Wenn man an einem Sonntag im sonnigen Mai in unserem Dorf mittags um eins versucht, ein schläfriges Kindchen in seinem Wagen unter einen Baum in den Schatten zu stellen, muß man am besten schon vormittags das Treiben der Nachbarn protokollieren, damit man den richtigen Baum erwischt. Denn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird einer dieser Nachbarn seinen Rasenmäher oder seine Motorsense anwerfen, um das Luther-Wort zu würdigen, nach dem jede Arbeit ein Gottesdienst sei. Der richtige Baum für das schlafende Kind steht also dort, wo die Nachbarschaft schon am Morgen gemäht hat oder erst am Abend mähen wird. Mit der Zeit weiß man um die Gewohnheiten der Leute und hat von Zaun zu Zaun über diese Gewohnheiten einige Fragen und Antworten gewechselt. Dergestalt: Warum denn der Sonntag im halben Dorf der Tag des Rasenmähens sei? Warum nicht? – Ob denn der Sonntag nichts Besonderes sei? Warum sollte er? – Jetzt aber sei Mittagszeit. Nein, gegessen habe man schon um halb zwölf. – Aber es gebe eine Gemeindeordnung! Nun, man habe auch schon bei uns Verstöße wahrgenommen, etwa das Verbrennen eines Bergs gerodeter Brennesseln oder mangelhaften Winterdienst entlang der Scheune. – Ist ja gut.
Es hat keinen Sinn, weitere Gespräche zu führen. Der Sonntag ist in unserem Dorf, in Schnellroda, im Süden Sachsen-Anhalts, kein Sonntag mehr. Der Sonntag ist ein freier Tag, er ist ein zweiter Samstag, und man erledigt an den beiden Samstagen das, wofür man unter der Woche keine Zeit fand. Neulich trieb einer der Nachbarn den Bau eines Betonsockels voran, der Mischer lief von Sonntag früh über die Mittagszeit bis in den Abend. Schalungen wurden zugesägt und festgeklopft, Armierungen mit einer Flex zurechtgeschnitten, unüberhörbar die kreischende Metallschleifscheibe selbst ein paar hundert Meter weiter vor der Kirche, in der für zwei Uhr der Gottesdienst angesetzt ist.
Der Gottesdienst heute: sieben Leute, drei alte Frauen, der Kirchendienst und ich mit zweien unserer Kinder. Daß kaum einer kommt, liegt nicht am Pastor. Er versieht sein Amt vorbildlich, stammt aus der Region und predigt von der Kanzel. Er ist gebildet und pflegt doch eine Sprache, die einer dörflichen Gemeinde angemessen ist. Er produziert sich nicht. Er wählt Themen, die den christlichen Jahreskreis auslegen und nicht ohne Forderung an das Leben des Einzelnen bleiben. Seine Gottesdienste sind streng liturgisch, es gibt keine Experimente und keine „Moderation”. Die Liedauswahl ist traditionell, man kann eine Vorliebe für Paul Gerhardt und Christian Renatus von Zinzendorf erkennen, und die Orgelbegleitung ist professionell – ein junger Mann begleitet den Pastor auf seiner sonntäglichen Rundreise durch die Gemeinden.
Warum also kommt keiner? Wenn jeder regelmäßig käme, der manchmal kommt, wären vielleicht fünfzehn, zwanzig Leute versammelt. Aber heute ist dieser, am nächsten Sonntag jener auf einem Ausflug oder in seinem Garten beschäftigt, und selbst wenn: Was sind fünfzehn, zwanzig Leute in einem Dorf, das zweihundert Einwohner hat? Im vergangenen Jahr konnte der Pastor einen einzigen Jungen konfirmieren, der war bis heute nicht mehr in der Kirche. Alle anderen feierten mit ihrer Verwandtschaft die „Jugendweihe”. Zu dieser profanen Ersatzhandlung ist stets ein Festredner geladen, der sich über das Erwachsenwerden schon vor 1989 verbreitete, als man noch staatlicherseits die Jugendweihe gegen die christlichen Formen des Reifebekenntnisses setzte.
Die Jugendweihe endet für viele auf dem Klo. Der Vollrausch gehört zum Ritual, man scheint es zu begrüßen, wenn sich der Sohn am Abend mächtig übergibt und die Tochter frivol wird. Vielleicht ist es auch im Westen längst nicht mehr anders. Von einem Konfirmationsgottesdienst bei Hamburg erzählte mir einer, daß während der Predigt die Konfirmanden mit ihren Handys spielten und hernach Kaugummi kauend zum Altar schlenderten, um Brot und Wein mit bubblegum zu mischen. Auch dort hat niemand diesem Treiben Einhalt geboten, hat keiner die Konfirmanden vom Altar gedrängt und für unwürdig erklärt.
In Schnellroda predigt der Pastor heute vor seinen sieben Schäfchen über „Himmelfahrt”. Er predigt im Nachhinein über „Himmelfahrt”, weil am Himmelfahrtstag selbst keine Zeit dafür war. Der Himmelfahrtstag, der vierzig Tage nach dem Ostersonntag der Auffahrt Christi in den Himmel gedenkt, ist in Sachsen-Anhalt und auch in unserem Dorfe seit langem schon der „Männertag”. Er ist der Tag eines kollektiven Besäufnisses der Männer, die sich per Fahrrad oder auf Kutschen und Traktorhängern von Getränkestützpunkt zu Getränkestützpunkt voranarbeiten. Kotzelachen vor der Kneipe, Kotzelachen vor der Kirche, und volltrunkene Burschen, die sich mit dem besoffenen Fahrer zu einem Himmelfahrtskommando in ein Auto zwängen. Der Pastor betet auch für diese.
