Odo Marquard wird heute 85

von Harald Seubert

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

Marquard gilt als der Skeptiker des Kreises um Joachim Ritter,...

wie kaum bei einem zwei­ten Rit­ter-Schü­ler fand sei­ne Tran­szen­den­tal­bel­le­tris­tik auch Anklang in der angel­säch­si­schen Welt, ins­be­son­de­re bei Richard Ror­ty. Im Blick auf den Zuschnitt sei­nes Phi­lo­so­phie­rens wenig ver­wun­der­lich, hat Mar­quard ins­be­son­de­re in Psy­cho­ana­ly­se, Kunst- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten gro­ße Reso­nanz gefunden.

In den Jah­ren 1947 bis 1954 stu­dier­te Mar­quard Phi­lo­so­phie, Ger­ma­nis­tik und Theo­lo­gie in Müns­ter und in Frei­burg. Neben Joa­chim Rit­ter war der damals in Frei­burg leh­ren­de katho­li­sche Heid­eg­ger-Schü­ler Max Mül­ler sein maß­geb­li­cher Leh­rer. Von ihm wur­de Mar­quard 1954 mit einer kon­ven­tio­nel­len sys­te­ma­ti­schen Stu­die »Zum Pro­blem des Scheins im Anschluß an Kant« promoviert.

Als wis­sen­schaft­li­cher Assis­tent von Rit­ter arbei­te­te er eine, erst Jahr­zehn­te spä­ter publi­zier­te, Habi­li­ta­ti­ons­schrift aus, die sein maß­geb­li­ches Buch blei­ben wird: Über die Depoten­zie­rung der Tran­szen­den­tal­phi­lo­so­phie. Eini­ge phi­lo­so­phi­sche Moti­ve eines neue­ren Psy­cho­lo­gis­mus in der Phi­lo­so­phie. Mar­quard ver­bin­det dar­in die spe­ku­la­ti­ve Natur- und See­len­phi­lo­so­phie Schel­lings und der frü­hen Roman­tik in erstaun­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät mit den Pro­ble­men der Tie­fen­psy­cho­lo­gie, nicht zuletzt durch eige­ne Depres­si­ons­er­fah­run­gen geschult. Zwei Jah­re lang hat­te er die Posi­ti­on inne, die, wie er spä­ter wie­der­holt sagen soll­te, Ziel sei­ner Wün­sche war: die des Pri­vat­do­zen­ten in Müns­ter. 1965 wur­de er als ordent­li­cher Pro­fes­sor an die Uni­ver­si­tät Gie­ßen beru­fen, der er bis zur Eme­ri­tie­rung 1993 treu blieb, unter­bro­chen durch ver­ein­zel­te Gast­pro­fes­su­ren und ein Fel­low­ship am Ber­li­ner Wis­sen­schafts­kol­leg 1982/83.

Zahl­rei­che Prei­se und Aus­zeich­nun­gen, auch für die ästhe­ti­sche Qua­li­tät sei­ner Schrif­ten, hat Mar­quard seit­her emp­fan­gen (so den Sig­mund-Freud-Preis für wis­sen­schaft­li­che Pro­sa 1984 und den Cice­ro-Red­nerpreis 1998).

Mar­quards genui­ne Form ist der Essay, in einer Aus­lo­tung von Denk­mög­lich­kei­ten und Para­do­xien. Skep­tisch ist er gegen­über Groß­ent­wür­fen, sowohl den phi­lo­so­phi­schen Sys­te­men als auch der Geschichts­phi­lo­so­phie gegen­über. Sie hat er in den Auf­sät­zen in Schwie­rig­kei­ten mit der Geschichts­phi­lo­so­phie (1973) als Fol­ge und Umpla­zie­rung der unlös­ba­ren alten Theo­di­ze­efra­ge ver­stan­den. Den Men­schen denkt Mar­quard mit Her­der oder Geh­len als end­li­ches Män­gel­we­sen, das sich in einer kon­tin­gen­ten Welt vor­fin­det und des­sen Mög­lich­kei­ten, die­se Welt (im Sin­ne der Frank­fur­ter Kri­ti­schen Theo­rie) einer grund­sätz­li­chen Über­prü­fung zu unter­zie­hen oder gar uto­pisch zu ver­än­dern, mehr als begrenzt sei. Die XI. Feu­er­bach-The­se von Marx hat Mar­quard daher in dem Sinn refor­mu­liert: Man hat die Welt so viel ver­än­dert. Es kom­me dar­auf an, sie zu verschonen.

