Leben und Werk eines zeitgenössischen Dichters zu skizzieren, ist um so schwieriger, wenn man mit ihm in persönlichem, freundschaftlichem Austausch steht – und es fällt ganz besonders schwer, wenn es sich um Rolf Schilling handelt, den bedeutendsten deutschen Lyriker der Gegenwart, der noch immer im Verborgenen haust und dessen gewaltiges, zu weiten Teilen unveröffentlichtes Gesamtwerk so komplex und vielschichtig wie von der Forschung gänzlich unerschlossen ist.
Die äußeren Lebensdaten sind, da er sich sowohl eines bürgerlichen Berufes als auch des Literaturbetriebs weitgehend zu entziehen verstand, schnell zusammengefaßt – selbst in seiner Gleichgültigkeit gegenüber unserer Erlebnis‑, Medien- und Eventgesellschaft liegt schon eine Provokation. Rolf Schilling wurde am 11. April 1950 in Nordhausen in Thüringen geboren, studierte Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität und war sodann einige Jahre als Dozent am Institut für Marxismus-Leninismus der Technischen Hochschule in Ilmenau tätig, bis er sich 1977 in die »innere Emigration« zurückzog, ohne freilich in Isolation zu verfallen. Er führte umfangreiche Briefwechsel, insbesondere seit Anfang der achtziger Jahre, durch Stephan Hermlin vermittelt, mit Ernst Jünger, später auch mit Leni Riefenstahl und Arno Breker, der seinen Gedichtband Tage der Götter (1991) illustrierte – neben diese in ihrem jeweiligen Metier herausragenden Künstler traten zahlreiche jüngere oder wenig bekannte Briefpartner und Freunde, darunter Musiker, Maler, Autoren, Publizisten und Privatgelehrte.
Ein Höhepunkt seines Lebens war sicher die persönliche Begegnung mit Jünger, die nach der Wende möglich wurde. Politisch waren ihm Mauerfall und Wiedervereinigung, obwohl er sein Dichtertum als national verwurzelt versteht, erstaunlich gleichgültig, wie seine Tagebücher jener Zeit belegen – sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik sieht der von der Stasi umfänglich Bespitzelte nur als Episoden der deutschen Geschichte, um deren ideologische Vorgaben und Maßstäbe er sich im wesentlichen nicht zu bekümmern habe. Gleichwohl erweiterte der Umbruch von 1989/90 seinen äußeren Freiraum und ließ ihn publizistisch erstmals in größerem Umfang hervortreten: Seit 1990 erschien im Arnshaugk Verlag seines damaligen Dichterfreundes Uwe Lammla eine – für einen lebenden und recht unbekannten Dichter erstaunlich breit angelegte und bibliophil ausgestattete – Ausgabe seiner Dichtungen, Übersetzungen, Essays und Tagebücher, deren letzter Band 1997 publiziert wurde; seitdem gehen die beiden, die lange durch ein kompliziertes Verhältnis von »Meister-« und »Jüngerschaft« verbunden waren, getrennte Wege.
Die neunziger Jahre brachten Schilling auch eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit: Ernst Jünger erwähnt ihn mehrfach in seinem Tagebuch Siebzig verweht und spricht ihm eine heute kaum noch anzutreffende Autorschaft zu, ein individuelles Ausdrucksvermögen, das man an jeder Strophe seiner Gedichte erkenne. Carl Corino, der damalige Intendant des Hessischen Rundfunks, stellte Schilling in mehreren Hörfunk-Essays vor; in der Neuen Zürcher Zeitung erschien ein umfangreiches Portrait über ihn, und in Lutz Dammbecks Film über Arno Breker kam er in einem langen Interview zu Wort. Eine ausführliche Würdigung erhielt Schilling auch in dem Buch Schwarze Sonne des Filmemachers Rüdiger Sünner, der seinen freien Umfang mit archaischen Mythen und Symbolen als Alternative zu deren (tatsächlichem oder vermeintlichem) Mißbrauch während des Nationalsozialismus und in der rechtsextremen Esoterik der Gegenwart hervorhob.
