Der kurze Weg nach Westen – Karlheinz Bohrers “Erzählung einer Jugend”

(Rezension aus Sezession 51 / Dezember 2012)

von Thorsten Hinz

Der Literaturwissenschaftler, Publizist und langjährige Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer ist im September 80 Jahre alt geworden.

Im Vor­feld ist sei­ne auto­bio­gra­phisch inspi­rier­te Erzäh­lung einer Jugend erschie­nen. Wer eine tro­cken-aka­de­mi­sche Pro­sa befürch­tet hat­te, ist widerlegt.
Die Erzäh­lung setzt 1939 oder 1940 ein – so genau weiß der Autor es nicht mehr –, als die Kin­der in den Stra­ßen Kölns Gra­nat­split­ter auf­le­sen, die nachts vom Him­mel reg­nen und in den schöns­ten Far­ben schil­lern. Den »Jun­gen« – wie der Held der Erzäh­lung durch­weg genannt wird – erin­nern sie an den Schmuck der Mut­ter. Doch ihre gezack­ten Kan­ten sind gefähr­lich. »So ein Stück schar­fes Metall in die Hand zu neh­men war genau­so, wie wenn man das Wort ›Krieg‹ hörte«.
Boh­rer exem­pli­fi­ziert hier in kind­ge­rech­ter Form den »gefähr­li­chen Augen­blick«, den er in der Ästhe­tik des Schre­ckens, sei­ner Habi­li­ta­ti­ons­schrift zum Früh­werk Ernst Jün­gers, the­ma­ti­siert hat. Die­ser plötz­li­che Augen­blick durch­bricht das Kon­ti­nu­um der Zeit, pul­ve­ri­siert Gewiß­hei­ten und ver­bin­det epi­pha­ni­sche mit dezi­sio­nis­ti­schen Ele­men­ten. Blitz­ar­tig über­kommt auch den Jun­gen die Erkennt­nis: »Krieg war also etwas Grausames.«

Es gibt wei­te­re star­ke Pas­sa­gen, etwa die Schil­de­run­gen des bür­ger­li­chen Eltern­hau­ses. Dem Vater, einem Natio­nal­öko­no­men, sind die Natio­nal­so­zia­lis­ten ästhe­tisch, habi­tu­ell, poli­tisch tief zuwi­der. Die attrak­ti­ve, etwas leicht­le­bi­ge Mut­ter hofft, als Schau­spie­le­rin ent­deckt zu wer­den. Sie ist zu Kom­pro­mis­sen bereit, ver­fügt aber letzt­lich über unver­rück­ba­re Grund­sät­ze. Das alles wird gera­de­zu bei­läu­fig, ohne päd­ago­gi­sche Absicht und des­we­gen mit ein­dring­li­cher Wir­kung erzählt.

Nach dem Krieg wird der Jun­ge im Schul­in­ter­nat Birk­le­hof im Schwarz­wald unter­ge­bracht, das zuletzt Ulrich Raulff im Geor­ge-Buch Kreis ohne Meis­ter in den Blick­punkt gerückt hat. Boh­rer ver­zich­tet auf die bio­gra­phi­sche Iden­ti­fi­zie­rung von Leh­rern und Mit­schü­lern, die spä­ter zur bun­des­deut­schen Pro­mi­nenz gehö­ren. Es gehe ihm nur um die »Dar­stel­lung der Atmo­sphä­re und der Gedan­ken einer ver­gan­ge­nen Zeit«, begrün­det er in einem kur­zen Nach­satz sei­ne Zurück­hal­tung. Die Lek­tü­re von Eugen Kogons Buch Der SS-Staat gerät zur geis­ti­gen Abrech­nung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus, und nach­dem er Arthur Koest­lers Son­nen­fins­ter­nis gele­sen hat, kann er kein Kom­mu­nist mehr wer­den. Die Beschäf­ti­gung mit den grie­chi­schen Tra­gö­di­en bie­ten ihm die Mög­lich­keit, das sub­jek­ti­ve Erle­ben von Krieg und Schre­cken zu tran­szen­die­ren und gleich­zei­tig die Gegen­wart von einem außer­halb lie­gen­den Stand­punkt zu betrach­ten. Sowohl der spä­te­re Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler wie der Zeit­ana­ly­ti­ker kün­di­gen sich an.

