Der Riesenerfolg von Spenglers Hauptwerk war nur möglich, da viele damalige Leser mit dem Begriff „Abendland” durchaus etwas anzufangen wußten – heute würde ihm ganz einfach das Publikum fehlen. Die Gründe für diesen Wandel liegen auf der Hand: der modische Werte-Relativismus, der verbreitete Widerwille, sich mit Traditionen ernsthaft auseinanderzusetzen, nicht zuletzt – da der Geschichtshorizont vieler Zeitgenossen kaum über das Jahr 1933 zurückreicht – auch schlichte historische Ignoranz.
Das Abendland ist aus einem jahrhundertelangen Amalgamierungsprozeß entstanden, dessen Grundelemente Antike, Christentum und germanische Welt bilden. Vielen Menschen unserer Tage bereitet dieser Tatbestand Schwierigkeiten. Ein unbefangener Blick auf die germanische Welt ist auch heute noch vielfach durch die NS-Ideologie verstellt. Deshalb kann auch die Erkenntnis Rankes, daß das moderne Europa eine Schöpfung vorzugsweise der germanisch-romanischen Völker ist, vielfach nicht mehr nachvollzogen werden. Auch zur Antike haben heute nur noch wenige Menschen eine wirkliche Beziehung. Die humanistischen Gymnasien, immer stärker amputiert, bieten fast kein Griechisch und in immer geringerem Umfang Latein an. Und wie sollte oder könnte ein zunehmend entchristlichtes Europa einen Zugang zum christlichen Abendland finden? In den neuen Bundesländern etwa bekennt sich nur noch ein Drittel der Bevölkerung zu einer der beiden großen Konfessionen, auch in Nordwestdeutschland nur etwa drei Viertel, wobei die bloße Mitgliedschaft in einer Kirche sowieso nicht viel besagt. Aber auch bei religiös orientierten Menschen ist das Bewußtsein einer geistigen Verankerung im abendländischen Europa keineswegs selbstverständlich, angesichts der Aktivitäten insbesondere einiger evangelischer Landeskirchen aber wiederum nicht verwunderlich. Aus all diesen Gründen sind das Interesse und die Bereitschaft, sich mit dem Thema Abendland zu befassen, nicht eben verbreitet.
Im Rahmen eines Zeitschriftenaufsatzes und angesichts der Komplexität des Gegenstandes ist Beschränkung geboten. Die folgende Darstellung bezieht sich daher nur auf eine der drei grundlegenden Komponenten des Abendlandes, nämlich auf die Anstöße und Leistungen, die vom Christentum für das werdende Abendland ausgegangen sind. Sie konzentriert sich deshalb auf die ausgehende Antike und das frühe Mittelalter und behandelt lediglich die wichtigsten Entwicklungen innerhalb dieses Zeitraums.
Die Christen zählen in den ersten zweihundertfünfzig Jahren unserer Zeitrechnung zu den zahlreichen orientalischen Kultgemeinschaften, die sich auf dem Boden des Römischen Reiches ausgebreitet haben, und gehören hierbei keineswegs zu den wichtigsten. Der allmähliche Aufstieg des Christentums fällt in die Zeit der großen Reichskrise des dritten Jahrhunderts, die durch ständige innere Wirren, durch stärker werdenden äußeren Druck und durch schwere Wirtschaftsprobleme gekennzeichnet ist. Die Goten erobern Rumänien, die Alemannen dringen in Südwestdeutschland ein und stoßen wiederholt bis Italien vor – das Reich scheint am Ende.
Die Krise wird schließlich im äußerlichen Sinne gemeistert, wobei sich aber gerade für die Christen verheerende Folgen ergeben. Da das Schicksal des Reiches von der Kampfkraft der Grenztruppen abhängt, deren Besoldung Unsummen verschlingt, sichert sich der jetzt entstehende spätantike Zwangsstaat die finanziellen Ressourcen des Reiches: Die Steuern werden so stark erhöht, ihre Zahlung mit so brutalen Mitteln erzwungen (Schollenzwang für Bauern, Berufszwang für Söhne von Handwerkern und Gewerbetreibenden), daß das wirtschaftliche Leben weitgehend erstickt. Da die Christen zum weitaus überwiegenden Teil nicht den oberen Gesellschaftsschichten angehören, sind sie besonders betroffen.
Zugleich beginnt Mitte des dritten Jahrhunderts eine systematische Christenverfolgung, die es vorher in diesem Umfang noch nicht gegeben hatte. Der Staat möchte angesichts seiner existentiellen Bedrohung die Römer auch in geistig-kultischer Hinsicht enger zusammenschließen. Da der traditionelle römische Götterhimmel seine Überzeugungskraft verloren hat und die sich eigentlich von der Sache her anbietende Stoa für die Massen nicht brauchbar ist, läuft es auf eine Intensivierung des Kaiserkults hinaus, an dem sich die Christen nicht beteiligen können. Sie gelten damit als Staatsfeinde und werden massenhaft in den Arenen hingerichtet.
