Berlin, 24. IX. 2011
Lieber Herr Gerlich,
von Ihrer – glänzend geschriebenen – Rezension zu den Späten Reflexionen darf ich mich angesprochen fühlen, weil ich für die Verleihung des Löwenthal-Preises plädiert habe, und zwar in voller Kenntnis des besprochenen Buches. Knapp gefaßt meine Einschätzung:
Es ist nicht Noltes bestes, es ist ein formloses Buch, aber es ist eben sein letztes. Ich finde darin vor allem – teilweise sehr spitze – Fußnoten zu seinen altbekannten Thesen. Reflexionen eben, die eine assoziative Freiheit gestatten. Eine geschlossene Weltanschauung ergibt sich daraus nicht, und sie wird auch nicht beansprucht. Daher würde ich raten: Tiefer hängen! Im Kontext des Gesamtwerks betrachten!
Formal knüpft es am ehesten an die Streitpunkte an. Nolte gibt Fingerzeige, wo künftige Forschungsfelder liegen. Für den 88jährigen Autor hat das Bedingungsgefüge, das die historische Forschung heute konditioniert, keine Gültigkeit mehr, er hat das alles hinter sich gelassen. Ich frage mich, ob er damit nicht ein Mann von morgen ist. Um nur diesen Grund zu nennen: Das Ausgreifen des Islam führt dazu (merkwürdige List der Geschichte!), daß Europa und der Westen überhaupt seine ideologischen Axiome relativiert. Was Sie bei Nolte heute empörend finden, könnte die Vorwegnahme künftiger Neujustierungen sein. Sicher, es gibt Formulierungen und Gedankenexperimente, bei denen auch ich zusammengezuckt bin oder denen ich widersprechen würde, aber selbst sie verdienen eine sorgfältige Prüfung.
Daß Nolte sich nicht vom »qualitativ evidenten und auch quantitativ eklatanten Mißverhältnis zwischen der Judenvernichtung und der Palästinenservertreibung beirren« läßt – diese Deutung finde ich nicht ganz korrekt bzw. unvollständig. Nolte schreibt im Zusammenhang über die Universalisierung und Sakralisierung des Holocaust (ich zitiere aus dem Gedächtnis): Erst wenn Israel in einer vergleichbar hoffnungslosen Situation wie Deutschland im Zweiten Weltkrieg sich befindet und relativ mehr Palästinenser diesen Krieg überleben als Juden damals, hätte Israel den Anspruch darauf, dem Judenmord jene quasi-religiöse Dimension zu verleihen, die heute in der Gedenkstätte Yad Vashem und anderswo zelebriert wird. Ich sehe in dieser Spekulation die neuere Tendenz Noltes bestätigt, den ursprünglich ausschließlich ideologisch begründeten Rassenmord stärker realgeschichtlich zu akzentuieren und ihn im Zusammenhang mit dem Kriegsverlauf zu betrachten. Zweitens geht es ihm generell um die Historisierung des Nationalsozialismus und die Überwindung der germano-zentrierten Perspektive (NS-Deutschland = ein metaphysisches, absolutes Böses). Drittens soll durch hypothetische Analogien eine Situation geistig aufgebrochen werden, die eben diese Historisierung verbietet. Dieses Gedankenspiel muß provokant wirken, es ist aber legitim. Israel verfügt übrigens über die Atombombe und würde diese auch einsetzen.
»Nunmehr aber verortet Nolte die legitimierenden Ursachen des Antisemitismus ausschließlich im Judentum selbst«. Die Passagen, die diesen Eindruck hervorrufen, sollte man ebenfalls tiefer hängen und sie im Kontext des Gesamtwerks lesen. Nolte kehrt hier das Verfahren um, Juden immer nur als Opfer von »Vorurteilen« zu betrachten. Das ist polemisch, hat aber insofern einen Erkenntniswert, als es die Unmöglichkeit des ursprünglichen Verfahrens vorführt.