Auf dem Rückweg von der Kirche verspreche ich den Kindern, sie einmal zu einem großen Gottesdienst mitzunehmen, wenn wir in Oberschwaben zu Besuch bei der Großmama sind. Und weil die Kinder immer gerne Geschichten aus der Zeit hören, als der Vater noch klein war, erzähle ich vom Weingartner Blutritt. Es sei dies eine der großen Reiterprozessionen zu Ehren Gottes, immer am Freitag nach Christi Himmelfahrt finde sie statt, und aus den Dörfern um die Stadt Weingarten strömten die Pfarrer, Ministranten und gläubigen Männer zu Pferd auf dem Platz vor der Benediktinerabtei zusammen. Es versammelten sich Tausende Pilger. Es würden früh um vier Uhr die Standarten geweiht, und dann zöge Ort nach Ort mit prächtig geschmückten Pferden durch die Stadt hinaus in die Fluren, um die Heilig-Blut-Reliquie des Klosters auf ihrem Umritt zu geleiten. In unmittelbarer Nähe des Blut-Reiters – zu meiner Zeit als Ministrant im Kloster der sehr würdige Pater Raphael – würden die schweren, uralten Banner und Fahnen aus bordeauxrotem Brokat mitgetragen, jede Fahne in der Hand eines bereits firmierten Meßdieners, fünfzehn Kilometer mit vielen Gebetshalten durch die Felder.
Beim Nahen der Reliquie sänken die Menschen in die Knie, um sich zu bekreuzigen. Der Meßner läute alle paar Schritte eine tiefe Glocke, um die Ankunft des Bluts anzukündigen. Ich selbst sei auch dreimal diesen Weg mitgegangen, zweimal mit einer Fahne, einmal mit einem schmiedeeisernen Kreuz. Nach Stunden käme man um die Mittagszeit verschwitzt und erschöpft am Klosterhügel wieder an. Dort, die Treppen und Plätze schwarz von Gläubigen; der tiefe Ton der größten Glocke, der „Hosanna”, zu hören im ganzen Schussental; in der Basilika selbst kein Platz mehr frei, sechs‑, siebentausend Menschen, trotzdem Stille, wenn die Prozession das Portal erreiche; das Heer der jüngeren Ministranten mit Kreuzen, Fahnen und Leuchtern und der endlose Einzug in die Kirche. Und in dem Moment, da der Blutreiter – längst abgesessen – unter einem Baldachin, flankiert von den ältesten und würdigsten Reitern der Gemeinde, das Kirchenschiff betrete: das Dröhnen der Orgel und „Großer Gott wir loben Dich” ohne Liedblätter in allen Strophen, während die Reliquie auf ihrem Weg zum Hochaltar die Gläubigen mähe und wiederauferstehen lasse, ein kleines Ostern in jedem Einzelnen vollziehend.
Zuhause schlage ich in der Heimatchronik von Weingarten ein Bild auf, das den Blutreiter 1936 auf seinem Weg durch die Straßen der Stadt zeigt. Man sieht den Meßner mit der Glocke und die würdigsten Reiter mit den Weinstockbannern, und die Straße ist gefleckt von den zertretenen Pferdeäpfeln. Die Gruppe befindet sich eben auf der Höhe des Rathauses. Geflaggt sind die Stadt- und die Staatsfahne. Es ist ein lehrreiches Bild. Die Menge steht und hat die Hände zur Andacht und Anbetung zusammengelegt. Ein Teil wird abgelenkt durch ein scheuendes Pferd links vorn: Ein Sanitäter eilt dem Reiter zu Hilfe, und das Spalier der Pilger beult sich aus, weil keiner den Hinterhufen zu nahe kommen will. Nur ein einziger, junger Schupo grüßt den Blutreiter mit dem Hitlergruß. Neben ihm aber kniet eine junge Bürgerin und schlägt das Kreuz, verbeugt sich ein alter Bauer und schlägt das Kreuz, und ein Riß geht durch diese kleine Gruppe, ein irreparabler Riß, obwohl diese drei Menschen doch die einzigen in der Nähe der Reliquie sind, die sich nicht von dem scheuenden Pferde ablenken lassen.
Die Kinder können das Gewicht dieses Moments, der da festgehalten ist, noch nicht begreifen. Sie sehen die Glocke und den Blutreiter und die Standarten und das scheuende Pferd. Der Riß, der Einbruch der provozierenden Gottlosigkeit interessiert sie nicht, und sie wissen auch nicht, daß mit dem Wegfall der Demut vor Gott aus einem Volk eine Masse wird, aus einem Sonntag ein Samstag, aus einem gegliederten Leben ein Brei. Auch kennen sie den großen Verlust nicht, den man verspürt, wenn man im Kloster zu Weingarten ministrierte und nun zu Himmelfahrt den Betrunkenen aus dem Wege geht.