das keinesfalls einen moderaten Ton anstimmt. Der bedeutende Hirnforscher lädt nicht zur Mäßigung vor der Glotze und an den Schaltknöpfchen der Spielautomaten ein. Er nennt keine empfehlenswerten Computerspiele, er beziffert keine Zeitzonen, innerhalb derer die Beschäftigung mit der virtuellen Welt tolerabel (oder gar günstig) wäre.
Nein, Spitzer, sechsfacher Vater, sagt ganz radikal: Jede vor dem Bildschirm der digitalen Medien verbrachte Stunde ist für Kinder vergeudete Lebenszeit. Der Psychiatrieprofessor argumentiert sprachlich bisweilen reichlich hemdsärmelig (was das Buch publikumsfreundlich macht), aber er hat die Wissenschaft auf seiner Seite.
Man will es kaum glauben: Sieben Stunden und vierzehn Minuten täglich verbringen deutsche Neuntkläßler im Durchschnitt vor dem Fernsehen, dem Video, dem Internet und vor Computerspielen. Die Mattscheibe des Smartphones ist dabei nicht mal einbezogen. Ungläubig rechnet man nach, zählt Wochenend- und Ferienzeiten hinzu und glaubt am Ende der Bilanz. Wohl keiner kann besser und glaubwürdiger erklären als Spitzer, was solche 50-Stunden-Wochen mit dem jugendlichen Gehirn machen. In vierzehn Kapiteln legt der Hirnforscher dar, inwiefern vorgeblich pädagogisch wertvolles Baby-TV, der Computer im Klassenzimmer, das Freizeitvergnügen in »sozialen Netzwerken« und auf welche Weise das sogenannte Multitasking, die Möglichkeit des »Abspeicherns« (also Auslagerns aus der aktiven Tätigkeit) und Ballerspiele die neuronalen Netzwerke beeinflussen. Das Gehirn ist ein plastisches, flexibles Organ, es verändert sich gemäß seiner Beanspruchung. Unter dem Dauerfeuer der Impulse bahnen sich »Trampelpfade« durch das Hirn, die relativ unveränderbar sind. Ein Jugendlicher, der seine Aktivitäten größtenteils ins »Netz« verlagert, anstatt durch Sport, Theater, papierne Lektüre oder Handwerk seinen Willen, seine Kreativität und Meinungsbildung zu schulen, wird ziemlich sicher seine affektive Selbstkontrolle einbüßen. Streßsymptome (wie Depressionen und Schlaflosigkeit), soziale Auffälligkeit und Schulprobleme stehen als sichere Folgen bevor. Spitzer malt keineswegs freihändig den Teufel an die Wand, er operiert mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien und untermalt die Folgen der digitalen (Hyper-)Aktivität mit eigenen Graphiken, die den angeschlagenen Alarmton untermauern.
Bisweilen untergräbt Spitzers polternde, wenn auch meist sympathische Radikalität die Nachvollziehbarkeit: Daß die Google-Suche einen Nutzer, der auf dem gesuchten Gebiet bislang ahnungslos ist, ratlos zurücklasse, stimmt definitiv nicht. Susanne Gaschke hatte sich – ohne in ihren Schlußfolgerungen moderater zu sein – 2009 bereits gründlich und womöglich eloquenter mit digitalen Verdummungstendenzen auseinandergesetzt (Sezession 30/2009). Gaschkes vortreffliches Buch fehlt in Spitzers Literaturliste, dafür finden sich dort Verweise auf 28 Spitzersche Publikationen. Klar, der Mann ist vom Fach! Für Eltern, die ihre Kinder ohnehin vernünftig erziehen – also unter weitestgehender Umschiffung digitaler Ablenkmedien –, bietet das Buch vor allem eine Bestätigung und eine fundierte Argumentationsgrundlage. Die konkreten Tips zum adäquaten Hirntraining, die Spitzer bietet, mögen banal erscheinen, sind aber goldrichtig: Kleine Kinder profitieren von simplen Fingerspielen mehr als von Laptops im Kindergarten! Stete Übungen der Selbstkontrolle (erst ein Lied, auch wenn der Kuchen auf dem Tisch noch so lockt) dienen der Immunisierung gegen Streß! Singen Sie viel und laut!
Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München: Droemer 2012. 368 S., 19.99 €