Auf Seite 129 spekuliert Nolte über die Macht von Juden in den USA, die sie befähigt, nach der »mentalen Weltherrschaft« zu greifen. Wenn man das wörtlich nimmt, ist es nicht hinnehmbar. Aber es hat offenbar einen »rationalen Kern«. Was für einen unglücklichen Eindruck machen gerade Obama und Hillary Clinton, weil sie in der UNO gegen die Palästinenser agitieren müssen. Man könnte noch weitere Beispiele aufzählen.
Kurzum: Ich finde Ihre Kritik anregend und nicht unverständlich, aber ich habe Noltes Buch mit mehr Gelassenheit gelesen als offenbar Sie.
Es grüßt
Thorsten Hinz
– – –
Hamburg, 26. IX. 2011
Lieber Herr Hinz,
leider kann ich nicht sehen, inwiefern Nolte sich gerade mit seinen Späten Reflexionen als »Mann von morgen« empfehlen würde. Schließlich hat er sich darin nicht nur über geschichtspolitische Tabuisierungen hinweggesetzt, sondern sein eigenes geschichtswissenschaftliches Objektivitätsideal selbst preisgegeben. Einige radikalrevisionistische Anspielungen, auf die ich gar nicht erst eingegangen bin, zeugen davon, daß Nolte die neuere Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus nur noch selektiv wahrgenommen hat und insbesondere mit dem aktuellen Stand der empirischen Holocaustforschung alles andere als vertraut ist.
Auf einem anderen Blatt steht Noltes durchaus berechtigte Kritik am negativen Nationalismus unserer »Holocaust-Religion« – nur daß er selbst zuweilen in ein theologisch-mystifizierendes Reden verfällt, wenn es um Hitler und die Juden geht. Auf Seite 126 erinnert Nolte an einen ihm imponierenden Vortrag von Friedrich Romig, worin dieser das Judentum als den »Antichrist« in Erinnerung brachte. Von Nolte befragt, ob Hitler als »Anti-Antichrist« folglich nicht »im Feld des Rühmenswerten« angesiedelt werden müsse, geriet der vom heillosen Geist des christlichen Antijudaismus erfüllte Ultrakatholik dann doch in arge Bedrängnis. Nachträglich souffliert Nolte ihm nun die rechte Antwort: Der jüdische Antichrist war im 20. Jahrhundert bereits so mächtig, daß selbst ein Hitler der allgemeinen Verjudung anheimfiel und so zu einer noch »schlimmeren Gestalt des Antichrist« emporwuchs. Überhaupt staunt man nicht schlecht, daß noch dort, wo buchstäblich die letzten Dinge – Gott und die Welt im ganzen – verhandelt werden, Hitler einem Denker von Rang wie Nolte als satisfaktionsfähiger Gesprächspartner gilt.
Gleichwohl plädieren Sie im Hinblick auf Noltes diverse antijüdisch-antizionistische Fehlleistungen für »Tiefer hängen!«, da es sich hierbei nur um unverbindliche Reflexionen handele, die man nicht zum Nennwert nehmen sollte. Ich hingegen denke, daß man Noltes einschlägige Spitzen nicht ernst genug nehmen kann, da sich diese im Verlauf seiner »freien Assoziationen« eben nicht als der Wahrheitsfindung dienliche methodische Provokationen bewähren, sondern zunehmend als Spitzen eines inneren Eisbergs zu erkennen geben, auf dem Noltes bewegtes und bewegendes Denken nunmehr aufgelaufen scheint. Und während Sie, mit gewissen Vorbehalten, Nolte darin recht geben, daß der Zionismus den »rationalen Kern« des Antisemitismus erwiesen habe, bin ich gerade der gegenteiligen Auffassung, daß Noltes Antizionismus nur die »Rationalisierung« eines tiefer liegenden Antisemitismus darstellt – und daß dies auch für den arabisch-islamischen Antizionismus gilt.
