Was sich dort wirklich abspielte, scheint so ungeheuerlich, daß wir uns glatt in die Gegenwart versetzt fühlen …
14. Januar 1700:
Eines vorweg: Von der viel beschrieenen und weit um den Globus beschriebenen Fremdenfeindschaft der Bewohner dieses Landes kann keine Rede sein, eher vom Gegenteil. Mir zumindest begegnete man mit größter Aufgeschlossenheit. Wurde ich doch sofort zu zahllosen Gesellschaften eingeladen. Man ermunterte mich sogar, obwohl eben erst angekommen, flugs zur Kritik an den hiesigen Verhältnissen, offenbar im Bewusstsein, dass woanders fast alles besser als hier sein müsse.
Nie im Leben habe ich so schnell den vermeintlichen Expertenstatus erklommen. Als ich zunächst nur die Unterschiede zu Britannien benannte, wurde dies sofort begierig aufgegriffen und als weltmännische Alternative deklariert. Meine wenigen, meist unzusammenhängenden Überlegungen wurden eilends protokolliert, veröffentlicht und erfreulicherweise mit einem satten Honorar von 50 Eimerchen Erdbeerwein vergütet. (Wegen der Größenverhältnisse zwischen mir und den Lilliputs reichten sie allerdings leider nur zu einem äußerst mäßigen Rausch.)
Natürlich gab es auch Anpassungsschwierigkeiten. Aber wie die gemeistert wurden, belegt mein positives Urteil umso mehr. Denn ich muss leider eingestehen, dass es anfangs ein wenig dauerte, bis ich die enormen Längenunterschiede zwischen mir und den Eingeborenen entsprechend berücksichtigte. Zuvor spazierte ich buchstäblich in der Gegend herum wie der berüchtigte Elefant im Porzellanladen. Harmlos war noch, dass ich zunächst, ungewohnt der neuen Speisen, häufig aufstieß, wobei meine Rülpser einige Blumenstöcke von den Fernsterbrettern fegten. Da lächelten die Bewohner des Küstendorfs nur milde verzeihend. „Ist uns auch schon passiert“, hieß es freundlich-entschuldigend. (Fragt sich nur wo, bei ihrem Wisperatem. Aber ich mag solche kleinen Höflichkeitsschwindeleien.)
Ein paar Irritationen gab es allerdings, als ich mit meinen Riesenlatschen einen Feldstein wegkickte und damit die Zäune von zwei Ziergärten umlegte. Da wurde schon ein wenig geschimpft; aber ich weiß ja, wie passionierte Hobbygärtner fühlen. Dummerweise habe ich später noch weitere Schäden angerichtet. Natürlich fand sich anfangs für meine Riesenmaße gemäß lilliputanischer Norm keine adäquate Unterkunft. Da es Sommer war, kampierte ich also einfach im Freien und schützte mich vor Regen durch ein Festzelt, dessen Anfertigung der Monatsproduktion einer Textilfabrik entsprach und für dessen Bezahlung mir anfangs die Mittel fehlten. Weil ich zudem unruhig schlafe, habe ich in den ersten Nächten mit meinen Armen und Beinen mehrere Apfel- und Pflaumenbäume verwüstet, ausschließlich Edelsorten einer Musterplantage, was zu leichten Verstimmungen führte.
Auch hat mein Schnarchen und – ich will es nicht schamhaft verschweigen – mein Furzen, welches sich durch das hier extensive Würzen mit Curry und Ingwer besonders heftig bemerkbar machte, einige Häuser abgedeckt und nächtens Windmühlen in Gang gesetzt. Auch das Urinieren führte zu Beinahe-Unglücken, insofern ich damit einige im dichten Buschwerk übersehene Waldarbeiter fast in einem Sturzbach ertränkte. All dies provozierte schließlich kleinere Zusammenrottungen. Auch schossen vergrätzte Bewohner, im Nebel getarnt, mit ihren Flitzebögen einige Minipfeile auf mich ab, die sie vorher mit Essigsäure getränkt hatten.
Als dies aber in städtischen Kreisen ruchbar wurde, erreichten mich sofort zahlreiche Entschuldigungsschreiben aus allen Teilen des Landes. Regionale wie überregionale Zeitungen veranstalteten einen 14-tägigen Rummel. „Wehret den Anfängen!“ stand in jeder zweiten Gazette. „Nie wieder!“ lautete der Tenor der Parlamentsredner. Diverse Anti-Xenophobie- respektive Xenophilie-Komitees schickten Sühne-Delegationen. Unter lebhafter Beteilung der Bevölkerung bildeten sich Lichterketten vom Strand bis zur Hauptstadt Mildendo und leuchteten die ganze Nacht wie ein Glühwürmchen-Festival.
Der Bürgermeister eilte herbei und entschuldigte sich im Namen seiner Gemeinde unter 25 Bücklingen, die er eigens zu diesem Zweck einstudiert hatte und äußerst grazil zur Ausführung brachte. Auch viele Politiker gaben ihrer „tiefsten Überzeugung“ und ihren „dringendsten Wünschen“ Ausdruck, dass den „rückständigen, menschenverachtenden randalierenden Rowdies“ ein strenger Prozess gemacht werde, um dergleichen künftig ein für allemal auszuschließen.
Das war mir dann schon fast wieder peinlich, und ich sprach ein wenig zu Gunsten der Möchtegern-Tells vom Lilliputland. Als ich dabei ein gewisses Verständnis für deren spontane Reaktionen äußerte – die Geschosse hätten ohnehin nur meine Oberhaut geritzt –, wurde ich in Dutzenden gefühlvoller Artikel als Muster eines humanen und kosmopolitisch überlegenen Geistes gepriesen, den zu molestieren für die eigene Bevölkerung umso schandbarer sei.
In der Hohen Juristischen Fakultät der Universität von Mildendo wurde meine Bagatellisierung der kurzfristigen Volkswut sogar Gegenstand eines strafrechtlichen Kolloquiums. Insbesondere meine Feststellung, einer der Schützen hätte schließlich unter Schock gestanden, als plötzlich sein Haus das Dach verlor und ein Ziegel seinem schlafenden Töchterchen die Hand zerquetschte, war Gegenstand lebhafter Erörterungen. Im Ergebnis wurde festgestellt, meine Fürbitte ehre mich im höchsten Maße als Mann von vornehmer und weichherziger Gesinnung. Allerdings stünden Angehörigen eines Tätervolks solche Rechtfertigungsgründe nicht zu. Denn niemand dürfe hier aufrechnen. Gutachten, welche man zudem interdisziplinär einholte, wiesen übrigens nach, dass gerade das periodische Lüften von Hausdächern letztlich zur stabilen Bauweise bzw. zu Testzwecken unerlässlich sei.
Fazit: Lilliputs Öffentlichkeit verurteilte die „Wüstlinge“ und dankte mir am Ende überschwänglich dafür, dass ich auf Zivilklagen verzichtete und nur die Hälfte des von den Tätern angebotenen Sühnegelds beanspruchte.
(Gulliver im Zwergenland, 200 S., 17 €)