In der Tat ist es Schillings Beheimatung im Mythos, aber auch seine unvergleichliche Sprachgewalt sowie seine – faszinierende oder verstörende – Distanz zu allen heute üblichen Denk- und Sprachgewohnheiten, die politisch oder religiös Suchende in seine Nähe zieht. Manche wollen zuweilen einen der Ihren in ihm erkennen und suchen ihn, als patriotischen Dichter oder Exponenten eines neuen Heidentums in ihr jeweiliges Boot zu holen. Schilling verfolgt solche Anliegen zwar mit Interesse und zuweilen mit Sympathie, aber sein poetisches Selbstverständnis widerstrebt letztlich jeder weltanschaulichen Indienstnahme: »Das Gedicht ist nicht Mittel zum Zweck, sondern als Quintessenz unserer Geistes- und Seelenkräfte das Höchste für uns Erreichbare, in dem wir Erfüllung, Erhebung und vielleicht Erlösung finden.«
Allerdings hat Schilling solchen Mißverständnissen durch die geistesaristokratischen, von Nietzsche und George inspirierten Tendenzen seines Essaybandes Das Holde Reich (1990) durchaus Vorschub geleistet. Es liegt nahe, in diesem symbolischen Bild eine Anknüpfung an das von Stefan George 1928 poetisch umrissene »Neue Reich« oder den Versuch der Neuschöpfung eines »Geheimen Deutschland« im Sinne des George-Kreises zu sehen, zumal Schilling im Quedlinburger Prolog (1981) zum titelgebenden Essay die Traditionen Georges und der Romantiker, der Staufer wie der mittelalterlichen Mystiker und noch die Vorzeit der eddischen Skalden aufgerufen hat. Der Band ist bis heute sein populärstes Buch und kann noch immer als Einstieg in sein Werk dienen, sollte aber keinesfalls als dessen »Summe« oder faßlicher Extrakt angesehen werden, zumal Schilling selbst wiederholt von seinem Versuch einer bewußten Traditionsstiftung Abstand genommen hat: Zum einen habe er, wie er im Rückblick feststellt, seine Traditionslinie zu eng gezogen, zum anderen aber – und dies ist wohl noch entscheidender – sei er mittlerweile von der Idee eines Bundes abgerückt. Nur der »souveräne Einzelne«, der »Solitär«, ist für ihn derjenige, »der seine Zeichen setzt«, auch wenn sich verwandte Geister in seinem Schaffen wiedererkennen. In diesem Sinne hat Schilling von sich gesagt: »Das Holde Reich bin ich« und identifiziert es doch auch mit der Landschaft seiner Heimat, der Goldenen Aue »zwischen Harz und Kyffhäuser, wo der ganze Palimpsest von deutschem Mythos, Traum und Wahn zum Erbe gehört.«
Aufgrund solchen Anspruches des dreißigjährigen Dichters, bei dessen damaligen Zusammenkünften von Neulingen die Abfassung eines Sonetts aus dem Stegreif verlangt wurde, stellen sich viele auch den mittlerweile über Sechzigjährigen als elitären Dichterpropheten und Gebieter über einen Kreis junger Adepten vor – sie dürften wohl überrascht sein, wenn sie dem unscheinbar gekleideten, hageren und graubärtigen Mann zum ersten Mal persönlich begegnen, dessen schlichtes und zunächst zurückhaltendes, bei näherer Bekanntschaft herzlich-bescheidenes Auftreten frei von jeder Pose ist. Zwar ist ihm das Männerbündische auch heute nicht fremd, aber es hat sich ein gutes Stück weit ins Spielerische und (Selbst-)Ironische verlagert – etwa wenn von jedem Neuling bei der alljährlich im Oktober stattfindenden »Questenwanderung« zum Scherz verlangt wird, einen Bissen von einem Fliegenpilz zu sich zu nehmen (was einige dann tun und andere nicht, ohne daß dies »überprüft« würde oder in einem feierlich-initiatiorischen Rahmen stattfände).