Schon Noltes Rede von der »Einpflanzung« Israels in den islamischen Lebensraum suggeriert im Geiste politischer Romantik einen naturhaften Organismus der arabischen Völkergemeinschaft und deren ebenso natürliche Feindschaft gegen die jüdischen Eindringlinge. Dabei hatten wichtige Repräsentanten der arabischen Welt, die an einer Modernisierung der rückständigen Region interessiert waren, die Einwanderung von Juden nach Palästina anfangs durchaus begrüßt. Um so mehr fällt ins Gewicht, daß der erste Führer des palästinensischen Nationalismus und spätere Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, bereits bei den antijüdischen Pogromen der zwanziger Jahre in Jerusalem, Jaffa und Hebron eine führende Rolle spielte. Seine Idee eines »judenreinen« Palästina, die von den ägyptischen Muslimbrüdern geteilt wurde, fand weite Verbreitung allerdings erst in der Epoche des Faschismus, dessen Rassenpolitik nicht nur die jüdische Einwanderung nach Palästina forcierte, sondern zugleich die palästinensische Gegenwehr munitionierte. So wurde in den dreißiger Jahren der Husseini-Clan insbesondere vom Nationalsozialismus ideologisch, finanziell und militärisch aufgerüstet, um muslimische SS-Divisionen im arabischen Raum sowie in Bosnien und Herzegowina aufzubauen.
Als Freund Himmlers und Befürworter der »Endlösung« inspizierte al-Husseini gemeinsam mit Eichmann die Vernichtungslager Auschwitz und Majdanek und ermahnte die Regierung Ungarns, die Deportation der 800 000 dort lebenden Juden nicht zu verzögern. Al-Husseinis Zögling Yassir Arafat sollte sich demgegenüber ganz auf die Auslöschung Israels konzentrieren, aber in der gültigen Charta der Hamas wird der »Dschihad« gegen den Judenstaat wiederum nur als erste Etappe eines weltweiten antijüdischen Vernichtungskrieges propagiert. Dem entspricht die von der palästinensischen Autonomiebehörde autorisierte Verbreitung von Mein Kampf, welches 1999 immerhin den sechsten Platz auf der palästinensischen Bestsellerliste belegte.
Diese ideologiegeschichtlichen Tatsachen, die den Antisemitismus als logisches und faktisches Prius des Antizionismus ausweisen, sind Nolte in seinen Reflexionen keiner Erwähnung wert. Würde er sie freilich erwähnen, so verlöre seine These eines vom Zionismus kopierten Nazismus noch den letzten Schein ihrer Plausibilität, und Hitlers willige Vollstrecker im Nahen Osten würden an der arabischen Front sichtbar.
Gewiß gibt es die vielzitierten jüdischen Hypermoralisten und Nationalmasochisten, die ganz wie Nolte in den Israelis partout »Zionazis« sehen wollen. Aber diese meschuggenen Alibi-Juden dürften kaum richtiger liegen als jene ihnen so traurig wahlverwandten Legionen von entkernten Deutschen, die den multikulturellen und demographischen Untergang unserer Kulturnation als Segen für die Menschheit herbeisehnen.
