Dafür war vor allem ein Mann verantwortlich, der in Wien zu den Hauptreferenten gehörte: der Philosoph Kurt Hübner. Hübner entstammt einer deutsch-böhmischen Familie und wurde am 1. September 1921 in Prag geboren. Er studierte zunächst in seiner Heimatstadt, nach Kriegsende in Rostock und Kiel Philosophie. 1951 schloß er mit der Promotion ab und wurde vier Jahre später habilitiert. Von 1960 bis 1971 lehrte Hübner als Professor an der Technischen Universität Berlin, danach, bis zu seiner Emeritierung 1988, an der Universität Kiel. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag ursprünglich bei der Philosophie der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik. Aber schon in seiner 1978 erschienenen Kritik der wissenschaftlichen Vernunft machte sich seine Skepsis gegenüber dem Alleingeltungsanspruch des szientistischen Weltbilds geltend. Hübner zeigte auf, daß wissenschaftliches Arbeiten nicht voraussetzungslos möglich sei. Vielmehr beruhe es auf Setzungen, auch solchen axiomatischer Art, die selbst keiner wissenschaftlichen Prüfung unterworfen werden können.
Die Wissenschaft ist demnach nur Teil eines „Regelsystems” unter gegebenen Umständen. Derartige Regelsysteme – formeller oder informeller Natur – bestimmen menschliche Kulturen in allen Äußerungen. Ihre Gesamtheit zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten geographischen Raum bezeichnet Hübner als „historische Systemmenge”. In dieser Systemmenge auftretende Widersprüche werden mittels „Harmonisierung” beseitigt. Die kann sich durch weitere Ausarbeitung des Regelsystems vollziehen („Fortschritt I”) oder durch dessen grundsätzliche Änderung („Fortschritt II”).
Was diesen Ansatz Hübners von ähnlichen Theorien, etwa der Kybernetiker, unterschied, war die Behauptung, daß auch die mythische Weltsicht als Systemmenge beschrieben werden könne, die in bezug auf Konsistenz und lebenserhaltende Funktion mit der modernen vergleichbar sei. Allerdings brachte erst Hübners Buch Die Wahrheit des Mythos diese These in eine systematische Form und wandte sich – trotz des unverkennbar wissenschaftlichen Charakters – an eine breitere Öffentlichkeit. Die Wahrheit des Mythos dürfte zu den am intensivsten diskutierten philosophischen Werken im Deutschland der Nachkriegszeit gehört haben.
Die Ursache dafür lag in einem Stimmungswandel, der sich seit Mitte der siebziger Jahre vollzogen hatte. Entgegen einer bis dahin vertretenen Erwartung konnte die „zweite Aufklärung” keinen vollständigen Sieg erringen. Weder erfüllten sich die Verheißungen der Technokratie, noch die Vorstellungen von einer totalen Emanzipation vernunftbestimmter Einzelner. Ganz disparate Erscheinungen, von der Energiekrise und der ökologischen Frage bis zum radikalen Feminismus, dem Aufkommen des Terrors, dem Eindringen fernöstlicher Religiosität und den New Age-Sehnsüchten, wirkten sich zuletzt dahingehend aus, daß der rationale Lebensvollzug immer weniger erreichbar und vielen immer weniger wünschenswert erschien. Symptomatisch war, wenn Karl Heinz Bohrer 1980 in einem Aufsatz zu dem Schluß kam, daß der Mythos verstanden werden müsse als notwendige „Ergänzung zur Aufklärung, wenn sie blind geworden ist”. Das war eine deutlich andere Auffassung als die sonst übliche, derzufolge man den Mythos als falsches Bewußtsein zu betrachten hatte, als durch den „Faschismus” kontaminiert oder als überwundene Vorstufe des Logos.
Bohrers Text trug hinter dem Titel Rückkehr des Mythos noch ein Fragezeichen. Als fünf Jahre später Hübners Die Wahrheit des Mythos erschien, traf das Buch auf eine Öffentlichkeit, die bereit war, sich mit einer neuen Perspektive zu befassen. Allerdings wollte sich Hübner keineswegs an der „Wiederverzauberung” der Welt beteiligen. Im Vorwort seines Buches hieß es über die Flucht in Substitute des Mythischen, wie sie die Moderne bereithalte: „Die Zuwendung zu solchen neuen Mythen ist (…) etwas Irrationales, weil sie nur einem unbestimmten Gefühl entspringt und sich nicht auf Gründe stützt, die dem wissenschaftsbezogenen Denken entgegengehalten werden können.” Um den Aufweis solcher „Gründe” aber ging es Hübner vor allen Dingen, denn er wollte nicht Ignoranz oder die etwa ästhetisch motivierte Entscheidung zugunsten des Mythos rechtfertigen, sondern dessen „Wahrheit” nachweisen.