Überhaupt ist Schillings Werk nur demjenigen einigermaßen zugänglich, der dessen spielerische Züge, seine Freude am Kombinatorischen und seinen kaleidoskopischen Blick begreift, die sich – von den ihren Meister oder ihr Aushängeschild suchenden Adepten und Ideologen unbemerkt – durchaus mit der Gültigkeit ästhetischer Formen und Urteile sowie mit der Hermetik seiner Verse vertragen.
Schilling selbst versteht sich nicht in erster Linie als »Seher«, der geheime Offenbarungen kundtut, sondern vielmehr, wie er in seinem Questen-Gesang sagt, als »blinder Kurier«. Der Dichter ist also eine Gestalt des Übergangs und »Interregnums«; indem er ins Wort bannt, was ihm an Gesichten in Rausch und Traum zuströmt, schöpft er einerseits »aus dem Quell« und formt andererseits »die Dinge vom Ende her«. Wie er im zeitlichen Sinne von den Extremen, von den Ursprüngen und der Zukunft, herkommt, so ist er – als »Aar auf dem Gipfel« (für seine Zeitgenossen auch »the fool on the hill«, man könnte ebenso sagen: Adler und Kauz) – in seiner räumlichen Metaphorik dem Oben und Unten verbunden und stiftet dadurch eine nur für Augenblicke aufscheinende Mitte: »Er war in der Unterwelt, bei den Müttern. Von ihnen übernahm er das Seher-Amt. Aber er ist auch jener, der von der Erde zum Himmel steigt. Er ist der Adler im Schlangen-Maß. Auf hohen Bergen hat er seinen Horst. Er tritt aus der Gebundenheit heraus, er fügt Muster, baut Modelle, er setzt Zeichen, die er wieder löscht. Sein Gesang ist auch Geist, ist Luxus, ist Spiel. Ihm erst gewährt sich das freie, beflügelte Wort«. (»Stier, der sich opfert – Aion, der spielt«, in: Schwarzer Apoll)
Ein Symbol, das für Schilling Maß und Ordnung, Ober- und Unterwelt, in besonderer Weise repräsentiert, ist die bereits mehrfach erwähnte Queste: ein Relikt uralten Sonnenkultes in Gestalt eines rund zwölf Meter hohen, abgeschälten Baumstammes, der, mit einem großen Kranz und zu beiden Seiten von diesem herabhängenden »Quasten« geschmückt, noch heute auf dem Questenberg oberhalb des gleichnamigen kleinen Ortes im Südharz errichtet wird und alljährlich zu Pfingsten im Mittelpunkt volkstümlicher Bräuche und Festgelage steht. Obwohl Schilling der Queste seinen wohl bekanntesten Gedichtzyklus, den Questen-Gesang, gewidmet hat, der das Kernstück des gleichnamigen Gedichtbandes bildet, ist er keinesfalls ein Heimatdichter im herkömmlichen Sinn; auch die heimische Goldene Aue war für ihn »nur der Einstieg« in eine symbolische Welt, in der sich Götter und Mythen der Germanen mit solchen der Griechen und Ägypter, der Inder und Chinesen verbinden.
»Einstieg« ist eine zentrale Chiffre sowohl für den schwierigen Zugang zu Schillings mythischen Welten als auch vor allem für den persönlichen Drang des Dichters in die Tiefe, den er zuweilen als geselligen »Grottengang« in der Karstlandschaft um den Kyffhäuser pflegt. Selbst dem Sonnen- und Weltbaumsymbol auf dem schroffen Questenberg korrespondiert daher in seiner symbolischen Schau eine verborgene »Untere Queste«.
