Es geht darin um den neuen Modus künstlerischer Wahrnehmung, den der technisierte Erste Weltkrieg erzwang. Das Ästhetische bildet bei Bohrer ein Reich jenseits praktischer Zwecke. Es ist das Kompromißlose und Unerhörte, das neue Einsicht provoziert, zum Perspektivenwechsel zwingt und verborgene Wahrheiten aufblitzen läßt. Deshalb darf die Kunst sich keinem geschichtsphilosophischen, politischen, moralischen, religiösen Auftrag verpflichtet fühlen, sie soll ausschließlich nach gesteigerter Imagination streben. Im Umkehrschluß transportiert das Unästhetische und Häßliche die Banalität und den falschen Konsens. In diesem Sinne fühlt Bohrer sich auch für Politik und Gesellschaft zuständig und geißelt die ästhetischen Fehlleistungen in der Bundesrepublik als Signaturen geistiger Verzwergung und verdorbener politischer Moral.
Mit den 1990/91 veröffentlichten Provinzialismus-Glossen stieß er den deutsch-deutschen »Literaturstreit« an und polemisierte gegen das Pfäffische und Moralinsaure der kanonisierten Nachkriegsliteratur, aber auch gegen das Weinerliche, Kitschige und Ungeformte der politischen Rhetorik. Helmut Kohls Strickjacke war ihm das Symbol anbiedernder Vertraulichkeit und der Abwesenheit politischer Ideen. Eine Textanalyse würde ergeben, daß er sich von Friedrich Sieburgs Lust am Untergang inspirieren ließ, obzwar er das Buch nicht erwähnt. Die Schärfe, mit der er das etablierte juste milieu der Bundesrepublik attackierte, und der nicht selten in Arroganz umkippende Ton setzten ihn zeitweilig dem Verdacht aus, ein Konservativer oder gar Rechter zu sein, der die zivilisatorischen Errungenschaften der Bundesrepublik gegen einen neuen deutschen Nationalismus eintauschen wolle. Doch nichts wäre falscher als diese Annahme.
In seinem neuesten Buch (Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, München: Hanser 2011. 221 S., 19.90 €) versucht er die Positionsbestimmung des modernen Intellektuellen, die auch eine indirekte Selbstbeschreibung einschließt. Er sieht ihn zwischen die Alternative des Selbst- oder des Systemdenkers gestellt. Der Systemdenker, wie er sich in der Tradition des deutschen Idealismus herausgebildet hat, mißt die vorgefundene Wirklichkeit an einem Denksystem bzw. einem Ideal, oder er stellt gegen einen herrschenden Entwurf einen komplementär neuen. Natürlich können System- auch Selbstdenker sein, wenn sie sich – wie Hegel – aus vorgefundenen Fixierungen lösen und ein neues System schaffen, das mehr bedeutet als die Umkehrung eines vorgefundenen.
Bohrer sieht sich als Selbstdenker. Dieser ist innovativ, skeptisch gegenüber dem systemischen Denken, absentiert sich vom Diskursrauschen und beschreibt die Wirklichkeit im Licht eines neuen, überraschenden Einfalls. Den erkenntnistheoretischen Urknall erkennt Bohrer im Hinweis des französischen Moralphilosophen Montaigne »auf den Momentanismus der Existenz« (den Bohrer in der Ästhetik des Schreckens auf den Begriff »Epiphanie des Augenblicks« gebracht hat). Der Impuls wurde vom Frühromantiker Friedrich Schlegel aufgenommen, der in seiner Neuen Mythologie das Ästhetische aus der Vormundschaft der Geschichtsphilosophie und der Vernunft befreite. Für Künstler wie für Nicht-Künstler gelte gleichermaßen: »Nur aus der unbekümmerten, selbstbewußten Konzentration auf das, was zu beschreiben ist, kommt der genuine Einfall, der das intellektuelle Gerede und die konkurrierenden Meinung beiseite läßt.« Den Einfall aber »kann man nicht lernen. Er ist das Unabhängige selbst, das Plötzliche.« Kein Wunder, daß Bohrer auch den Vorwurf erfahren hat, er sei »elitär«.
Seit Jahrzehnten beklagt er, daß die deutsche Literatur »das Böse« verfehle, weil sie, anstatt es phänomenologisch zu erfassen, moralisiere und pädagogisiere. Ein Befund, dessen Bedeutung weit über die Literatur hinausgeht. Die Fixierung auf das Dritte Reich und speziell auf den Holocaust habe dazu geführt, daß die deutsche Geschichte »zur Nichtgeschichte annihiliert« sei. Der Roman Die Wohlgesinnten des US-Autors Jonathan Littell scheint ihm nun die adäquate Antwort auf die nationalsozialistischen Verbrechen zu sein und einen Ausweg zu weisen.