Damit befand er sich als Philosoph nicht nur im Konflikt mit anderen philosophischen Richtungen, sondern auch im Widerstreit mit der christlichen Theologie – stärker mit der evangelischen als der katholischen -, insofern sie im Namen einer „Entmythologisierung” auftrat. Hübner hielt das dahinterstehende „Programm” für fatal in seiner Wirkung, für naiv in seiner Voraussetzung. Er warf dessen Autor Rudolf Bultmann vor, weder eine klare Vorstellung vom „Mythos”, noch von „Wissenschaft” besessen zu haben. Vor allem habe Bultmann übersehen, daß der eine wie die andere von einer „Ontologie” ausgingen, von einer „Struktur”, die von apriorischen Annahmen geleitet sei, die ihrerseits keiner empirischen Überprüfung unterzogen werden könnten. Bultmann sei der Propaganda des Positivismus auf den Leim gegangen, der sich im neunzehnten Jahrhundert anheischig machte, Aussagen zu allen Aspekten der Wirklichkeit zu machen, ohne dabei auf Voraussetzungen Rücksicht nehmen zu müssen. Aus dieser Perspektive galt alles Religiöse als „mythisch”, und das hieß als Menge unzusammenhängender Aussagen, für die weder das Kausalitätsprinzip noch sonst eine logisch nachvollziehbare Verknüpfung galt.
Demgegenüber stellte Hübner heraus, daß die Erforschung des Mythos durch Soziologie, Religionsgeschichte und Philosophie ein ganz anderes Bild vermittle. Danach verstehen Mythen die Realität mit Hilfe von Erzählungen über „Ursprungsereignisse”. Diese Ursprungsereignisse geschahen ille tempore, in einer heiligen Zeit jenseits der Zeit, sie haben keine Geschichte, sondern „stehen” unveränderlich: Insofern gibt es in der mythischen arché eigentlich keine Zeit, nur ihre Spiegelung in der Immanenz läßt den Eindruck entstehen, als vollziehe sich die ewige Wiederkehr des Gleichen. Diese für alle traditionalen Kulturen zentrale Vorstellung – die im Zyklus der Jahreszeiten genauso ihren Niederschlag findet wie in der Abfolge der Wochentage – gibt aber nur ein Abbild der mythischen Wirklichkeit und darf nicht mit ihr selbst verwechselt werden.
Das Leben „im” Mythos zerbrach für die Europäer schon mit der ionischen Aufklärung. Für die Vorsokratiker und ähnlich für die Verfasser von Genesis 1 geriet das mythische Weltbild in eine Krise. Darauf reagierten sie mit Schaffung einer „mythischen Metaphysik”: Ein System logischer Spekulation unter Verwendung abstrakter Begrifflichkeit, für das aber bestimmte Motive und Denkfiguren der Mythen beibehalten wurden. Damit war ein Grad der Reflexion über den Mythos erreicht, der dem früheren Menschen unzugänglich blieb, gleichzeitig vollzog sich aber ein Bruch, der nicht mehr rückgängig zu machen war und die weitere Ausbildung des wissenschaftlichen Denkens vorbereitete. Das habe durch Hinzunahme der Empirie eine moderne Wirklichkeitsauffassung herbeigeführt, die die „mythische Metaphysik” einer grundsätzlichen Prüfung unterwerfe. Davon sei beispielsweise das Konzept einer Erdscheibe und eines darüber aufragenden Himmelsgewölbes in der Bibel betroffen, ähnliches lasse sich auch von bestimmten dogmatischen Aussagen über die Trinität oder die Erbsünde sagen, die eben nicht mythisch-bildhaft, sondern logisch-abstrakt zu argumentieren suchten.
Die größere Nähe der mythischen Metaphysik zur modernen Auffassung bedingt nach Hübner auch das Fehlen jener „Immunität”, die den eigentlichen Mythen zukomme, weil ihre Ontologie vollständig von der modernen getrennt sei. Daß diese in Europa und vor allem im Zuge der Säkularisierung einen Bedeutungsverlust erlitten, stellte Hübner nicht in Abrede. Allerdings können die Mythen nicht vollkommen verschwinden. Sie bieten ein alternatives Weltverständnis, das die wissenschaftliche Zivilisation nicht mit eigenen Mitteln zu ersetzen vermag. Der Mythos bietet Antworten, die weder Empirie noch mathematisch kontrollierte Rationalität zu geben vermögen: „Wo lebendig geglaubt und nicht nur philosophisch-wissenschaftlich argumentiert wird, da wird auch mythisch erlebt, man drehe und wende es wie man will.”
