Gulliver im Zwergenland (I): Ehret die Fremden!

Endlich gibt es den authentischen Tagebuch-Text des weltberühmten Reisenden Gulliver, der im November 1699 nach einem Schiffbruch im ehemaligen Lilliput landete.

Was sich dort wirk­lich abspiel­te, scheint so unge­heu­er­lich, daß wir uns glatt in die Gegen­wart ver­setzt fühlen …

14. Janu­ar 1700:

Eines vor­weg: Von der viel beschriee­nen und weit um den Glo­bus beschrie­be­nen Frem­den­feind­schaft der Bewoh­ner die­ses Lan­des kann kei­ne Rede sein, eher vom Gegen­teil. Mir zumin­dest begeg­ne­te man mit größ­ter Auf­ge­schlos­sen­heit. Wur­de ich doch sofort zu zahl­lo­sen Gesell­schaf­ten ein­ge­la­den. Man ermun­ter­te mich sogar, obwohl eben erst ange­kom­men, flugs zur Kri­tik an den hie­si­gen Ver­hält­nis­sen, offen­bar im Bewusst­sein, dass woan­ders fast alles bes­ser als hier sein müsse.

Nie im Leben habe ich so schnell den ver­meint­li­chen Exper­ten­sta­tus erklom­men. Als ich zunächst nur die Unter­schie­de zu Bri­tan­ni­en benann­te, wur­de dies sofort begie­rig auf­ge­grif­fen und als welt­män­ni­sche Alter­na­ti­ve dekla­riert. Mei­ne weni­gen, meist unzu­sam­men­hän­gen­den Über­le­gun­gen wur­den eilends pro­to­kol­liert, ver­öf­fent­licht und erfreu­li­cher­wei­se mit einem sat­ten Hono­rar von 50 Eimer­chen Erd­beer­wein ver­gü­tet. (Wegen der Grö­ßen­ver­hält­nis­se zwi­schen mir und den Lil­li­puts reich­ten sie aller­dings lei­der nur zu einem äußerst mäßi­gen Rausch.)

Natür­lich gab es auch Anpas­sungs­schwie­rig­kei­ten. Aber wie die gemeis­tert wur­den, belegt mein posi­ti­ves Urteil umso mehr. Denn ich muss lei­der ein­ge­ste­hen, dass es anfangs ein wenig dau­er­te, bis ich die enor­men Län­gen­un­ter­schie­de zwi­schen mir und den Ein­ge­bo­re­nen ent­spre­chend berück­sich­tig­te. Zuvor spa­zier­te ich buch­stäb­lich in der Gegend her­um wie der berüch­tig­te Ele­fant im Por­zel­lan­la­den. Harm­los war noch, dass ich zunächst, unge­wohnt der neu­en Spei­sen, häu­fig auf­stieß, wobei mei­ne Rülp­ser eini­ge Blu­men­stö­cke von den Ferns­ter­bret­tern feg­ten. Da lächel­ten die Bewoh­ner des Küs­ten­dorfs nur mil­de ver­zei­hend. „Ist uns auch schon pas­siert“, hieß es freund­lich-ent­schul­di­gend. (Fragt sich nur wo, bei ihrem Wis­pe­ra­tem. Aber ich mag sol­che klei­nen Höflichkeitsschwindeleien.)

Ein paar Irri­ta­tio­nen gab es aller­dings, als ich mit mei­nen Rie­sen­lat­schen einen Feld­stein weg­kick­te und damit die Zäu­ne von zwei Zier­gär­ten umleg­te. Da wur­de schon ein wenig geschimpft; aber ich weiß ja, wie pas­sio­nier­te Hob­by­gärt­ner füh­len. Dum­mer­wei­se habe ich spä­ter noch wei­te­re Schä­den ange­rich­tet. Natür­lich fand sich anfangs für mei­ne Rie­sen­ma­ße gemäß lil­li­pu­ta­ni­scher Norm kei­ne adäqua­te Unter­kunft. Da es Som­mer war, kam­pier­te ich also ein­fach im Frei­en und schütz­te mich vor Regen durch ein Fest­zelt, des­sen Anfer­ti­gung der Monats­pro­duk­ti­on einer Tex­til­fa­brik ent­sprach und für des­sen Bezah­lung mir anfangs die Mit­tel fehl­ten. Weil ich zudem unru­hig schla­fe, habe ich in den ers­ten Näch­ten mit mei­nen Armen und Bei­nen meh­re­re Apfel- und Pflau­men­bäu­me ver­wüs­tet, aus­schließ­lich Edel­sor­ten einer Mus­ter­plan­ta­ge, was zu leich­ten Ver­stim­mun­gen führte.