Trotz Schillings von Ernst Jünger hervorgehobener Herkunft aus der nordischen Sagenwelt, seiner »mythisch-heraldischen Grundhaltung«, ist er in erster Linie Schöpfer und Ordner seiner aus kulturellen Archetypen wie persönlichen Traumbildern verdichteten Bildbestände.
Als »Heide« möchte er allenfalls in dem Sinne bezeichnet werden, in dem man Goethe den »großen Heiden« genannt hat; seine Dichtung ist also nicht primär Ausdruck einer religiösen Welterfahrung, sondern spricht, wie in Schillings Augen jede wirkliche Dichtung, für sich allein. Der Dichter gibt keine Antworten, sondern er gibt Rätsel auf. Er erscheint auch sich selbst als Fragender, als »Quester« in der von Schilling aus der mittelalterlichen Gralsdichtung übernommenen, aber erweiterten und subjektivierten Gestalt des ausfahrenden, seine Bestimmung suchenden Helden, und treibt während seiner Traumreisen ein mythologisches Maskenspiel (im griechischen Wortsinne ein Spiel mit »Charakteren«), in dem sich die Gegensätze verbinden: das Untere mit dem Oberen – die Schlange mit dem Adler –, Mann und Weib in androgynen Formen, Tod und Wiederkehr im Bilde des sich selbst opfernden und verjüngenden Phönix, oder auch das heimische Refugium, die Welt der Pilze, Beeren und Blumen, mit den entferntesten Sagenwelten. So besticht seine Dichtung durch Nähe und Präzision, wenn er etwa in dem Zyklus Reife Beeren das Wesen einer Stachelbeere zu fassen versucht.
Dann aber läßt er seinen Geist wieder in Pyramiden, Troja, der mythischen Thule, den Tempeln von Angkor verweilen. »Alles Symbolische deutet aufs Ganze«, und der Dichter kann sich der verschiedensten »Stimmen der Völker« bedienen: Wenn Schilling vom nordischen Dichter sagt, dieser schaffe Bilder, und vom arabischen, daß er mit Bildern spiele, so ist er gleichermaßen dieser wie jener. »Subtiles und Elementares, Messingstadt und Pilz-Paradies treffen sich im Symbol des Minaretts, das auch ein Phallus-Symbol ist.« Auch in der Messingstadt seines Traum-Orients findet er abendländische Ursymbole: »Vlies, Urne, Gral: die Asche aller Gestern / Bewahrt der Stein in seinen Schweige-Nestern.«
Betrachtet man Schillings Gedichtbände von Scharlach und Schwan und der Stunde des Widders über den Questen-Gesang und Die Häupter der Hydra, um nur die gewichtigsten zu nennen, so erkennt man, bei aller Wahrung und Vertiefung des Eigenen, eine gewisse Horizontverschiebung von den heimischen, nordisch-abendländischen und griechisch-antiken Regionen des Geistes hin zu den Welten Indiens und Chinas. Seine Gedichtsammlungen gliedern sich stets in fünf Abschnitte, die nahen und fernen Gegenden gewidmet sind, aber die Tendenz in die Ferne, die »Der Drache vom östlichen Tor« in den Häuptern der Hydra verdeutlicht, setzt sich in seinem neuesten Band Lingaraja fort, der in Kürze – nach fünfzehnjähriger Publikationspause des Dichters – im Telesma-Verlag erscheinen wird.
»Lingaraja«, »Herr des Phallus«, ist ein Beiname Shivas, des ekstatischen Tänzer- und Schamanengottes, eines »göttlichen Bruders« Odins; und als »Träumer im Tigerfell« nähert sich der Dichter dem Welt-Spieler, der »die Häupter mäht« und wieder »sprießen läßt«, bis er sich zuletzt mit dem göttlichen Archetypus identifiziert, solange dieser »ihn träumt«.