Daß das Christentum ausgerechnet in dieser Zeit reichsweit seinen Aufstieg nimmt, liegt letztlich in den christlichen Glaubensinhalten begründet. Die Vorstellung, daß Göttersöhne große Taten im Dienste der Menschheit vollbringen, ist vielen antiken Kulten geläufig. Nicht jedoch die christliche Botschaft, daß Gott zum Menschen wird, dessen Leiden und Sterben die Menschheit erlöst. Neu sind auch das Bild des gütigen, liebenden Vaters, das Gebot der Nächstenliebe und der Auferstehungsglaube. Da nach christlicher Lehre das künftige Leben das eigentliche ist, relativieren sich die irdischen Verhältnisse, so daß die Christen gerade in Notzeiten aus ihrem Glauben besondere Kraft schöpfen können.
Die standhafte Haltung, mit der so viele Menschen in den Tod gehen, bleibt nicht ohne Eindruck auf ihre Zeitgenossen: „Sanguis martyriorum semen Christianitatis” („Das Blut der Märtyrer ist der Same der Christenheit”). Gerade die erbärmliche wirtschaftlich-soziale Lage, in die viele, auch durch die Hinrichtung von Angehörigen, geraten, läßt die Stärken des christlichen Glaubens deutlicher in Erscheinung treten. Die Christen nehmen das Gebot der Caritas und der Nächstenliebe ernst, und viele Menschen finden so in der Glaubensgemeinschaft auch den sozialen Halt, den ihnen der Staat nach Lage der Dinge nicht zu bieten vermag. Nicht zuletzt dieses mitmenschliche Engagement, eine Konstante der abendländischen Entwicklung bis zum heutigen Tag, hat der Kirche schon damals viel Zustimmung eingebracht. Schließlich hat auch der Auferstehungsglaube – angesichts der niederdrückenden irdischen Lage eine ebenso tröstende wie faszinierende Hoffnung – seine Wirkung nicht verfehlt.
Die eigentliche Verschmelzung von Christentum und Staat beginnt im Zeitalter Konstantins (306–337) mit dessen Kehrtwendung in der Christenpolitik. Bereits im Jahre 311 hatte Konstantins Mitkaiser Galerius das Mailänder Toleranzedikt erlassen, das die Christen den übrigen Religionen gleichstellt. Gut zwanzig Jahre später beruft Konstantin das erste gesamtchristliche Konzil ein, das unter seinem Vorsitz in Nicäa zusammentritt und unter anderem den verbindlichen Bekenntnisstand festlegt: das in seinen Grundzügen bis heute geltende Glaubensbekenntnis („Nicaenum”). Auch unter den Nachfolgern Konstantins gelten die Christen als staatlich geförderte und privilegierte Gruppe; im Jahre 380 wird das Christentum alleinige Staatsreligion.
Es beginnt jetzt eine Phase der Integration von Christentum und Antike in vielen Lebensbereichen. Die Christen fühlen sich dem Staat verpflichtet, der auch der ihrige ist; sie betrachten sich aber außerdem mit größter Selbstverständlichkeit als Träger der antiken Kultur. Diese enge Verbindung hat sich für das Abendland in der Folgezeit immer wieder als außerordentlich fruchtbar erwiesen, so bei der Rezeption des römischen Rechts im zwölften Jahrhundert, während der Renaissance und noch im Zeitalter des Neuhumanismus.
Während Konstantin den Verschmelzungsprozeß der römischen Antike mit dem Christentum einleitet, ist die Verschmelzung der inzwischen antik-christlichen mit der germanischen Welt wesentlich mit der Politik des Frankenkönigs Chlodwig (482–511) verbunden. Anders als die meisten sonstigen Germanenkönige, die – wie der Ostgotenkönig Theoderich der Große (471–526) – die strenge politische, soziale und religiöse Trennung zwischen den Römern und den Germanen ihrer Reiche durchsetzen und bald scheitern, zielt Chlodwig von vornherein auf einen Ausgleich zwischen den in das heutige Frankreich eindringenden Franken und der dortigen romanischen Bevölkerung ab. Er sichert sich auf diese Weise die weitgehende Zustimmung seiner neuen Untertanen und auch das Wohlwollen der Kirche, die während der Wirren der Völkerwanderungszeit verhältnismäßig stabil geblieben ist und wie die noch intakte römische Administration und das römische Steuerwesen für den Aufbau des künftigen Großstaats herangezogen werden kann.
Während sich Konstantin und Chlodwig von politischen, nicht etwa persönlich-religiösen Gründen leiten lassen, wird die volle Verbindung aller drei Elemente des Abendlandes erst von Karl dem Großen (768–814) vollzogen. Er ist tiefgläubiger Christ und hat ein enges persönliches Verhältnis sowohl zum germanischen als auch zum antiken Erbe, wobei letzteres mit der Kaiserkrönung des Jahres 800 seinen Ausdruck findet. Die Franken – und in ihrer Nachfolge 962 die Deutschen – werden damit zu zu Trägern der antiken Reichsidee, die jeweiligen Könige zu „römischen Kaisern” („translatio imperii”). Karl der Große verkörpert in Person und Herrschaft in überzeugender Weise das Abendland, dessen Geburtsprozeß nunmehr abgeschlossen ist; er gilt seither als „Vater Europas”.