Was ferner den »unglücklichen Eindruck« betrifft, den Mr. Obama und Mrs. Clinton auf Sie machen, so spricht dieser doch wohl weniger für eine jüdische Weltherrschaft als vielmehr für die Brüchigkeit der vermeintlichen amerikanischen Nibelungentreue zu Israel. Mir jedenfalls läge es näher, frei nach Horkheimer auszurufen: Wer aber von der Saudi-Arabien-Lobby nicht reden will, der sollte auch von der Israel-Lobby schweigen! Vom modernen Antisemitismus argwöhnte Hannah Arendt, er sei gerade in einer Periode aufgekommen, als die Juden faktisch an Einfluß verloren. Heute müßte man ergänzen: Er wird wieder virulent, seit der Islam weltweit an Einfluß gewinnt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund seines Islamismus-Buches, worin der gegenwärtige Aufstieg des Islam zu einer philofaschistischen Weltmacht nachgezeichnet wird, nimmt sich die von Nolte zu einer Gespensterlebendigkeit wiedererweckte »jüdische Weltherrschaft« wie ein realitätsfremdes Stück nationalsozialistischer Nostalgie aus. Indem Nolte freilich den bedrohlichen Mächten des »arabischen Frühlings« seine deutsche Stimme leiht, könnte er sich tatsächlich als »Mann von morgen« erweisen. Und dieses »Morgen« dürfte dann endlich die Wahrheit der Worte Jean Amérys ans Licht bringen: »Der Antisemitismus ist im Antizionismus enthalten wie das Gewitter in der Wolke.«
Trotz alledem möchte ich nicht schließen, ohne klarzustellen, daß ich die Preiswürdigkeit von Noltes Lebenswerk keineswegs in Abrede stelle, nur weil ich in dessen Abgesang nichts als eine unfreiwillige – wenn nicht mutwillige – Selbstdiskreditierung sehen kann. Aber auch Ihre Beurteilung des Buches läßt kaum einen Zweifel daran, daß Sie nicht aufgrund, sondern trotz dessen Inhalts Ihre Empfehlung ausgesprochen haben. Es geht Ihnen einfach um die Würdigung von Noltes Gesamtwerk – wie immer man zu seiner letzten Publikation im einzelnen stehen möge. Ich hingegen kann über zahllose Einzelheiten darin nicht hinwegsehen und will mich nicht durch politische oder persönliche Loyalitätserwägungen intellektuell korrumpieren lassen. Aber freilich sind meine scharfen Widerworte gegen Noltes »letztes Wort« mir alles andere als leicht gefallen.
Gruß aus Hamburg
Siegfried Gerlich
– – –
Berlin, 29. IX. 2011
Lieber Herr Gerlich,
meine Motive, Ernst Noltes Buch zu verteidigen, haben Sie weitgehend erfaßt. Ich möchte nur noch ein paar Ergänzungen vornehmen und auf einige Ihrer Kritikpunkte eingehen.
Wenn ich Nolte als möglichen »Mann von morgen« bezeichne, gehe ich davon aus, daß die Geschichtsschreibung über die NS-Zeit durch politische Zwänge und Herrschaftsinteressen unmittelbar determiniert wird. Diese Zwänge abgestreift zu haben, sehe ich als ein Verdienst des Buches an. Das dürfte auch die hauptsächliche Wirkungsabsicht Noltes gewesen sein, damit andere auf dieser Grundlage zu wissenschaftlicher Objektivität finden können. Die Tatsache, daß die Sakralisierung des Holocaust ausgerechnet durch das Vordringen eines antisemitischen Islamismus an Verbindlichkeit verlieren dürfte und nicht durch einen widerständigen Geist der Wissenschaft, bedrückt wohl niemanden mehr als Ernst Nolte.
Das Zurückweichen Deutschlands (und Europas) vor dem Islam hängt mit deren schwindendem Selbstbewußtsein zusammen, dieses wiederum mit den hier perpetuierten Schuldgefühlen im Zeichen der Holocaust-Sakralität. »Der Kollaps des deutschen und die überwältigende Stärke des jüdisch-israelischen Geschichtsbewußtseins sind Extreme«, schreibt Nolte in der Historischen Existenz, sie sind wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Eine weitere List der Geschichte! Es mag sein, wie Sie vermuten: daß die USA, um nicht irgendwann selber in eine vergleichbare Situation zu geraten, die Seile zu Israel eines Tages kappen werden.
