Sonntag in Sachsen-Anhalt

pdf der Druckfassung aus Sezession 18/Juni 2007

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Wenn man an einem Sonn­tag im son­ni­gen Mai in unse­rem Dorf mit­tags um eins ver­sucht, ein schläf­ri­ges Kind­chen in sei­nem Wagen unter einen Baum in den Schat­ten zu stel­len, muß man am bes­ten schon vor­mit­tags das Trei­ben der Nach­barn pro­to­kol­lie­ren, damit man den rich­ti­gen Baum erwischt. Denn mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit wird einer die­ser Nach­barn sei­nen Rasen­mä­her oder sei­ne Motor­sen­se anwer­fen, um das Luther-Wort zu wür­di­gen, nach dem jede Arbeit ein Got­tes­dienst sei. Der rich­ti­ge Baum für das schla­fen­de Kind steht also dort, wo die Nach­bar­schaft schon am Mor­gen gemäht hat oder erst am Abend mähen wird. Mit der Zeit weiß man um die Gewohn­hei­ten der Leu­te und hat von Zaun zu Zaun über die­se Gewohn­hei­ten eini­ge Fra­gen und Ant­wor­ten gewech­selt. Der­ge­stalt: War­um denn der Sonn­tag im hal­ben Dorf der Tag des Rasen­mä­hens sei? War­um nicht? – Ob denn der Sonn­tag nichts Beson­de­res sei? War­um soll­te er? – Jetzt aber sei Mit­tags­zeit. Nein, geges­sen habe man schon um halb zwölf. – Aber es gebe eine Gemein­de­ord­nung! Nun, man habe auch schon bei uns Ver­stö­ße wahr­ge­nom­men, etwa das Ver­bren­nen eines Bergs gero­de­ter Bren­nes­seln oder man­gel­haf­ten Win­ter­dienst ent­lang der Scheu­ne. – Ist ja gut.

Es hat kei­nen Sinn, wei­te­re Gesprä­che zu füh­ren. Der Sonn­tag ist in unse­rem Dorf, in Schnell­ro­da, im Süden Sach­sen-Anhalts, kein Sonn­tag mehr. Der Sonn­tag ist ein frei­er Tag, er ist ein zwei­ter Sams­tag, und man erle­digt an den bei­den Sams­ta­gen das, wofür man unter der Woche kei­ne Zeit fand. Neu­lich trieb einer der Nach­barn den Bau eines Beton­so­ckels vor­an, der Mischer lief von Sonn­tag früh über die Mit­tags­zeit bis in den Abend. Scha­lun­gen wur­den zuge­sägt und fest­ge­klopft, Armie­run­gen mit einer Flex zurecht­ge­schnit­ten, unüber­hör­bar die krei­schen­de Metall­schleif­schei­be selbst ein paar hun­dert Meter wei­ter vor der Kir­che, in der für zwei Uhr der Got­tes­dienst ange­setzt ist.
Der Got­tes­dienst heu­te: sie­ben Leu­te, drei alte Frau­en, der Kir­chen­dienst und ich mit zwei­en unse­rer Kin­der. Daß kaum einer kommt, liegt nicht am Pas­tor. Er ver­sieht sein Amt vor­bild­lich, stammt aus der Regi­on und pre­digt von der Kan­zel. Er ist gebil­det und pflegt doch eine Spra­che, die einer dörf­li­chen Gemein­de ange­mes­sen ist. Er pro­du­ziert sich nicht. Er wählt The­men, die den christ­li­chen Jah­res­kreis aus­le­gen und nicht ohne For­de­rung an das Leben des Ein­zel­nen blei­ben. Sei­ne Got­tes­diens­te sind streng lit­ur­gisch, es gibt kei­ne Expe­ri­men­te und kei­ne „Mode­ra­ti­on”. Die Lied­aus­wahl ist tra­di­tio­nell, man kann eine Vor­lie­be für Paul Ger­hardt und Chris­ti­an Rena­tus von Zin­zen­dorf erken­nen, und die Orgel­be­glei­tung ist pro­fes­sio­nell – ein jun­ger Mann beglei­tet den Pas­tor auf sei­ner sonn­täg­li­chen Rund­rei­se durch die Gemeinden.

