Kubitschek schließt seinen Beitrag mit den Sätzen: »Die erste KR strahlt in ihrer kurzen, reichen Blüte bis heute aus, weil ihr Personal in seinen Haupt- und Nebenrollen durchgespielt hat, was an innerer und äußerer Mobilmachung, totaler Mobilmachung für eine kommende Auseinandersetzung möglich war. Aus diesem Grund dachte und schrieb ein Ernst Jünger erregend ungezähmt und grell ausgeleuchtet. Auf unserem Papier aber liegt ein Schatten. Warum das so ist, weiß ich manchmal. Manchmal auch nicht.« Nun, manchmal ist der Schatten wie in der Malerei notwendig, damit wir die Strahlkraft des Lichtes nach langer Gewöhnung und Abstumpfung wieder wahrnehmen und verspüren können. Das Gestein, das Kubitschek aus dem Schutt des letzten Jahrhunderts hervorholt und betrachtet, ist immer noch warm und radioaktiv strahlend. Wie stark, ist unklar, ebenso, welche Art von Mensch dafür empfänglicher sein mag als andere: was dem einen sein Met ist, ist dem anderen sein Gift, und wer davon trinkt, tut es auf eigene Gefahr.
Bei Stahl stehe ich vor einem glatten, weißen Stück Weimarer Marmor, es ist schön anzusehen, makellos bearbeitet, und gewiß auch in schattenloses, apollinisches Sonnenlicht getaucht, aber es ist auch monoton und abweisend. Die meisten Sätze rufen in mir eine achselzuckende Zustimmung hervor. Ja, es ist gut, Realitätssinn zu bewahren. Ja, Schönheit ist gut, und das Gute ist schön, darum ist es schön und gut, sich um das Schöne und Gute zu bemühen. Ja, man soll Haltung wahren, gebildet sein, der Gemeinschaft dienen, Ideale haben, Verantwortung übernehmen, Form und Inhalt wahren, und edel ist es, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, zu dienen, das rein Ökonomische und Vernutzbare, den Konsum und den Hedonismus zu verachten. Es ist auch gewiß gut, an Gott zu glauben, das Problem ist aber, daß sich der Glaube nicht allein deswegen einstellen wird, weil uns das die Vernunft nahelegt. Stahl zitiert Hölderlin: »An das Göttliche glauben / Die allein, die es selber sind«. Für mein Empfinden ist dieser Vers nicht angetan, eine Tür zu öffnen, sondern im Gegenteil: Er sie schlägt sie unerbittlich vor unseren Augen zu, wie der Cherubim die Pforten des Paradieses. Denn wer von uns will sich ernsthaft im Spiegel betrachten und dabei für »göttlich« erachten, mag er noch so wohlerzogen, gebildet und ästhetisch gesinnt sein? Gott wird sich allein deswegen nicht zeigen.
Freilich, hier ist letzten Endes der große Angelpunkt, von dem aus man die Moderne aufheben könnte, weil man sollte, weil man müßte. »Nur ein Gott kann uns retten«, mahnte Heidegger gegen Ende seines Lebens. Stahl schreibt: »Allein durch die transzendentale Verankerung der einzelnen kann Handeln in Freiheit und Verantwortung letztlich gelingen.« Das mag wohl stimmen, aber was soll man an diesem Punkt jemandem zurufen, dem die Probleme seiner Zeit unter den Fingernägeln und auf der Haut brennen? Man kann diese »Verankerung« nicht per Willensakt vollziehen. Wir müssen hier ehrlich sein, und erkennen, daß uns diese Pforte einstweilen verschlossen bleibt, daß niemand von uns weiß, ob da ein Gott überhaupt ist, in dessen Grund wir uns »verankern« können. »Nur der Glaube an das Göttliche bewahrt eine an den Idealen orientierte Haltung vor der Hybris.« Glaubt also der bombenlegende islamische Dschihadist nicht an »das Göttliche«? Oder ist sein Allah etwa nicht »göttlich«? Und wenn nein, warum nicht? Gegenüber »Gott« schmeckt ein Ausdruck wie »das Göttliche« immer nach Stroh.
