriminierung zu wehren, sondern diese offensiv mitzumachen, in der Regel auf Kosten anderer. So mutierten zahlreiche kollektiv Verdächtigte durch radikalen Frontwechsel zu emsigen „Vergangenheitsbewältigern”, akzeptierten auch pauschale Anklagen, ohne dafür (jenseits allgemeiner Reuefloskeln) persönlich einzustehen, witterten überall ideologische Erzübel oder neonazistische Umtriebe oder wetterten gegen Verdränger und Verschweiger. Ein wahrlich attraktives Reinwaschungsverfahren. Denn es bot einfache Rettung aus dem demütigenden Unterworfensein unter einen Schuldvorwurf und, nachdem es mittels neuer Eliten inthronisiert war, sogar die willkommene Chance eigener Machtausübung. Ein einziger entsolidarisierender Schritt ins Lager der Sieger genügte. Schon wurden aus deprimierten Geschlagenen – (doppelte) Moral macht’s möglich! – einflußreiche Inquisitoren, aus Verfemten „moralische Gewissen”. Ihr Pharisäertum eignete sich bestens als (literarisches) Kapital, zumal sich solche Botschaften auch international vermarkten ließen.
In der SBZ war dies offizielle Leitlinie. Wer nicht zur NS-Prominenz gehört hatte und jung war, durfte nach einer kurzen Phase sozialistischer Gehirnwäsche nun sofort für die „richtige” Sache streiten: Franz Fühmann etwa oder Erich Loest. Aber auch im Westen lernte man prompt hinzu. Einer der ersten, der das Prinzip begriff, war Wolfgang Weyrauch, der noch im April 1945 in Goebbels’ Reich den Hölderlinschen Tod fürs Vaterland besungen hatte. Nach Kriegsende „bewältigte” er jedoch zunächst einmal die Vergangenheit von Ernst Jünger, der immerhin im Gegensatz zu ihm viel vorausschauender gewesen war und den seinem Kommando unterstehenden Volkssturm nach Hause geschickt hatte. Auch für Wolfgang Staudte war es gewiß vorteilhafter, sich bereits 1946 mit Filmen wie Die Mörder sind unter uns an der ideologischen Säuberung zu beteiligen oder im Untertan den deutschen Volkscharakter aufzuspießen, als über seine Rolle in Jud Süß zu reden. Und mir stehen Dutzende vergleichbarer Karrieren vor Augen.
Viele Bücher ließen sich darüber schreiben. Doch man hüte sich, nun gleichfalls einem billigen Moralismus ex post zu verfallen, wo es nur dar um geht, ein generationstypisches Verhaltensschema zu verdeutlichen. Denn die Koeppen, Andersch, Eich oder Staudte, die Jens, Jauß, Schöne, Höfer, Fritz Fischer, Schwerte, Höllerer, Habermas oder Wapnewski hatten alle ihre spezifische Vergangenheit. Mal war es eine kurze jugendliche Berauschung, mal etwas mehr, mal eine Mitgliedschaft, die dann vergessen wurde, mal war’s nur eine Unterlassung, die man später als schuldhaft empfand. Man sollte es keineswegs überbewerten, auch nicht den Umstand, daß die meisten später ein bißchen von ihrer Biographie vergaßen, falls sie solche Amnesie nicht dazu nutzten, umso kräftiger auf andere einzuprügeln.
Nun mag man einwenden, daß der Haß dieser Generation auf ein Umfeld, das ihre Jugend ruiniert, sie mit weltweiter Schuld oder zumindest entsprechenden Vorwürfen beladen hat und ihre unmittelbare Zukunft für Jahrzehnte zu verbauen schien, doch wohl mehr als verständlich sei. Welchen Grund hätten sie gehabt, diejenigen zu schonen, die ihnen das alles eingebrockt hatten? Welche Solidarität sollten sie für eine Gemeinschaft aufbringen, die sie zunehmend als widerwärtiges Kollektiv empfanden? In dieser Phase des totalen Ideologieverdachts war sich wohl jeder selbst der nächste, und mit der Pauschalkritik traf man immerhin häufig genug auch wirklich Verantwortliche. Zur Erklärung ihrer Motive reicht das aus, nicht aber zur generellen Rechtfertigung, und schon gar nicht sollte man diese Fremdbezichtigungen mit ehrlicher Aufarbeitung verwechseln. Was Grass & Co. nämlich völlig dabei verlorenging, war ein Gefühl für das Mechanische oder auch „Unmoralische” dieser neuen Moral. Denn nicht selten kam es zum bloßen Austausch von Freund- und Feindbildern, zur abrupten Desertion ins Lager der jeweiligen (ideologischen) Sieger. Statt Faschismus nun eben Antifaschismus, statt Antisemitismus nun eben Philosemitismus, statt Antikommunismus nun Kommunismus, statt Lob der Diktatur nun Teil einer Gesinnungspolizei im Dienst radikaler „wehrhafter” Demokratie. Brechts Mann ist Mann dient für solche Metamorphosen als lehrhaftes Modell.
Man könnte Mitleid mit jenen Mentalitäten haben, wären die Folgen ihres Zelotentums nicht so langwierig und selbst heute noch geistig strangulierend. Auch ein linker McCarthyismus dient nicht der Polithygiene. Aber solcher Eifer war eben einer zweiten Sozialisation geschuldet, die mit Umerziehung eher beschönigend umschrieben wird. Wer sich gegen Lebensmittelkarten gefilmte KZ-Greuel ansehen mußte, hat die Lektion ein für allemal begriffen. Auch in solchen makabren Zusammenhängen gilt: „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’ ”, was schließlich sogar wörtlich zutraf, als der Kalte Krieg ganz neue Optionen bot.
Gab es eine bessere Alternative? Vermutlich angesichts des millionenfachen Leids und entsprechender Sühnebedürfnisse nur eine politisch nicht durchsetzbare, etwa in der Art, wie Zuckmayer seine moralische Wiederaufbauarbeit verstand: eine, die auf Verständnis setzte und zu einem nicht risikolosen Vertrauensvorschuß bereit war. Wer dieser Jugend (ökonomisch wie ideell) nochmals eine wirkliche Chance gegeben, wer ihr Zeit gelassen hätte, zu sich selbst zu finden, und sie nicht gleich wieder durch bestellte Reuebekenntnisse oder neue Frontstellungen moralisch vereinnahmte und überforderte, hätte wohl auch ihre Seele gerettet. Denn wer von den Jungen diesen gigantischen konkret erlebten Zusammenbruch ideeller Welten ohne Zwang hätte aufarbeiten dürfen, wäre – davon bin ich überzeugt – mehrheitlich für totalitäre Faszinationen lebenslang immunisiert worden. Man hätte sie allerdings auch nicht so leicht in diese oder jene Richtung hin manipulieren können, selbst nicht durch Verführungen sogenannter „Gutmenschen”.
Auch ihnen hätte sich schamvoll das Unrecht ihrer Zeit erschlossen. Doch wenn sie öffentlich die Lehren daraus zogen, hätten sie nicht nur von anderen gesprochen oder geschrieben. Und wenn sie sich dem versagten, dann, weil es ein Letztes gibt, das manchmal vielleicht doch besser ungesagt bleibt. Oder auch schlicht aus einer altmodischen Hemmung heraus: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein”. Auch dies wäre ein (Ver-)Schweigen gewesen, aber eben ein anderes als dasjenige von Günter Grass.