War­um also kommt kei­ner? Wenn jeder regel­mä­ßig käme, der manch­mal kommt, wären viel­leicht fünf­zehn, zwan­zig Leu­te ver­sam­melt. Aber heu­te ist die­ser, am nächs­ten Sonn­tag jener auf einem Aus­flug oder in sei­nem Gar­ten beschäf­tigt, und selbst wenn: Was sind fünf­zehn, zwan­zig Leu­te in einem Dorf, das zwei­hun­dert Ein­woh­ner hat? Im ver­gan­ge­nen Jahr konn­te der Pas­tor einen ein­zi­gen Jun­gen kon­fir­mie­ren, der war bis heu­te nicht mehr in der Kir­che. Alle ande­ren fei­er­ten mit ihrer Ver­wandt­schaft die „Jugend­wei­he”. Zu die­ser pro­fa­nen Ersatz­hand­lung ist stets ein Fest­red­ner gela­den, der sich über das Erwach­sen­wer­den schon vor 1989 ver­brei­te­te, als man noch staat­li­cher­seits die Jugend­wei­he gegen die christ­li­chen For­men des Rei­fe­be­kennt­nis­ses setzte.
Die Jugend­wei­he endet für vie­le auf dem Klo. Der Voll­rausch gehört zum Ritu­al, man scheint es zu begrü­ßen, wenn sich der Sohn am Abend mäch­tig über­gibt und die Toch­ter fri­vol wird. Viel­leicht ist es auch im Wes­ten längst nicht mehr anders. Von einem Kon­fir­ma­ti­ons­got­tes­dienst bei Ham­burg erzähl­te mir einer, daß wäh­rend der Pre­digt die Kon­fir­man­den mit ihren Han­dys spiel­ten und her­nach Kau­gum­mi kau­end zum Altar schlen­der­ten, um Brot und Wein mit bubble­gum zu mischen. Auch dort hat nie­mand die­sem Trei­ben Ein­halt gebo­ten, hat kei­ner die Kon­fir­man­den vom Altar gedrängt und für unwür­dig erklärt.
In Schnell­ro­da pre­digt der Pas­tor heu­te vor sei­nen sie­ben Schäf­chen über „Him­mel­fahrt”. Er pre­digt im Nach­hin­ein über „Him­mel­fahrt”, weil am Him­mel­fahrts­tag selbst kei­ne Zeit dafür war. Der Him­mel­fahrts­tag, der vier­zig Tage nach dem Oster­sonn­tag der Auf­fahrt Chris­ti in den Him­mel gedenkt, ist in Sach­sen-Anhalt und auch in unse­rem Dor­fe seit lan­gem schon der „Män­ner­tag”. Er ist der Tag eines kol­lek­ti­ven Besäuf­nis­ses der Män­ner, die sich per Fahr­rad oder auf Kut­schen und Trak­tor­hän­gern von Geträn­ke­stütz­punkt zu Geträn­ke­stütz­punkt voran­ar­bei­ten. Kot­zela­chen vor der Knei­pe, Kot­zela­chen vor der Kir­che, und voll­trun­ke­ne Bur­schen, die sich mit dem besof­fe­nen Fah­rer zu einem Him­mel­fahrts­kom­man­do in ein Auto zwän­gen. Der Pas­tor betet auch für diese.
Auf dem Rück­weg von der Kir­che ver­spre­che ich den Kin­dern, sie ein­mal zu einem gro­ßen Got­tes­dienst mit­zu­neh­men, wenn wir in Ober­schwa­ben zu Besuch bei der Groß­ma­ma sind. Und weil die Kin­der immer ger­ne Geschich­ten aus der Zeit hören, als der Vater noch klein war, erzäh­le ich vom Wein­gart­ner Blut­ritt. Es sei dies eine der gro­ßen Rei­ter­pro­zes­sio­nen zu Ehren Got­tes, immer am Frei­tag nach Chris­ti Him­mel­fahrt fin­de sie statt, und aus den Dör­fern um die Stadt Wein­gar­ten ström­ten die Pfar­rer, Minis­tran­ten und gläu­bi­gen Män­ner zu Pferd auf dem Platz vor der Bene­dik­ti­ner­ab­tei zusam­men. Es ver­sam­mel­ten sich Tau­sen­de Pil­ger. Es wür­den früh um vier Uhr die Stan­dar­ten geweiht, und dann zöge Ort nach Ort mit präch­tig geschmück­ten Pfer­den durch die Stadt hin­aus in die Flu­ren, um die Hei­lig-Blut-Reli­quie des Klos­ters auf ihrem Umritt zu gelei­ten. In unmit­tel­ba­rer Nähe des Blut-Rei­ters – zu mei­ner Zeit als Minis­trant im Klos­ter der sehr wür­di­ge Pater Rapha­el – wür­den die schwe­ren, uralten Ban­ner und Fah­nen aus bor­deaux­ro­tem Bro­kat mit­ge­tra­gen, jede Fah­ne in der Hand eines bereits fir­mier­ten Meß­die­ners, fünf­zehn Kilo­me­ter mit vie­len Gebets­hal­ten durch die Felder.