Nehmen wir eine andere Stelle. Wie viele Konservative hat Stahl eine verständliche Abneigung gegen die Masse, das Vulgäre und das Laute. Niemand wird leugnen, daß es in der Politik häßlich und böse zugeht, erst recht in den zeitgenössischen Verfallsstadien der Demokratie, wo die Ochlokratie von einer Oligarchie abgelöst wird. »Also verbieten sich Voluntarismus und Populismus, müssen Weg und Ziel kongruent sein, mit dem Ziel einer von individueller Freiheit und Verantwortung getragenen Ordnung. … Das häßliche Instrumentarium des Verlautbarens, des Demonstrierens, des Einhämmerns, des Ausposaunens, des Sich-an-die-Brust-Schlagens, des Überflutens gehört dagegen zu jener veröffentlichten Scheinwirklichkeit, die von den Propagandisten des ›Fortschritts‹ täglich neu reproduziert wird. Also keine ›Grobheit‹, ›Ins-Wort-Fallen‹, ›Zwischenrufe‹, ›Protestplakate‹«. Geschenkt. Wir ahnen alle, und wissen aus der historischen Erfahrung, daß dergleichen mit beinah mathematischer Sicherheit in die Hose geht. Nichts Gutes kam jemals aus dem Populismus, und schon gar nichts Gutes jemals aus der Masse. Wer sich einmal durch Canettis Masse und Macht gelesen hat, wird diesbezüglich jede Hoffnung für immer fahren lassen.
Die Überwindung der Moderne bedeutet vor allem die Überwindung der Massengesellschaft – was jedoch nicht heißt, daß dies durch ein paar Borchardt- und George-Jünger ermöglicht werden kann, die mit gutem Beispiel vorangehen und die Epochennot nochmal wenden, sondern wohl schlicht und drastisch, daß, wie Reinhold Schneider einmal formulierte, der Turmbau zu Babel gelingen und den Blitz herabholen wird. Der Kataklysmus wird unvermeidlich sein, soviel kann sich heute jeder an fünf Fingern abzählen. Früher oder später hat sich die Moderne durch sich selbst erledigt. Und dennoch treiben wir wie in Poes Erzählung den »Maelstrom« hinab, können nicht aussteigen und müssen handeln. Stahl kann mich nicht überzeugen, daß sein humanistisches Hellenentum »politisch« sei, außer in einem sehr erweiterten Sinne. Wer die »apoliteia« wählen will, soll es tun, und es mag im Angesicht des »Maelstroms«, sub specie aeternitatis, auch gleichgültig sein, ob man zum Mönch oder Mauretanier wird. Nur hat das alles weder mit der »Konservativen Revolution« noch mit einer »konservativen Revolution« zu tun.
Stahl stellt sich »neue Vorbilder« vor, die er als wahre Supermänner beschreibt: »authentisch und sich selbst treu … eindeutig und verläßlich, zurückgenommen und entschieden, uneigennützig und unbestechlich … prinzipienfest, demütig und opferbereit, freudvoll und bescheiden, ernsthaft und heiter-gelassen … zuversichtlich und idealistisch«, und so weiter. Ich verbuche diese Flut von lähmenden Adjektiven unter die »Untaten des deutschen Idealismus« (Hans Blüher), doch davon später. Von diesen Papierhelden verspricht sich Stahl, daß ihre »vorbildliche Haltung … auf die Dauer eine größere und nachhaltigere Durchsetzungskraft entfaltet als jeder offene Machtkampf, in dem die Gefahr moralischer Korruption übermächtig zu werden droht.« Das darf man ernsthaft bezweifeln. Damit verknüpft, empfiehlt er wohl auch die Abwendung von »Lagergegensätzen« und »politischer Konfrontation«, wendet sich gegen die »Perpetuierung von Frontstellungen«, gegen die »Eroberung von Macht und Deutungshoheiten« und das Streben nach »Parteisiegen in der Auseinandersetzung mit den ›Linken‹«, plädiert für die »Überwindungen von Parteiungen und Lagerdenken überhaupt«.
