Haß, in welcher Form auch immer, kann nur dort entstehen, wo zuvor Liebe war. Anderenfalls gibt es gar kein Entkommen aus dem Kraftfeld der Gleichgültigkeit. Jeder negative Impuls speist sich aus einem positiven, dessen Verlebendigung gescheitert ist. Deshalb ist ein hassender Mensch in Wahrheit immer ein verhinderter liebender. Die Energien und Emotionen, die ihn zerfressen, sind die gleichen, die ihn, wäre er kein Enttäuschter, zu Glück und Güte befähigten.
Das Agens schöpferischer Existenzen, das zugleich das Agens schöpferischer Kulturen ist, drückt sich im Streben nach etwas noch Unerreichtem aus, nach etwas, das noch keinen Ort hat. Dieses Streben bildet den Kern kultureller Unzufriedenheit, den Antrieb zur Kreativität. Laut Hegel ist bekanntlich das Verlangen nach Anerkennung das eigentliche schöpferische Element im Menschen. Aus diesem erwächst die Lust am Tun. Doch jedes dermaßen motivierte Tun ist zielgerichtet und zweckorientiert, es geschieht in Erwartung einer Folgeleistung. Bleibt diese Leistung aus, ist das Ziel verfehlt, war der Einsatz umsonst; die positive Energie verpufft. Wiederholt sich dieser Vorgang oft genug, wandelt sich positive Energie in negative. Verhindertes Glück wird als Kränkung empfunden. Das kann geschehen, weil ein Ziel aus Mangel an Kraft oder Begabung verfehlt wird, oder weil es von vornherein unerreichbar war.
Kultureller Selbsthaß tritt etwa dann auf, wenn sich ein Kollektiv der mangelnden Integrationsfähigkeit und Fehlbarkeit von Kultur bewußt wird, weil das Konstrukt Kultur die Möglichkeit des Scheiterns enthält. Kultur kann mißlingen. Und zwar dann, wenn die »Versprechen«, die sie impliziert, nicht erfüllt werden, oder sich herausstellt, daß diese »Versprechen« auf Mißverständnissen beruhen. Kultureller Selbsthaß ist ein Zeichen von Resignation, von Enttäuschung über den Rest »Natur« im Menschen, der sich immer wieder Bahn bricht, sobald die Mittel der Kultur an Integrationskraft nachlassen. – »Natur« und »Kultur« werden hier als Gegensätze verstanden, die einander komplementär gegenüberstehen; Kultur bezeichnet das »Verfeinerte«, vom Menschen bewußt Gemachte und Reflektierte, das herausgewachsen ist aus dem Zustand des »unbewußten« Handelns in der Natur. Erst mit der strikten Unterscheidung und Abgrenzung dieser zwei Lebensformen konnte sich jener überhöhte Anspruch bilden, an dessen Einlösung der abendländische Mensch schließlich scheiterte.
Kultur entläßt denjenigen aus ihrem schützenden Gehäuse, der ihre Mittel nicht mehr anerkennt, weil er sich darüberstellt. Und diesen Konflikt trägt jeder in sich selber aus: nicht sein zu können, was die Natur dem Menschen zu sein vorgibt in ihrer Renitenz, die mit den kulturellen Vorstellungen des verfeinerten, »vernünftigen« Menschen einfach nicht vereinbar ist. Kultureller Selbsthaß ist ein Haß gegen Kultur als solche, die man selber verkörpert. Er entsteht aus Ermüdung, ständig gegen die inneren Befehle rebellieren zu müssen, weil diese einfach nicht »lebbar« sind im Sinne der sich über die Kultur selbst auferlegten Moral.
Die Geschichte des kulturellen Selbsthasses ist die Geschichte eben dieses Abkopplungsprozesses. Sie versucht zu beschreiben, wie aus einem früh erwachten Unbehagen an der Kultur ein Scheitern der eigenen Ansprüche wurde, woraus das Bedürfnis nach Entlastung folgte. Das Projekt Moderne verstand sich selbst als große Abrechnung mit den falschen Versprechungen von Kultur, denen es seinen Dekonstruktivismus als Prinzip genereller »Befreiung« entgegensetzte. Die Vertreter einer solchen Moderne versuchten, den Knoten zu lösen, indem sie sich offen dazu bekannten, identitätslos zu sein; Identitäten überhaupt als Konstrukte entlarven wollten und dadurch meinten, der Misere des Abendlandes an die Wurzel zu gehen. Denn die Geschichte des abendländischen Europas war von Anfang an eine Suche nach den eigenen religiösen und kulturellen Wurzeln. Und zwar deshalb, weil das Abendland keine genuine Identität besaß, sich folglich erst eine »erfinden« oder aneignen mußte, wozu es sich maßgeblich aus den Quellen zweier fremder Kulturen speiste: dem Judentum und der griechisch-römischen Antike. – Es gab aber keine Kontinuität mit der Alten Welt, nicht einmal eine translatio imperii, die keine bloß administrative und propagandistisch herbeigesehnte war. Selbst das Christentum war ein Import aus dem Orient mit jüdischen Wurzeln, was die Gläubigen immer wieder unter Rechtfertigungsdruck gestellt hat und von der Kirche nie geleugnet wurde. Dieser innere Kampf hat den politischen Verlauf Europas entscheidend mitbestimmt. Er wirkt bis heute nach und ist für manche Absonderlichkeit im Umgang mit dem eigenen Erbe verantwortlich.