Beim Nahen der Reli­quie sän­ken die Men­schen in die Knie, um sich zu bekreu­zi­gen. Der Meß­ner läu­te alle paar Schrit­te eine tie­fe Glo­cke, um die Ankunft des Bluts anzu­kün­di­gen. Ich selbst sei auch drei­mal die­sen Weg mit­ge­gan­gen, zwei­mal mit einer Fah­ne, ein­mal mit einem schmie­de­ei­ser­nen Kreuz. Nach Stun­den käme man um die Mit­tags­zeit ver­schwitzt und erschöpft am Klos­ter­hü­gel wie­der an. Dort, die Trep­pen und Plät­ze schwarz von Gläu­bi­gen; der tie­fe Ton der größ­ten Glo­cke, der „Hosan­na”, zu hören im gan­zen Schus­sen­tal; in der Basi­li­ka selbst kein Platz mehr frei, sechs‑, sie­ben­tau­send Men­schen, trotz­dem Stil­le, wenn die Pro­zes­si­on das Por­tal errei­che; das Heer der jün­ge­ren Minis­tran­ten mit Kreu­zen, Fah­nen und Leuch­tern und der end­lo­se Ein­zug in die Kir­che. Und in dem Moment, da der Blut­rei­ter – längst abge­ses­sen – unter einem Bal­da­chin, flan­kiert von den ältes­ten und wür­digs­ten Rei­tern der Gemein­de, das Kir­chen­schiff betre­te: das Dröh­nen der Orgel und „Gro­ßer Gott wir loben Dich” ohne Lied­blät­ter in allen Stro­phen, wäh­rend die Reli­quie auf ihrem Weg zum Hoch­al­tar die Gläu­bi­gen mähe und wie­der­auf­er­ste­hen las­se, ein klei­nes Ostern in jedem Ein­zel­nen vollziehend.
Zuhau­se schla­ge ich in der Hei­mat­chro­nik von Wein­gar­ten ein Bild auf, das den Blut­rei­ter 1936 auf sei­nem Weg durch die Stra­ßen der Stadt zeigt. Man sieht den Meß­ner mit der Glo­cke und die wür­digs­ten Rei­ter mit den Wein­stock­ban­nern, und die Stra­ße ist gefleckt von den zer­tre­te­nen Pfer­de­äp­feln. Die Grup­pe befin­det sich eben auf der Höhe des Rat­hau­ses. Geflaggt sind die Stadt- und die Staats­fah­ne. Es ist ein lehr­rei­ches Bild. Die Men­ge steht und hat die Hän­de zur Andacht und Anbe­tung zusam­men­ge­legt. Ein Teil wird abge­lenkt durch ein scheu­en­des Pferd links vorn: Ein Sani­tä­ter eilt dem Rei­ter zu Hil­fe, und das Spa­lier der Pil­ger beult sich aus, weil kei­ner den Hin­ter­hu­fen zu nahe kom­men will. Nur ein ein­zi­ger, jun­ger Schu­po grüßt den Blut­rei­ter mit dem Hit­ler­gruß. Neben ihm aber kniet eine jun­ge Bür­ge­rin und schlägt das Kreuz, ver­beugt sich ein alter Bau­er und schlägt das Kreuz, und ein Riß geht durch die­se klei­ne Grup­pe, ein irrepa­ra­bler Riß, obwohl die­se drei Men­schen doch die ein­zi­gen in der Nähe der Reli­quie sind, die sich nicht von dem scheu­en­den Pfer­de ablen­ken lassen.
Die Kin­der kön­nen das Gewicht die­ses Moments, der da fest­ge­hal­ten ist, noch nicht begrei­fen. Sie sehen die Glo­cke und den Blut­rei­ter und die Stan­dar­ten und das scheu­en­de Pferd. Der Riß, der Ein­bruch der pro­vo­zie­ren­den Gott­lo­sig­keit inter­es­siert sie nicht, und sie wis­sen auch nicht, daß mit dem Weg­fall der Demut vor Gott aus einem Volk eine Mas­se wird, aus einem Sonn­tag ein Sams­tag, aus einem geglie­der­ten Leben ein Brei. Auch ken­nen sie den gro­ßen Ver­lust nicht, den man ver­spürt, wenn man im Klos­ter zu Wein­gar­ten minis­trier­te und nun zu Him­mel­fahrt den Betrun­ke­nen aus dem Wege geht.

Götz Kubitschek

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