Selbstdenker in Auflösung

pdf der Druckfassung aus Sezession / Dezember 2011

45von Thorsten Hinz

Der scheidende Herausgeber der Zeitschrift Merkur, der 79jährige Karl Heinz Bohrer, bringt die Ernte ein und in rascher Folge neue Sammelbände seiner Essays, Glossen und Vorträge heraus. Aufsehen erregte Bohrer, der 15 Jahre lang in Bielefeld den Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft innehatte, 1978 mit seiner Habilitationsschrift Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk.

Es geht dar­in um den neu­en Modus künst­le­ri­scher Wahr­neh­mung, den der tech­ni­sier­te Ers­te Welt­krieg erzwang. Das Ästhe­ti­sche bil­det bei Boh­rer ein Reich jen­seits prak­ti­scher Zwe­cke. Es ist das Kom­pro­miß­lo­se und Uner­hör­te, das neue Ein­sicht pro­vo­ziert, zum Per­spek­ti­ven­wech­sel zwingt und ver­bor­ge­ne Wahr­hei­ten auf­blit­zen läßt. Des­halb darf die Kunst sich kei­nem geschichts­phi­lo­so­phi­schen, poli­ti­schen, mora­li­schen, reli­giö­sen Auf­trag ver­pflich­tet füh­len, sie soll aus­schließ­lich nach gestei­ger­ter Ima­gi­na­ti­on stre­ben. Im Umkehr­schluß trans­por­tiert das Unäs­the­ti­sche und Häß­li­che die Bana­li­tät und den fal­schen Kon­sens. In die­sem Sin­ne fühlt Boh­rer sich auch für Poli­tik und Gesell­schaft zustän­dig und gei­ßelt die ästhe­ti­schen Fehl­leis­tun­gen in der Bun­des­re­pu­blik als Signa­tu­ren geis­ti­ger Ver­zwer­gung und ver­dor­be­ner poli­ti­scher Moral.

Mit den 1990/91 ver­öf­fent­lich­ten Pro­vin­zia­lis­mus-Glos­sen stieß er den deutsch-deut­schen »Lite­ra­tur­streit« an und pole­mi­sier­te gegen das Pfäf­fi­sche und Mora­lin­saure der kano­ni­sier­ten Nach­kriegs­li­te­ra­tur, aber auch gegen das Wei­ner­li­che, Kit­schi­ge und Unge­form­te der poli­ti­schen Rhe­to­rik. Hel­mut Kohls Strick­ja­cke war ihm das Sym­bol anbie­dern­der Ver­trau­lich­keit und der Abwe­sen­heit poli­ti­scher Ideen. Eine Text­ana­ly­se wür­de erge­ben, daß er sich von Fried­rich Sieburgs Lust am Unter­gang inspi­rie­ren ließ, obzwar er das Buch nicht erwähnt. Die Schär­fe, mit der er das eta­blier­te jus­te milieu der Bun­des­re­pu­blik atta­ckier­te, und der nicht sel­ten in Arro­ganz umkip­pen­de Ton setz­ten ihn zeit­wei­lig dem Ver­dacht aus, ein Kon­ser­va­ti­ver oder gar Rech­ter zu sein, der die zivi­li­sa­to­ri­schen Errun­gen­schaf­ten der Bun­des­re­pu­blik gegen einen neu­en deut­schen Natio­na­lis­mus ein­tau­schen wol­le. Doch nichts wäre fal­scher als die­se Annahme.

In sei­nem neu­es­ten Buch (Selbst­den­ker und Sys­tem­den­ker. Über ago­na­les Den­ken, Mün­chen: Han­ser 2011. 221 S., 19.90 €) ver­sucht er die Posi­ti­ons­be­stim­mung des moder­nen Intel­lek­tu­el­len, die auch eine indi­rek­te Selbst­be­schrei­bung ein­schließt. Er sieht ihn zwi­schen die Alter­na­ti­ve des Selbst- oder des Sys­tem­den­kers gestellt. Der Sys­tem­den­ker, wie er sich in der Tra­di­ti­on des deut­schen Idea­lis­mus her­aus­ge­bil­det hat, mißt die vor­ge­fun­de­ne Wirk­lich­keit an einem Denk­sys­tem bzw. einem Ide­al, oder er stellt gegen einen herr­schen­den Ent­wurf einen kom­ple­men­tär neu­en. Natür­lich kön­nen Sys­tem- auch Selbst­den­ker sein, wenn sie sich – wie Hegel – aus vor­ge­fun­de­nen Fixie­run­gen lösen und ein neu­es Sys­tem schaf­fen, das mehr bedeu­tet als die Umkeh­rung eines vorgefundenen.