Kurzum: Ich sehe in den – überspitzten –Spekulationen Noltes weniger den Ausbruch eines jahrzehntelang zurückgestauten Antisemitismus, sondern eine Reaktion auf Sachverhalte, Entwicklungen und Äußerungen, die in den letzten Jahren erst in ihrer ganzen Schärfe klargeworden sind. Nehmen wir noch einmal die am befremdlichsten klingende Spekulation: Ob Israel, befände es sich in einer vergleichbaren Lage wie Deutschland im Zweiten Weltkrieg, relativ wohl mehr Palästinenser am Leben ließe als Hitler Juden. Nolte erwähnt – in anderem Zusammenhang – den israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld, der – auch in der Sezession – sehr kühl über den Einsatz militärischer Gewalt reflektiert und spekuliert hat. Creveld thematisiert dabei die sogenannte »Samson-Option« Israels: Bekanntlich bringt der geblendete Samson die Säulen des Festsaales zum Einsturz, um unter den Trümmern die Philister und sich selbst zu begraben. In einem Interview mit der Jungen Freiheit vor einem Jahr sagte van Creveld: »Und falls das Unwahrscheinliche geschehen und Israel der Vernichtung gegenüberstehen sollte, würde es mich nicht überraschen, wenn wir so viel der übrigen Welt mit uns in den Abgrund reißen würden, wie wir nur können.« Da fällt mir – mit Verlaub – sofort der Goebbels-Ausspruch ein: »Wenn wir abtreten müssen, dann soll der Erdkreis erzittern!« – In diesem Sinne finde ich die Spekulation Noltes zumindest verstehbar.
Noltes angespanntes Verhältnis zu Israel ergibt sich wesentlich daraus: Einerseits setzt es – über die Sakralisierung des Holocaust – universelles Recht, nimmt für sich selber aber in bezug auf die Palästinenser, jedoch auch in der Selbstbegründung (»biblisches Land« und so weiter) ein Sonderrecht (Partikularrecht) in Anspruch –und die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus nimmt im Spätwerk Noltes zunehmend Raum ein. Die schwer kontrollierbare Macht, die Israel aus dieser »singulären« Kombination zuwächst, besitzt – so interpretiere ich Nolte, ohne seine Wortwahl ganz übernehmen zu wollen – eine Tendenz zum Bösen. Daß Nolte der lebensgefährlichen geostrategischen Lage Israels, seinem Kollektivtrauma und seinen konkreten Ängsten zuwenig Beachtung schenkt, ist mir klar. Das ist eben nicht sein Thema. In der Begründung für den Preis muß diese differenzierende Bewertung selbstverständlich einfließen.
Mit besten Grüßen
Thorsten Hinz
– – –
Hamburg, 1. X. 2011
Lieber Herr Hinz,
mit großer Gelassenheit sprechen Sie aus, daß die »lebensgefährliche geostrategische Lage Israels« und sein »Kollektivtrauma« eben nicht Noltes Thema sind. Immerhin macht das Territorium des jüdischen Zwergstaates ganze 1,5 Promille desjenigen der zur »arabischen Liga« gehörenden Staaten aus. Diese sind weitgehend »judenrein«, und in Israels arabischen Nachbarstaaten müssen obendrein palästinensische Vertriebene samt ihren Nachkommen noch immer weithin rechtlos in Lagern leben – unter Bedingungen, die kaum besser sind als im Gaza-Streifen. (Man stelle sich nur einmal vor, wir Deutschen wären mit unseren Vertriebenen ebenso verfahren!) Dagegen besteht das israelische Staatsvolk zu mehr als 20 Prozent aus eingebürgerten Palästinensern, deren Parlamentsvertreter in der Knesset sogar zur Schaffung eines Kalifats in ganz Palästina aufrufen und die Hisbollah feiern dürfen.
Wenn die Folgen der israelischen Staatsgründung auch großes Leid über zahllose Palästinenser gebracht haben, so erscheint mir doch Noltes Strapazierung eines angeblichen »jüdischen Sonderrechts« arg bemüht. Von Carl Schmitt haben wir gelernt, daß der »Nomos« eines Volkes – seine »Nahme« – sich ursprünglich stets auf eine »Landnahme« gründet, und im Rückblick auf die Gründung der europäischen Nationalstaaten hat Nolte selbst uns über die Normalität kriegerischer Einigungen belehrt, die oft genug mit Eroberungen und Vertreibungen einhergingen. Aber sobald es um die rechtsetzende Gründungsgewalt Israels geht, wird moralisch abermals eine »jüdische Sonderbehandlung« angestrengt – gerade so, als wären in den deutschen Vernichtungslagern Ethikseminare abgehalten worden, welche die Überlebenden zu besseren Menschen gemacht hätten. Sollte Crevelds »Samson-Option« tatsächlich einmal zur Wirklichkeit werden, so wäre über die Schuldfrage wahrlich anders zu handeln, als Nolte es in seinem zynischen Rechenspiel tut, indem er uns Deutschen nach einem Vernichtungskrieg gegen Israel die Aufgabe zuweist, die palästinensischen Leichen zu zählen, um uns dann entweder befriedigt zurückzulehnen oder aber in den Trümmern von Yad Vashem auf die Knie zu fallen.