Mit sei­nem Leh­rer Joa­chim Rit­ter teilt Mar­quard die The­se von der grund­sätz­li­chen Zustim­mungs­fä­hig­keit der moder­nen Welt, ins­be­son­de­re der offe­nen Gesell­schaft der Demo­kra­tien. Üblich­kei­ten näm­lich sind, so hält er in einem dem ame­ri­ka­ni­schen Prag­ma­tis­mus ver­wand­ten Geist fest, unver­meid­lich in Anspruch zu neh­men. Er hat sich, wie in ver­gleich­ba­rer Inten­si­tät nur noch Gün­ter Rohr­mo­ser, mit der Frank­fur­ter Schu­le aus­ein­an­der­ge­setzt und, nament­lich in der Dis­kurs­ethik von Haber­mas, ein Erbe der alten Geschichts­phi­lo­so­phie gese­hen, das zu einer Tri­bu­na­li­sie­rung der Wirk­lich­keit füh­ren müs­se, womit eine Grund­struk­tur der Poli­ti­schen Kor­rekt­heit deut­lich erkannt ist.
Durch sei­nen »Abschied vom Prin­zi­pi­el­len« hat sich Mar­quard gera­de auch in die Debat­ten der Post­mo­der­ne der acht­zi­ger Jah­re ein­ge­schrie­ben. Er hat in klei­nen Stu­di­en eine Apo­lo­gie des Zufäl­li­gen vor­ge­legt und – im Sinn eines alten, reli­gi­ons­wis­sen­schaft­lich und reli­gi­ons­phi­lo­so­phisch frei­lich kaum über­zeu­gen­den Topos – den huma­nen Mehr­wert des Poly­the­is­mus gegen­über dem Mono­the­is­mus evoziert.

Eben­falls in der Fol­ge von Joa­chim Rit­ter hat sein Eröff­nungs­vor­trag vor der West­deut­schen Rek­to­ren­kon­fe­renz im Mai 1985 eine zeit­wei­se vehe­men­te Dis­kus­si­on her­vor­ge­ru­fen. Hier votier­te Mar­quard für die »Unver­meid­lich­keit der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten«, da die tech­nisch-wis­sen­schaft­li­che Ratio­na­li­tät die Lebens­welt immer wei­ter­ge­hend bestim­me. Ein sinn­stif­ten­des Gegen­ge­wicht kön­ne ein­zig in Kunst, Phi­lo­so­phie, Lite­ra­tur, Geschich­te und Reli­gio­nen gewon­nen wer­den. Damit ver­bun­den, beschwört Mar­quard, daß es ohne Her­kunft kei­ne Zukunft geben kön­ne. Der »Abschied vom Prin­zi­pi­el­len« gilt selbst­ver­ständ­lich auch den gro­ßen Erzäh­lun­gen. Es sind mit­hin die »klei­nen Nar­ra­ti­ve« (courts récits), auf die sich jene Kom­pen­sa­ti­ons­the­se beruft. Ihrer schwa­chen Mar­quard­schen Form wur­de nicht ganz zu Unrecht der Vor­wurf gemacht, daß sie auf eine affir­ma­ti­ve Kul­tur­funk­ti­on begrenzt sei.

Mar­quard ist ein bril­lan­ter Skep­ti­ker, ein melan­cho­li­scher Iro­ni­ker zwi­schen Phi­lo­so­phie und Lite­ra­tur, der sei­ne eigent­lich zen­tra­len Anlie­gen häu­fi­ger in der Form ele­gan­ter Ver­nei­nung als der Beja­hung artikuliert.

 

Schrif­ten: Skep­ti­sche Metho­de im Blick auf Kant, Frei­burg i. Br./München 1958; Schwie­rig­kei­ten mit der Geschichts­phi­lo­so­phie, Frank­furt a. M. 1973; Abschied vom Prin­zi­pi­el­len, Stutt­gart 1981; Apo­lo­gie des Zufäl­li­gen, Stutt­gart 1986; Tran­szen­den­ta­ler Idea­lis­mus, roman­ti­sche Natur­phi­lo­so­phie, Psy­cho­ana­ly­se, Köln 1987; Aes­the­ti­ca und Anaes­the­ti­ca, Pader­born 1989; Skep­sis und Zustim­mung, Stutt­gart 1994; Phi­lo­so­phie des Statt­des­sen, Stutt­gart 2000; Zukunft braucht Her­kunft, Stutt­gart 2003; Indi­vi­du­um und Gewal­ten­tei­lung, Stutt­gart 2004; Skep­sis in der Moder­ne, Stutt­gart 2007.

Lite­ra­tur: Jens Hacke: Phi­lo­so­phie der Bür­ger­lich­keit. Die libe­ral­kon­ser­va­ti­ve Begrün­dung der Bun­des­re­pu­blik, Göt­tin­gen 2006; Alo­is Halb­mayr: Lob der Viel­heit. Zur Kri­tik Odo Mar­quards am Mono­the­is­mus, Salz­burg 2000; Rochus Leon­hardt: Skep­ti­zis­mus und Pro­tes­tan­tis­mus. Der phi­lo­so­phi­sche Ansatz Odo Mar­quards als Her­aus­for­de­rung an die evan­ge­li­sche Theo­lo­gie, Tübin­gen 2003.

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