Boh­rer sieht sich als Selbst­den­ker. Die­ser ist inno­va­tiv, skep­tisch gegen­über dem sys­te­mi­schen Den­ken, absen­tiert sich vom Dis­kurs­rau­schen und beschreibt die Wirk­lich­keit im Licht eines neu­en, über­ra­schen­den Ein­falls. Den erkennt­nis­theo­re­ti­schen Urknall erkennt Boh­rer im Hin­weis des fran­zö­si­schen Moral­phi­lo­so­phen Mon­tai­gne »auf den Momen­ta­nis­mus der Exis­tenz« (den Boh­rer in der Ästhe­tik des Schre­ckens auf den Begriff »Epi­pha­nie des Augen­blicks« gebracht hat). Der Impuls wur­de vom Früh­ro­man­ti­ker Fried­rich Schle­gel auf­ge­nom­men, der in sei­ner Neu­en Mytho­lo­gie das Ästhe­ti­sche aus der Vor­mund­schaft der Geschichts­phi­lo­so­phie und der Ver­nunft befrei­te. Für Künst­ler wie für Nicht-Künst­ler gel­te glei­cher­ma­ßen: »Nur aus der unbe­küm­mer­ten, selbst­be­wuß­ten Kon­zen­tra­ti­on auf das, was zu beschrei­ben ist, kommt der genui­ne Ein­fall, der das intel­lek­tu­el­le Gere­de und die kon­kur­rie­ren­den Mei­nung bei­sei­te läßt.« Den Ein­fall aber »kann man nicht ler­nen. Er ist das Unab­hän­gi­ge selbst, das Plötz­li­che.« Kein Wun­der, daß Boh­rer auch den Vor­wurf erfah­ren hat, er sei »eli­tär«.

Seit Jahr­zehn­ten beklagt er, daß die deut­sche Lite­ra­tur »das Böse« ver­feh­le, weil sie, anstatt es phä­no­me­no­lo­gisch zu erfas­sen, mora­li­sie­re und päd­ago­gi­sie­re. Ein Befund, des­sen Bedeu­tung weit über die Lite­ra­tur hin­aus­geht. Die Fixie­rung auf das Drit­te Reich und spe­zi­ell auf den Holo­caust habe dazu geführt, daß die deut­sche Geschich­te »zur Nicht­ge­schich­te anni­hi­liert« sei. Der Roman Die Wohl­ge­sinn­ten des US-Autors Jona­than Lit­tell scheint ihm nun die adäqua­te Ant­wort auf die natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­bre­chen zu sein und einen Aus­weg zu weisen.

Er ent­hält den fik­ti­ven Lebens­be­richt des SS-Täters Maxi­mi­li­an Aue, der sich am Juden­mord im Osten betei­ligt. Boh­rer lobt Lit­tells Dar­stel­lung, weil sie »kei­ner prag­ma­tisch-mora­li­schen Nutz­an­wen­dung, son­dern nur einer phan­tas­ma­go­rischen« ent­sprin­ge. Als Beleg zitiert er eine Text­stel­le, in der Aue schil­dert, wie er über Lei­chen schrei­tet: »… das wei­che, wei­ße Fleisch ver­schob sich unter mei­nen Stie­feln, … ich ver­sank bis zu den Knö­cheln in Schlamm und Blut«. Für Boh­rer ist das eine »abso­lu­te Meta­pher«, die das Unge­heu­er­li­che »nicht mime­tisch-expres­siv, son­dern refle­xiv-sym­bo­lisch« erfas­se und zugleich eine emo­tio­na­le und kogni­ti­ve Distan­zie­rung ent­hal­te. Wei­ter­hin »gehor­chen die­se Sät­ze der Sti­li­sie­rung des Krie­ges zu einer Kate­go­rie des ›Neu­en‹ sowohl aus ideo­lo­gie­kri­ti­scher Per­spek­ti­ve der Logik faschis­ti­schen Den­kens, als sie auch der his­to­ri­schen Erkennt­nis fol­gen, wonach der Natio­nal­so­zia­lis­mus aus der Empha­ti­sie­rung des Ers­ten Welt­kriegs als einer Mas­sen­schlach­tung ent­schei­den­de Impul­se gewann, nicht zuletzt aus die Kom­bi­na­ti­on von heroi­schem Opfer­kult und bar­ba­ri­scher Inhumanität«.