All das ist ehrbar, aber ein Ding der Unmöglichkeit. Man kann sich nicht einfach aus freien Stücken entscheiden, gewissermaßen vom Schlachtfeld zu spazieren und damit den Krieg für überwunden zu erklären. Da muß ich nun auch zu Binsenweisheiten greifen und den Bertolt Brecht zugeschriebenen Spruch, »Stell dir vor, es gibt Krieg, und keiner geht hin – dann kommt der Krieg zu euch«, zitieren. Und ich denke nicht, daß es übertrieben ist, von einem »Krieg« zu sprechen. Der ideologische Dschihad, den die Linke in nur scheinbar paradoxer Vereinigung mit dem Globalkapitalismus heute gegen alles führt, was auch Stahl lieb und teuer ist, wird keine Rückzugsräume zulassen. Dies liegt in seiner ideologischen Natur selbst begründet. Ebenso irrig ist es, zu glauben, man könne saubere Hände behalten, dem Machtkampf und der Machtfrage aus dem Wege gehen, und dadurch unschuldig und unkorrumpiert bleiben. Kein Mensch kann das, denn der Mensch ist ein sündiger und tragischer Entwurf, und er muß nicht nur beten, sondern auch kämpfen, auch wenn man weiß, daß der Teufel nicht schläft, in jede gute Sache schlüpfen kann und die Parteien gegeneinander ausspielt, indem er jeder erzählt, daß sie die Guten und die anderen die Bösen seien.
Um mich von dieser wohltemperierten Trostlosigkeit zu kurieren, schlage ich in alten Sezessionen nach und finde in Heft 29 vom April 2009 Karlheinz Weißmanns »Konservativen Katechismus« – eine nüchterne, lagegebundene Handlungsanweisung, die aber allemal weiterführt als zeitlose Eliten-Erziehungsprogramme. Oder ich greife nach den Schriften eines enfant terrible der Konservativen Revolution, in diesem Falle nach dem Spätwerk Die humanistische Bildungsmacht des genialen und untemperierten Hans Blüher, der zu den schärfsten Federn seiner Zeit zählte. Darin preist Blüher das unschätzbare geistige Fundament, das ihm durch seine Schulzeit im Steglitzer Gymnasium zuteil wurde. Dies sind vor allem die beiden großen Quellen des Abendlandes, die griechisch-römische Antike und die biblische Überlieferung. Die wird aber erst wirklich wirksam, wo sie uns auch in unserem Sein ergreift. Die von Blüher besonders geliebten Griechen hätten nicht die Weimarer Klassiker verstanden, die von »edler Einfalt und stiller Größe« sprachen, sondern vielmehr Nietzsche und Burckhardt, die begriffen hatten, daß der »Pessimismus die Grundstimmung der Griechen gegenüber dem Leben« war. Und was nun das »Göttliche« betrifft, wie es uns in den griechischen Mysterien angedeutet und schließlich im Christentum in voller Blüte entgegentritt, so muß es sich konkretisieren als der »Dreiklang« von »Schöpfung-Sünde-Erlösung«. Erst vor diesem Hintergrund des Tragischen bekommen Kunst, Philosophie, Bildung, Schönheit, Haltung, Tugend ihre Bedeutung und Kraft. Alles andere bleibt bloß ausgedacht und hat nicht die Macht, uns zu bewegen. Die Köpfe der KR waren ebenso vertraut mit den Quellen des Abendlandes wie ein Michael Stahl, sie aber haben sich eingelassen auf den Kampf, sie haben Schuld, Untergang und Versagen riskiert. Haben wir denn überhaupt eine Wahl? Auch wir müssen Häuser und Burgen bauen – aus den Trümmern, die noch übrig sind, aus den Steinen, die alle anderen verworfen haben.