Selbst Martin Schulz, Vorsitzender der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, kam zu der Feststellung, es habe „kein Land (…) sich mehr für Polen engagiert als Deutschland”. Seine EU-Mitgliedschaft verdanke es vor allem der Initiative Helmut Kohls und Gerhard Schröders. In der Financial Times wurde darauf hingewiesen, daß es deutsche Regierungen waren, die dafür eintraten, Polen in den nächsten sieben Jahren sechzig Milliarden Euro netto aus der Gemeinschaftskasse zuzuweisen, weit mehr als jedem anderen Land der Union. Und schließlich sei noch Berthold Kohler zitiert, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der in einem Leitartikel sein Befremden darüber zum Ausdruck brachte, daß ausgerechnet die „propolnische Politik deutscher Regierungen seit Brandt nicht verhindern” konnte, „daß die Kaczynskis und ihre Anhänger Deutschland immer noch mit den Begriffen der Nazizeit zu erfassen versuchen”.
Ob dieses Befremden echt oder nur behauptet war, kann dahingestellt bleiben. Denn Kohler ist sicher bewußt, daß der Infamie der Kaczynskis ein Kalkül zugrunde liegt, das der polnische Staatspräsident auf die ebenso knappe wie brutale Formel brachte, Deutschland habe in den vergangenen vierzig Jahren auf den Knien gelegen und das sei sehr nützlich gewesen, weshalb man daran nichts ändern sollte. Das Aufden-Knien-Liegen von irgend jemandem scheint eine Art polnische Obsession zu sein. Darauf läßt die Häufigkeit der entsprechenden Metapher in Politikeräußerungen schließen, aber auch die Menge von Zeitschriftentiteln, die im Zusammenhang mit den deutsch-polnischen Konflikten der letzten Jahre deutsche Politiker auf den Knien beziehungsweise auf allen Vieren abbildeten. Vielleicht ist das eine Travestie von Brandts berühmtem Kniefall vor dem Denkmal für die Toten des Warschauer Aufstandes (kein spontaner, sondern ein sorgfältig inszenierter Akt, wie wir heute wissen), aber es steht wohl eher etwas Grundsätzliches dahinter, eine Symbolik, die in einem katholisch geprägten Land wie Polen naheliegt: das Knien bringt Demut und Bußbereitschaft zum Ausdruck.
Weder das eine noch das andere hat unmittelbar mit Politik zu tun, aber die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen war seit den sechziger Jahren sehr viel weniger von Staatsräson als von politischer Theologie bestimmt, der zufolge das Geschehen im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs – der Angriff auf Polen, das brutale Besatzungsregime, die Niederlage der Wehrmacht, die Bedrückung und Vertreibung der Ostdeutschen, die Annexion der Gebiete jenseits von Oder und Neiße – nicht des historischen Verstehens oder einer diplomatischen Korrektur bedurfte, sondern einer Aufarbeitung aus Glaubensperspektive. Das gilt jedenfalls für die deutsche Seite. Ursache dafür war der große Einfluß, den der linke Protestantismus auf die westdeutsche Politik beziehungsweise den vorpolitischen Bereich gewinnen konnte.
Eine Schlüsselbedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Ostdenkschrift der EKD zu, in der sich der protestantische Dachverband 1965 nicht nur für die faktische Anerkennung des Verlusts der ostdeutschen Provinzen aussprach, son dern diesen Schritt auch noch mit dem Ausgang des Krieges als „Gottesgericht” und der „deutschen Schuld” begründete, die zwar Teil einer allgemeinen „Schuldverflechtung” der „Völker” sei, aber eben doch so viel schwerer wiege als die Schuld aller anderen.
Obwohl die Denkvoraussetzungen dieser Argumentation – Völker als handlungsfähige Subjekte, Gott als Herr der Geschichte, die Äußerung seines Willens im historischen Verlauf – den meisten heute kaum noch nachvollziehbar sind, hat sich deren Substrat in den Köpfen festgesetzt und ist Teil der deutschen Zivilreligion geworden, die mit ihrer Liturgie, ihren Dogmen und Tabus außerordentlichen Einfluß auf die öffentliche Meinung hat. Und das, obwohl die Erwartungen, die ursprünglich mit dem Vorstoß, den die Ostdenkschrift bedeutete, verbunden waren, gar nicht erfüllt wurden. Die Hoffnung trog, daß nach dem ersten Schritt der Deutschen die Polen ihre „Selbstgerechtigkeit” aufgeben und ihrerseits „Schuld” anerkennen würden.