Die­ser Satz wider­spricht sich jedoch selbst, denn ent­we­der sind die mit­ge­teil­te Erkennt­nis und ihre lite­ra­ri­sche Dar­stel­lung »neu«, oder sie fol­gen jener alt­ba­cke­nen, päd­ago­gi­schen Les­art, die den Holo­caust auf die Leis­tung eines fehl­ge­gan­ge­nen deut­schen Geis­tes beschränkt. Bei­des zusam­men geht nicht! Bevor die deut­schen Trup­pen 1941 im ukrai­ni­schen Lem­berg ein­mar­schier­ten, ermor­de­te der sowje­ti­sche Geheim­dienst NKWD dort Tau­sen­de poli­ti­sche Häft­lin­ge. Ihre Lei­chen ver­wes­ten in der Som­mer­hit­ze, so daß sie auf dem Gefäng­nis­bo­den eine stin­ken­de Sup­pe bil­de­ten. Ob auch Max Aue durch die­se Brü­he gestapft und so ein Bad im Dra­chen­blut genom­men hat, bevor er sel­ber ans Mor­den ging? Und wäre das für Boh­rer eine »abso­lu­te« oder bloß pro­vin­zi­el­le Meta­pher? Die »prag­ma­tisch-mora­li­sche Nutz­an­wen­dung« des Romans, die in der Bestä­ti­gung des ideo­lo­gi­schen Über­baus (»Sys­tems«) der west­li­chen Welt besteht, ist jeden­falls evident.

Boh­rer hat in Wahr­heit stets klar fixier­te Prä­mis­sen ver­tre­ten, die sich rück­bli­ckend zum poli­ti­schen Res­sen­ti­ment fügen: Rich­ti­ger­wei­se stellt er fest, daß die Ver­fer­ti­gung geschichts­phi­lo­so­phi­scher Sys­te­me durch deut­sche Den­ker eine Ersatz­hand­lung für die real­po­li­ti­sche Macht­lo­sig­keit des Lan­des gewe­sen sei. Wäh­rend die Deut­schen über die Zeit nach­grü­bel­ten, erober­ten die Bri­ten den Raum und ent­wi­ckel­ten bei sei­ner Ver­wal­tung und Aus­beu­tung einen Prag­ma­tis­mus der Macht, dem Deutsch­land nie etwas ent­ge­gen­set­zen konn­te und den Boh­rer um so mehr bewundert.

Das ergibt eine Par­al­le­le zu Jür­gen Haber­mas, als des­sen Kon­trast­fi­gur Boh­rer oft genannt wird. So wie Haber­mas auf das auf­klä­re­risch-eman­zi­pa­to­ri­sche Ide­al eines nor­ma­tiv gedach­ten Wes­tens fixiert ist, beruft sich Boh­rer auf den Macht­prag­ma­tis­mus der Angel­sach­sen, der für ihn den Maß­stab bil­det. Nie wäre es ihm ein­ge­fal­len, wie Fried­rich Sieburg ein Kapi­tel »Besat­zungs­mü­de« zu beti­teln und die kon­kre­ten poli­tisch-his­to­ri­schen Bedin­gun­gen, unter denen die Anti-Ästhe­tik der Bun­des­re­pu­blik sich durch­setz­te, zu analysieren.

Das Bezugs­sys­tem, in dem der Selbst­den­ker sich bewegt, befin­det sich aller­dings sel­ber in Auf­lö­sung. So wet­ter­te Boh­rer 2007 im Mer­kur-Son­der­heft »Kein Wil­le zur Macht« über die Ange­hö­ri­gen der Roy­al Navy, die im Per­si­schen Golf von der ira­ni­schen Mari­ne gefan­gen­ge­nom­men wur­den und – ent­ge­gen der »tra­di­tio­nel­len poli­ti­schen Ethik« Bri­tan­ni­ens – nach­träg­lich in den Medi­en ent­hüll­ten, sich wäh­rend der Gefan­gen­schaft in den Schlaf geweint zu haben. Boh­rer fas­sungs­los: »Sta­tio­nen eines kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Nie­der­gangs. Das zeigt sich buch­stäb­lich auch phä­no­me­no­lo­gisch. Das öffent­li­che Eng­land ist nicht bloß düm­mer, son­dern auch häß­li­cher gewor­den.« Und nun? Neue Ein­sich­ten und Per­spek­ti­ven sind gefragt!

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