Versuche von seiten der Theologie, das mythische Element rationalistisch zu beseitigen, ethisch zu ersetzen oder existentialistisch umzudeuten, hält Hübner deshalb für irrig. Die Religion könne nicht auf die archetypische Kraft und die Anschaulichkeit des Mythos verzichten. Das gelte auch und gerade für das Christentum, das seit seinen Anfängen mit Mythenkritik verbunden war, aber in seinem Inneren starke mythische Elemente enthalte. Die Lehre von der leiblichen Auferstehung etwa dürfe die Kirche nicht fallenlassen, nur weil sie der modernen Wirklichkeitsauffassung anstößig sei. Mit dem bildhaften Ausdruck gehe sonst auch der Kern der Botschaft verloren: „Mythisch besteht wahres Glück in der Wahrnehmbarkeit der Götter, christlich in derjenigen Gottes; beides aber ist Erfülltsein von göttlicher Substanz als Gnade.” Der Argumentation Bultmanns mit einem Alltagswissen von der rationalen Bedingtheit alles Vorhandenen (wer ein elektrisches Radiogerät benutzt, kann keinen Mythos akzeptieren) entgegnete Hübner, daß deren Plausibilität bei genauerer Betrachtung hinfällig werde: „Man könnte nämlich im Gegenteil sagen, daß gerade der Zwiespalt, gleichzeitig wissenschaftlich und mythisch zu denken zu jener Situation gehört, in der wir uns heute befinden. Ja, es ist die Frage, ob unser praktisches und persönliches Leben nicht weit eher von mythischen als von wissenschaftlichen Haltungen geprägt ist. So kann es sein, daß wir uns oft weit mehr verleugnen, wenn wir uns einseitig für das wissenschaftliche Weltbild entscheiden und nicht für das mythische. Die historische Situation spricht also keineswegs so eindeutig zugunsten der Wissenschaft, wie Bultmann meint.”
Die bleibende Macht des Mythischen auch in der Neuzeit hat Hübner sonst an Beispielen deutlich gemacht, die sich auf Literatur, Musik und bildende Kunst beziehen – hier vor allem Verweise auf Hölderlin, Wagner und Klee – aber auch auf die Politik. Beiden Bereichen folgten später eigene Ausarbeitungen mit den Büchern Die zweite Schöpfung und Das Nationale. Was an dem zuletzt genannten besonders bemerkenswert erscheint, ist die Deutlichkeit, mit der Hübner die mythische Struktur politischer Kernvorstellungen analysiert und für legitim erklärt. Er tut das in ausdrücklicher Wendung gegen die übliche Mythenkritik der Linken, etwa von Roland Barthes, aber ohne Rekurs auf die lange Tradition einer positiven Wertung des Mythos auf der Rechten. Das macht eine gewisse Schwäche des Buches in der eigenen Traditionsbildung aus, wenn zwar eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit Houston Stewart Chamberlain erfolgt, aber Sorel nur kursorisch erwähnt wird und Carl Schmitt zwar als „Denker von Rang” auftritt, dann aber nicht zur Geltung kommt.
Trotz dieser Einschränkung wird man sagen dürfen, daß Das Nationale in der Anlage eine ganze konservative Staatsphilosophie der Neuzeit gibt. Ihren Ausgangspunkt nehmen Hübners Überlegungen bei der „ungelösten Grundfrage” der modernen politischen Theorien, die alle an rationalistischen und individualistischen Vorstellungen festhielten, obwohl sich die Frage nach den „tieferen Bindekräften” einer Gemeinschaft schon mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution Ende des achtzehnten Jahrhunderts unabweislich stellte.
Nur die Romantik habe mit dem Rückgriff auf die Nation – nicht als ein mechanistisch aus Einzelnen gewillkürtes Ganzes, sondern als organische, historische Einheit – den richtigen Weg beschritten. Ihre Auffassung habe zwar deutliche Grenzen, insofern sie eine „Wesensidentität” der Nation behauptete, wo nur eine historische Identität zu begründen sei, was aber nicht berechtige, das „ontologische Recht des mythischen Nationalbewußtseins” grundsätzlich in Frage zu stellen. Vielmehr müsse man den aktuellen Staatstheorien durchgängig den Vorwurf machen, daß sie mit ihrer Ignoranz gegenüber der Bedeutung von „ganzheitlichen Grundvorstellungen” im Politischen die Voraussetzungen gelingender Integration übersähen. Volk oder Nation als Einheit könne man nur mythisch entwerfen, für ihren Bestand sind Erzählungen vom Ursprung und Schicksal des Kollektivs ebenso unverzichtbar wie die Annahme eines Sinns in der nationalen Geschichte. Gesellschaften von großer Heterogenität, wie sie etwa der Multikulturalismus anstrebe, könnten solche Erzählungen nicht glaubwürdig tradieren. Ihre Durchsetzung werde die Bedeutung politischer Mythen nicht verschwinden lassen, aber die Nationen als deren Träger.