Zwar gab der polnische Episkopat in seinem Hirtenbrief vom November 1965 die berühmte Erklärung ab „Wir gewähren Vergebung und erbitten Vergebung”, aber das erst nach einer ausführlichen Darlegung des deutschen Sündenregisters, einer sehr knappen Erwähnung der Vertreibung und verbunden mit der sibyllinischen Formel, man „müsse die Geschichte als geschehen betrachten”, was unter den konkreten Umständen nur heißen konnte, daß sich die Deutschen gefälligst mit dem Status quo abfinden sollten. Verschwiegen wird in diesem Zusammenhang immer, daß der Inhalt des Schreibens außerdem durch einen Hirtenbrief der polnischen Bischöfe vom 10. Februar 1966 faktisch widerrufen wurde. Darin hieß es ausdrücklich: Man stelle die Frage, hat das „polnische Volk einen Anlaß dazu (…), seine Nachbarn um Vergebung zu bitten? Ganz bestimmt – nein.”
Es wäre ein großer Irrtum, in alldem nur eine innerkirchliche Angelegenheit zu sehen. Bezeichnenderweise erklärte Kurt Scharf, seinerzeit Ratsvorsitzender der EKD, man habe mit der Ostdenkschrift „für Politiker einen Raum freikämpfen” wollen. Und einen entsprechenden Charakter hatte auch sonst der Einsatz des linken Protestantismus, angefangen bei der programmatischen Rede, die Egon Bahr 1963 zugunsten einer diplomatischen Annäherung an den Ostblock in der Evangelischen Akademie Tutzing halten durfte, über die deutliche Stellungnahme führender Theologen gegen die Notstandsgesetze und die Regierung Erhard bis hin zur Organisation eines parlamentarischen Arms in der Sozialdemokratie durch so namhafte Vertreter wie Gustav Heinemann, Adolf Arndt und Johannes Rau.
Sie alle nahmen erheblichen Einfluß auf die Begründung und Rechtfertigung der „Entspannungs-” wie der „Neuen Ostpolitik” der Ära Brandt und sorgten dafür, daß praktische Erwägungen mit einem ideologischen Überbau versehen wurden, der durch und durch theologisch imprägniert war. Das wurde von polnischer Seite mit großem Wohlwollen aufgenommen, denn die deutsche Bereitschaft zur Annahme einer Kollektivschuld kam dem offiziellen Geschichtsbild entgegen, das in den Deutschen immerwährende Faschisten oder gleich den Erbfeind, in der Vertreibung eine gerechte Strafe und in der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie die selbstverständliche Folge des Potsdamer „Vertrages” sah. Die deutsche Politik tröstete sich darüber mit Beschwichtigung, der Behauptung, die eigene Linie sei alternativlos und dem Vertrauen auf „Wandel durch Annäherung”. Wirkungsvollen Widerstand gab es nicht, ganz im Gegenteil. In den siebziger und achtziger Jahren wurde in der Bundesrepublik eine realitätsferne Darstellung der polnischen Geschichte durchgesetzt und auf allen Ebenen – vom Schulbuch bis zur offiziellen Verlautbarung – eine einseitige, immer zu Lasten Deutschlands gehende Präsentation der Vergangenheit hingenommen.
Das führte dazu, daß auch nach der Wiedervereinigung – die gegen den deutlichen Widerstand Polens erfolgte – und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems keine Korrektur herbeizuführen war. Insofern erscheint es weniger verwunderlich, eher konsequent, daß auch im nachkommunistischen Polen die Vorstellung attraktiv erscheint, den deutschen Nationalmasochismus auszunutzen. Stefan Scheil hat unlängst darauf hingewiesen, daß hier eine Korrektur nur möglich sei, wenn man daranginge, die „geschichtspolitisch entworfenen Selbstbilder” hier wie dort dem anzupassen, was eigentlich „selbstverständlicher Standard” sei.