Nach den Erfahrungen von Diktatur, Krieg und Niederlage bekam der kulturelle Selbsthaß eine neue Qualität. Der Nationalsozialismus als Aggressionsform und Produkt des Nihilismus war der Versuch, dessen Energie nach außen zu lenken durch Imperialismus und Krieg. Die gebrannten Kinder dieses gescheiterten Unternehmens und Besiegten der Geschichte gingen genau den entgegengesetzten Weg. Sie verurteilten Imperialismus und Krieg mit der gleichen Entschiedenheit, mit der diese zuvor geführt worden waren, und lenkten die Energie des kulturellen Selbsthasses nunmehr wieder und zwar ausschließlich nach innen. Dadurch wurde das Phänomen, das so lange eher unterschwellig und als diffuses Unbehagen gewirkt hatte, erstmals offen sichtbar. Ferner zeigte sich – nicht weniger deutlich, aber kaum bemerkt –, wie sehr die sogenannten 68er ihrer geistigen Anlage nach waren, was sie nie sein wollten, nämlich Reaktion auf das Scheitern des Nationalsozialismus. Sie stellten gerade keine wirkliche Gegenbewegung dar, sondern Fortführung, nur jetzt in entgegengesetzter Richtung. Statt Eroberungswille und Rassenwahn nun totaler Machtverzicht (wenigstens nach außen), statt Gleichschaltung nun Nivellierung, statt Haß auf das Fremde nun Haß auf das Eigene. Jede qualitative Differenzierung wurde als Makel empfunden, weshalb sie aufgehoben werden müsse. Der ehemalige Herrscher, der »Täter« von Geschichte, begann sich mit den »Opfern« zu identifizieren. Der Trägertypus dieser ebenfalls genuin totalitären Bewegung bildete die pervertierte Form desjenigen, aus dem er hervorgegangen war. – So konnte das Paradox des an sich totalitär motivierten »Antifaschismus« zur neuen deutschen Staatsdoktrin werden.
Das mit dem kulturellen Selbsthaß eng zusammenhängende Phänomen des Schuldkomplexes bildet dafür die psychische Grundlage. Jedoch ist der kulturelle Selbsthaß nicht aus dem Schuldkomplex als Ergebnis zweier verlorener Kriege hervorgegangen, sondern umgekehrt. Der kulturelle Selbsthaß war vielmehr eine der Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Europa, und nicht bloß deren Folge. Es muß also nach den Bedingungen gefragt werden, die ein solches Verhalten, eine solche Kollektivneurose wie die des deutschen Schuldkomplexes und die der Verachtung des Eigenen erst ermöglichen konnten. Die sich aufdrängende Vermutung, dieses Phänomen sei eine logische Folge aus dem Völkermord an den Juden, greift deutlich zu kurz. Freilich wäre die Intensität des Komplexes unter Deutschen weit geringer ausgefallen, wenn mit der Bewußtwerdung des Massenmordes nicht zugleich das Erleiden einer totalen, bis dahin beispiellosen militärischen Niederlage verbunden gewesen wäre, weil der Zusammenbruch das ganze Ausmaß der Verbrechen überhaupt erst ans Licht gebracht hat. Doch findet sich die Bereitschaft, als »Volk« oder als »Kultur« zu verschwinden oder in einem identitätsfreien Weltverbund aufzugehen, eben nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen Nationen des späten Abendlandes. Ferner darf nicht vergessen werden, daß eine der wirkungsmächtigsten Ausdrucksformen des kulturellen Selbsthasses, nämlich die political correctness, in dem Siegerland USA ihren Anfang nahm und in völlig »unschuldigen« Staaten wie Schweden besonders eifrig praktiziert wird.
Denn hier wirken kulturpsychologische Prozesse, die als übereifrige Reaktion auf gesamthistorische Machtverschiebungen und Bewußtseinseinschnitte aufgefaßt werden müssen: sowenig der Christ noch das Gefühl des antiken »Verlorenseins« in der Welt kannte, nachdem sich ihm »Gott« offenbart hatte, sowenig weiß der »Weltbürger«, der in der Zivilisation angekommen ist, von der »Fremdheit«, die der abendländische Mensch gegenüber dieser neuen weltgeschichtlichen Epoche vorausahnend empfand. Das heißt: Je mehr die Zivilisation vom Denken Besitz ergreift, desto weniger dürften die Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts ihrem Inhalt nach noch verstanden werden. – Das ist das Problem aller Schwellenzeiten, in denen gravierende Uminterpretationen stattfinden. Alte Wahrheiten und Normen verlieren plötzlich ihre Gültigkeit, neue treten an deren Stelle und verwandeln Mögliches in Wirkliches, also in etwas, wovon praktischer Nutzen ausgeht, während anderes, das ebenfalls möglich wäre, ohne Resonanz bleibt. Daraus ergibt sich die Relativität aller Dinge, selbst solcher, von denen jeder glaubt, sie seien unwandelbar, wie etwa »Freiheit« oder »Demokratie«. – Und so passiert es immer wieder, daß Menschen »freiwillig« im Namen einer Sache eben diese Sache abschaffen.