Erzäh­le­risch stär­ker ist der drit­te Teil, der vom ers­ten Eng­land­auf­ent­halt 1953 berich­tet. Die Gast­ge­ber in Lon­don gehö­ren einer geho­be­nen Gesell­schafts­schicht an, spre­chen aus­ge­zeich­net Deutsch und ken­nen Deutsch­land von zahl­rei­chen Kul­tur­rei­sen. In Lon­don teilt sich dem Stu­den­ten aus Deutsch­land die nach­wir­ken­de Kraft des bri­ti­schen Empires mit. Wäh­rend Indi­en für ihn kaum mehr bedeu­tet als ein exo­ti­sches Mär­chen, stellt es für die Bri­ten die Gegen­wart und für eini­ge sogar eine kon­kre­te Erfah­rung dar – greif­ba­rer Unter­schied zwi­schen der land­ge­bun­de­nen Mit­tel- und der einst see­be­herr­schen­den Weltmacht!

Der Ein­druck auf den jun­gen Eng­land­rei­sen­den ist tief, wes­halb das Ende des Buches über­rascht. Wäh­rend die eng­li­sche Küs­te am Hori­zont ver­schwin­det, lau­tet die – angeb­lich – spon­ta­ne Bilanz: »Daß etwas für immer end­gül­tig ver­schwin­det, nicht als Ort, aber als Zeit, das emp­fand er in die­sem Augen­blick zum ersten­mal.« Dage­gen spricht jedoch der ele­gi­sche Ges­tus des Tex­tes, in dem sich der Ver­such Boh­rers aus­drückt, dem eins­ti­gen Glück in der Erin­ne­rung erneut hab­haft zu werden.

Der zwei­te Zweck des schrof­fen Schluß­sat­zes besteht dar­in, von den sub­ku­ta­nen Par­al­le­len abzu­len­ken, die das Eng­land-Kapi­tel zu den empha­ti­schen Berich­ten auf­weist, die jun­ge Intel­lek­tu­el­le aus West­eu­ro­pa in den 1920er und frü­hen 1930er Jah­ren über ihre Rei­sen in die Sowjet­uni­on ver­faß­ten. Die kom­mu­nis­ti­sche Schrift­stel­le­rin Anna Seg­hers behaup­te­te 1930, dort den »Ori­gi­nal­ein­druck« von einer neu­en Gesell­schaft emp­fan­gen zu haben. Den Begriff hat­te sie aus Goe­thes Wil­helm Meis­ters Wan­der­jah­re ent­lehnt, wo an einer Stel­le vom »ers­ten Auf­blü­hen der Außen­welt« die Rede ist, das sich dem jun­gen, noch unver­bil­de­ten Men­schen mit­teilt und ihn fürs Leben prägt.

In Wahr­heit ver­füg­ten die Ruß­land­rei­sen­den genau­so­we­nig wie Boh­rer über die  nai­ve Unbe­fan­gen­heit, die Goe­the meint. Die einen woll­ten in der Sowjet­uni­on ihre Hoff­nung auf eine gesell­schaft­li­che Alter­na­ti­ve bestä­tigt sehen, und für Boh­rer waren die Eng­län­der, seit er die deut­schen Sol­da­ten »müde und aus­drucks­los« als Gefan­ge­ne abge­führt sah, »sozu­sa­gen die Ersatz­sie­ger«. In ihrer »ruhi­gen Selbst­si­cher­heit« beweg­ten sie sich, als sei­en sie »immer schon Sie­ger gewe­sen«. Nun darf er sich ihnen zuge­hö­rig füh­len, ein wenig zumin­dest. So ist das Buch auch der Bericht über eine gelun­ge­ne Wes­ter­niza­ti­on.

Karl Heinz Boh­rer:  Gra­nat­split­ter. Erzäh­lung einer Jugend, Mün­chen:  Han­ser 2012. 315 S., 19.90 €

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.