Skandalös ist Noltes Buch allerdings nur in seinen bizarren Überzeichnungen einer im Grunde deprimierend konformistischen Tendenz. Zu den Gemeinplätzen, die durch unablässige Wiederholung nicht wahrer werden, zählt die Behauptung, man dürfe als Deutscher Israel nicht kritisieren. Dabei hat die deutsche Linke nach ’68 in Israel stets das staatsförmige Eingreifkommando der USA im Nahen Osten gesehen, und die Rechte wiederum hat sich mit den Palästinensern verbrüdert, als wären diese die Schlesier des Nahen Ostens. Würde man die Lücke, welche die Enden von Armin Mohlers berühmtem Hufeisen trennt, mit »Israel« ausfüllen, so schlösse sich dieses zum Kreis des geschlagenen Gesamtdeutschen.
Mit den »kommunizierenden Röhren« hat es vielleicht folgende Bewandtnis: Während die Deutschen aus ihrer politischen Lethargie und kulturellen Dekadenz nicht herausfinden, führen die Juden ihnen vor, wie eine souveräne Staatspolitik auszusehen hat, wie ein Volk sein Leben in einem permanenten Ausnahmezustand der Angst bewältigen und dabei einer feindlichen Umwelt gegenüber seine nationale Würde wahren kann. All das weckt Neid und Haß, die sich jedoch nicht offen einbekennen, sondern verdrängt und rationalisiert werden. So nährt das Ressentiment der zu kurz gekommenen, zu einer scheinbar unentrinnbaren Schuldknechtschaft verdammten Deutschen einen antisemitischen Komplex, der letztlich auf ihr – von der Holocaust-Industrie vernutztes, aber nicht verursachtes – moralisches Trauma zurückweist: Wir können den Juden nicht verzeihen, was wir ihnen angetan haben. Wir wollen ihnen unsere Schuld heimzahlen und unserem gedemütigten Nationalgefühl durch ein gerüttelt Maß an Antisemitismus wieder aufhelfen. Aber damit demonstrieren wir nur, wie wenig wir die »Psychologie der Niederlage« überwunden haben.
Mit Grüßen aus dem kühlen Norden
Siegfried Gerlich
– – –
Berlin, 30. X. 2011
Lieber Herr Gerlich,
beim nochmaligen Lesen unseres Briefwechsels wird mir klar: Sie bleiben viel dichter am Text als ich, nehmen die inkriminierten Passagen beim Wort und sehen sie immanent, das heißt im Denken Noltes angelegt. Ich hingegen lese die Reflexionen als letztes Bruchstück einer großen Konfession, gleichsam in deren Schatten und damit in einem milderen Licht und frage mich, welche äußeren Gründe Nolte zu seiner Radikalisierung bewogen haben.
Meine Antwort lautet kurz und sarkastisch: Nolte macht ernst mit den Warnungen aus der deutschen Gegenwart! Er sieht Deutschland seinem geistigen Tod entgegentaumeln und das skizzierte Bedingungsgefüge dafür in der Verantwortung. Das läßt ihn darüber nachsinnen, ob die Bedrohungsfurcht, aus der er das Handeln der Nationalsozialisten stets abgeleitet hat, nicht einen größeren rationalen Kern besaß, als er bisher angenommen hatte.
Ob er damit einen Aus- oder Irrweg weist, mag eine künftige freie Forschung ergeben.
Mit freundlichen Grüßen
Thorsten Hinz