Er enthält den fiktiven Lebensbericht des SS-Täters Maximilian Aue, der sich am Judenmord im Osten beteiligt. Bohrer lobt Littells Darstellung, weil sie »keiner pragmatisch-moralischen Nutzanwendung, sondern nur einer phantasmagorischen« entspringe. Als Beleg zitiert er eine Textstelle, in der Aue schildert, wie er über Leichen schreitet: »… das weiche, weiße Fleisch verschob sich unter meinen Stiefeln, … ich versank bis zu den Knöcheln in Schlamm und Blut«. Für Bohrer ist das eine »absolute Metapher«, die das Ungeheuerliche »nicht mimetisch-expressiv, sondern reflexiv-symbolisch« erfasse und zugleich eine emotionale und kognitive Distanzierung enthalte. Weiterhin »gehorchen diese Sätze der Stilisierung des Krieges zu einer Kategorie des ›Neuen‹ sowohl aus ideologiekritischer Perspektive der Logik faschistischen Denkens, als sie auch der historischen Erkenntnis folgen, wonach der Nationalsozialismus aus der Emphatisierung des Ersten Weltkriegs als einer Massenschlachtung entscheidende Impulse gewann, nicht zuletzt aus die Kombination von heroischem Opferkult und barbarischer Inhumanität«.
Dieser Satz widerspricht sich jedoch selbst, denn entweder sind die mitgeteilte Erkenntnis und ihre literarische Darstellung »neu«, oder sie folgen jener altbackenen, pädagogischen Lesart, die den Holocaust auf die Leistung eines fehlgegangenen deutschen Geistes beschränkt. Beides zusammen geht nicht! Bevor die deutschen Truppen 1941 im ukrainischen Lemberg einmarschierten, ermordete der sowjetische Geheimdienst NKWD dort Tausende politische Häftlinge. Ihre Leichen verwesten in der Sommerhitze, so daß sie auf dem Gefängnisboden eine stinkende Suppe bildeten. Ob auch Max Aue durch diese Brühe gestapft und so ein Bad im Drachenblut genommen hat, bevor er selber ans Morden ging? Und wäre das für Bohrer eine »absolute« oder bloß provinzielle Metapher? Die »pragmatisch-moralische Nutzanwendung« des Romans, die in der Bestätigung des ideologischen Überbaus (»Systems«) der westlichen Welt besteht, ist jedenfalls evident.
Bohrer hat in Wahrheit stets klar fixierte Prämissen vertreten, die sich rückblickend zum politischen Ressentiment fügen: Richtigerweise stellt er fest, daß die Verfertigung geschichtsphilosophischer Systeme durch deutsche Denker eine Ersatzhandlung für die realpolitische Machtlosigkeit des Landes gewesen sei. Während die Deutschen über die Zeit nachgrübelten, eroberten die Briten den Raum und entwickelten bei seiner Verwaltung und Ausbeutung einen Pragmatismus der Macht, dem Deutschland nie etwas entgegensetzen konnte und den Bohrer um so mehr bewundert.
Das ergibt eine Parallele zu Jürgen Habermas, als dessen Kontrastfigur Bohrer oft genannt wird. So wie Habermas auf das aufklärerisch-emanzipatorische Ideal eines normativ gedachten Westens fixiert ist, beruft sich Bohrer auf den Machtpragmatismus der Angelsachsen, der für ihn den Maßstab bildet. Nie wäre es ihm eingefallen, wie Friedrich Sieburg ein Kapitel »Besatzungsmüde« zu betiteln und die konkreten politisch-historischen Bedingungen, unter denen die Anti-Ästhetik der Bundesrepublik sich durchsetzte, zu analysieren.
Das Bezugssystem, in dem der Selbstdenker sich bewegt, befindet sich allerdings selber in Auflösung. So wetterte Bohrer 2007 im Merkur-Sonderheft »Kein Wille zur Macht« über die Angehörigen der Royal Navy, die im Persischen Golf von der iranischen Marine gefangengenommen wurden und – entgegen der »traditionellen politischen Ethik« Britanniens – nachträglich in den Medien enthüllten, sich während der Gefangenschaft in den Schlaf geweint zu haben. Bohrer fassungslos: »Stationen eines kulturellen und politischen Niedergangs. Das zeigt sich buchstäblich auch phänomenologisch. Das öffentliche England ist nicht bloß dümmer, sondern auch häßlicher geworden.« Und nun? Neue Einsichten und Perspektiven sind gefragt!