Das Buch über Das Nationale hat bei weitem nicht die Resonanz wie Die Wahrheit des Mythos erfahren. Das war keine Frage der Qualität, sondern hing mit der Themenwahl zusammen und erklärt sich auch aus der Neigung Hübners, seine Positionen ohne taktische Zugeständnisse zu formulieren. Man wird deshalb vermuten dürfen, daß auch seiner zuletzt erschienenen Arbeit Irrwege und Wege der Theologie in die Moderne die Aufmerksamkeit versagt bleibt, die ihr eigentlich zukommt. Es handelt sich um eine Untersuchung, die jenen Aspekt seines Denkens ganz ins Zentrum stellt, der in dem Wiener Vortrag nur angedeutet worden war. Insgesamt unterzieht er die Konzepte von zwölf Theologen (Schleiermacher, Kierkegaard, Harnack, Troeltsch, Bultmann, Barth, Tillich, Pannenberg auf der evangelischen, Guardini, Teilhard de Chardin, Rahner, Benedikt XVI. auf der katholischen Seite) einer Vorstellung und kritischen Reflexion.
Wichtig ist Hübner dabei immer, den Eindruck zu vermeiden, als rede er einer gegenüber der Moderne ignoranten Position das Wort. An der prinzipiellen Berechtigung eines aggiornamento hat er keinen Zweifel. Aber er will deutlich machen, wie wenig die theologischen Versuche bisher zum Ziel führten, die christliche Botschaft neu zu formulieren und gleichzeitig die notwendige Bewahrung zu leisten. Weder die Verankerung im Gefühl oder in der freien Entscheidung des Individuums noch die Berufung auf die kulturelle Überlieferung, weder das vollständige Auseinanderrücken von Vernunft und Offenbarung noch deren vorschneller Ausgleich böten eine Lösung. Allzuoft werde das Kernproblem, nämlich die Bestimmung von Mythos, Rationalität und Spezifisch-Religiösem und deren Beziehung zueinander, nur unzureichend erkannt.
Wenn Hübner dann im Schlußteil seines Buches die These entwikkelt, daß die Lehre Joseph Ratzingers beziehungsweise Benedikts XVI. eine Synthese im gewünschten Sinn biete, mag man dem zustimmen oder nicht. Wichtiger erscheint, daß die von ihm aufgestellten Kriterien zur Beurteilung der modernen dogmatischen Ansätze ausgesprochen plausibel wirken und seinem Schluß unbedingt beizupflichten ist, daß die Bedeutung des Christentums als absoluter Religion daraus resultiert, „daß es keine materialen Werte vertritt”: Im Prinzip „kann jede Kultur mit dem formalen Grundwert des Christentums verbunden und von ihm geformt werden, der dem über allem Geschichtlichen stehenden, materialen und absolut gültigen Inhalt seiner Botschaft entspricht. Gegeben sei irgendeine historische Situation: wie immer sie sei, der Christ kann und muß sich als Christ darin verhalten. Sei es, daß er sie mit dem christlichen Geist prägt, sei es, daß er sie mit ihm umformt.” Das erlaube auch, den Wert der Tradition zu erkennen und das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen zu bestimmen, entweder im Sinn der scharfen oder der partiellen Abgrenzung, oder im Hinblick auf die vorbereitende Funktion, die eine „natürliche Religion” für die Offenbarung erfülle.
Daß sich daraus trotz der deutlichen Parteinahme für das Christentum keine glatte Lösung ergibt, folgt für Hübner aus der historischen Existenz des Menschen und der Unableitbarkeit jeder Ontologie, die immer einem absoluten Ansatz entspringe. Dieses „Grundmysterium der Geschichte” sei für den Menschen nicht überwindbar. Weder werde er in frühere Gewißheiten zurückkehren können, noch mit Hilfe einer allumfassenden Aufklärung einen überlegenen Standpunkt einnehmen können. Damit ist auch am deutlichsten die Scheidelinie zwischen Hübner und einer älteren „ganzheitlichen” Schule markiert. Eine große Harmonisierung erwartet er nicht. Das beste, worauf wir hoffen dürfen, ist ein „Ausgleich”: „so läßt sich für die Zukunft nur eine Kulturform vorstellen, in der Wissenschaft und Mythos weder einander unterdrücken noch unverbunden nebeneinander bestehen, sondern in eine durch das Leben und das Denken vermittelte Beziehung zueinander treten. Wie das aber möglich sein soll, davon wissen wir heute noch nichts.”