Auch hat mein Schnar­chen und – ich will es nicht scham­haft ver­schwei­gen – mein Fur­zen, wel­ches sich durch das hier exten­si­ve Wür­zen mit Cur­ry und Ing­wer beson­ders hef­tig bemerk­bar mach­te, eini­ge Häu­ser abge­deckt und näch­tens Wind­müh­len in Gang gesetzt. Auch das Uri­nie­ren führ­te zu Bei­na­he-Unglü­cken, inso­fern ich damit eini­ge im dich­ten Busch­werk über­se­he­ne Wald­ar­bei­ter fast in einem Sturz­bach ertränk­te. All dies pro­vo­zier­te schließ­lich klei­ne­re Zusam­men­rot­tun­gen. Auch schos­sen ver­grätz­te Bewoh­ner, im Nebel getarnt, mit ihren Flit­ze­bö­gen eini­ge Minipfei­le auf mich ab, die sie vor­her mit Essig­säu­re getränkt hatten.

Als dies aber in städ­ti­schen Krei­sen ruch­bar wur­de, erreich­ten mich sofort zahl­rei­che Ent­schul­di­gungs­schrei­ben aus allen Tei­len des Lan­des. Regio­na­le wie über­re­gio­na­le Zei­tun­gen ver­an­stal­te­ten einen 14-tägi­gen Rum­mel. „Weh­ret den Anfän­gen!“ stand in jeder zwei­ten Gazet­te. „Nie wie­der!“ lau­te­te der Tenor der Par­la­ments­red­ner. Diver­se Anti-Xeno­pho­bie- respek­ti­ve Xeno­phi­lie-Komi­tees schick­ten Süh­ne-Dele­ga­tio­nen. Unter leb­haf­ter Betei­lung der Bevöl­ke­rung bil­de­ten sich Lich­ter­ket­ten vom Strand bis zur Haupt­stadt Mil­den­do und leuch­te­ten die gan­ze Nacht wie ein Glühwürmchen-Festival.

 

Der Bür­ger­meis­ter eil­te her­bei und ent­schul­dig­te sich im Namen sei­ner Gemein­de unter 25 Bück­lin­gen, die er eigens zu die­sem Zweck ein­stu­diert hat­te und äußerst gra­zil zur Aus­füh­rung brach­te. Auch vie­le Poli­ti­ker gaben ihrer „tiefs­ten Über­zeu­gung“ und ihren „drin­gends­ten Wün­schen“ Aus­druck, dass den „rück­stän­di­gen, men­schen­ver­ach­ten­den ran­da­lie­ren­den Row­dies“ ein stren­ger Pro­zess gemacht wer­de, um der­glei­chen künf­tig ein für alle­mal auszuschließen.

Das war mir dann schon fast wie­der pein­lich, und ich sprach ein wenig zu Guns­ten der Möch­te­gern-Tells vom Lil­li­put­land. Als ich dabei ein gewis­ses Ver­ständ­nis für deren spon­ta­ne Reak­tio­nen äußer­te – die Geschos­se hät­ten ohne­hin nur mei­ne Ober­haut geritzt –, wur­de ich in Dut­zen­den gefühl­vol­ler Arti­kel als Mus­ter eines huma­nen und kos­mo­po­li­tisch über­le­ge­nen Geis­tes geprie­sen, den zu moles­tie­ren für die eige­ne Bevöl­ke­rung umso schand­ba­rer sei.

In der Hohen Juris­ti­schen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät von Mil­den­do wur­de mei­ne Baga­tel­li­sie­rung der kurz­fris­ti­gen Volks­wut sogar Gegen­stand eines straf­recht­li­chen Kol­lo­qui­ums. Ins­be­son­de­re mei­ne Fest­stel­lung, einer der Schüt­zen hät­te schließ­lich unter Schock gestan­den, als plötz­lich sein Haus das Dach ver­lor und ein Zie­gel sei­nem schla­fen­den Töch­ter­chen die Hand zer­quetsch­te, war Gegen­stand leb­haf­ter Erör­te­run­gen. Im Ergeb­nis wur­de fest­ge­stellt, mei­ne Für­bit­te ehre mich im höchs­ten Maße als Mann von vor­neh­mer und weich­her­zi­ger Gesin­nung. Aller­dings stün­den Ange­hö­ri­gen eines Täter­volks sol­che Recht­fer­ti­gungs­grün­de nicht zu. Denn nie­mand dür­fe hier auf­rech­nen. Gut­ach­ten, wel­che man zudem inter­dis­zi­pli­när ein­hol­te, wie­sen übri­gens nach, dass gera­de das peri­odi­sche Lüf­ten von Haus­dä­chern letzt­lich zur sta­bi­len Bau­wei­se bzw. zu Test­zwe­cken uner­läss­lich sei.

Fazit: Lil­li­puts Öffent­lich­keit ver­ur­teil­te die „Wüst­lin­ge“ und dank­te mir am Ende über­schwäng­lich dafür, dass ich auf Zivil­kla­gen ver­zich­te­te und nur die Hälf­te des von den Tätern ange­bo­te­nen Süh­ne­gelds beanspruchte.

(Gul­li­ver im Zwer­gen­land, 200 S., 17 €)

 

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