Die Einbeziehung der Germanen in die christlich-antike Welt, die somit um 800 zu einem gewissen Abschluß kommt, hat schon sehr viel früher begonnen, bereits vor der Zeit Chlodwigs. Seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts haben das alte Imperium und die junge Kirche dazu die ersten Anstöße gegeben, die Kirche, indem sie ihren Missionsauftrag schon zu diesem frühen Zeitpunkt besonders unter den grenznah siedelnden Germanen wahrnimmt, der Staat durch die Ansiedlung ganzer germanischer Völker auf römischem Boden und durch die zähe Grenzverteidigung, die im wesentlichen bis zur Jahreswende 406 / 07 hält, im Bereich der oberen Donau noch wesentlich länger. Sie schaffen damit unbewußt eine wichtige Voraussetzung dafür, daß sich das Abendland in den folgenden Jahrhunderten überhaupt bilden kann: Die benachbarten Germanenvölker erhalten die Möglichkeit, sich an die römische Kultur und an das Christentum zu gewöhnen und beides schätzenzulernen. Beim Eindringen in das Reich sind sie dann später zum überwiegenden Teil bereits Christen und sehen sich vielfach weniger als Zerstörer denn als Erben der antiken Kultur. Wäre das Reich bereits im dritten Jahrhundert, wie es eine Zeitlang aussah, völlig zusammengebrochen, wäre vieles zerstört worden und die Voraussetzungen für die Entstehung des Abendlandes womöglich gar nicht gegeben gewesen. In Teilen des Reiches ist tatsächlich die römische Kultur und mit ihr das Christentum vernichtet worden, so in Britannien, das um 400 aufgegeben, um die Mitte des fünften Jahrhunderts von den Angeln und Sachsen erobert und erst später von Irland und ab etwa 600 auch von Rom aus rechristianisiert wird.
Das Christentum als unverzichtbare Voraussetzung für die Entstehung des Abendlands hat vor allem durch zwei kirchliche Phänomene Europas unverwechselbaren Charakter mitgeprägt: durch das Klosterwesen und das römische Papsttum. Im Jahre 529 gibt ein junger Adliger aus Umbrien, Benedikt von Nursia, mit der Gründung des Klosters Monte Cassino den Anstoß zur Entwicklung einer spezifisch europäischen Variante des Mönchtums. Während sich die Eremiten der östlichen Mittelmeerwelt wie heute noch die Mönche in Tibet und in Südostasien auf Askese und Kontemplation beschränkten, verlangt der Benediktinerorden, der sich rasch über alle romanisch-germanischen Länder verbreitet und zum Vorbild für das abendländische Mönchtum schlechthin wird, von seinen Mitgliedern zusätzlich stetige und planmäßige Arbeit, also ein aktives Leben innerhalb der Gemeinschaft der Mitbrüder. Die für alle, vom Novizen bis zum Abt, verbindliche Losung „Bete und arbeite!” („Ora et labora!”) bringt die Zielsetzung des Ordens in echt römischem Stil auf die knappste Formel. Für die Benediktiner und bald auch für die Mitglieder anderer Orden sind ferner die Prinzipien der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams lebenslang verbindlich.
Hier ist die Verschmelzung von Antike und Christentum mit Händen zu greifen: Ein sittlicher Zentralbegriff der Römer, die Disziplin („disciplina”), wird zur Maxime des abendländischen Mönchtums, die römische Begabung und Neigung zu systematischer Tätigkeit kommt nunmehr im christlichen Gewand zum Ausdruck, an die Stelle des „pater familias” tritt der Abt.
Bemerkenswert sind vor allem die kulturellen Leistungen der Orden. Indem ein jeder Bruder auf seinem Platz, als Gärtner, Landwirt oder Kellermeister, aber auch als Pädagoge, Bibliothekar oder Wissenschaftler das ihm jeweils Mögliche erbringt, wird das Kloster zum Motor der Kulturentwicklung – Kultur im umfassendsten Sinne des Wortes verstanden. Dazu gehören beispielsweise landwirtschaftliche Aufbauleistungen in weiten Teilen des Abendlandes, etwa in Ostdeutschland im Zusammenhang mit der deutschen Besiedlung des Gebiets, und die Aneignung und Fortführung, auch jeweils zeitgemäße Umformung der antiken Literaturtradition. Unsere Kenntnisse der Antike verdanken wir, neben der Vermittlung durch die Araber, vielen fleißigen Mönchen, die über Jahrhunderte hinweg in ihren Schreibstuben die alten Texte kopiert haben.
Die Breiten- und Fernwirkung des abendländischen Ordensgedankens ist kaum überschaubar und teilweise noch gar nicht erforscht. Man denke etwa an die späteren Ritterorden, die wiederum aus der Integration zweier sittlicher Zentralvorstellungen erwachsen, der des Ritters und des Mönchs. So hat beispielsweise der Deutsche Orden das gesamte Gebiet zwischen Hinterpommern und dem Finnischen Meerbusen politisch organisiert und – über den Hochmeister Hermann von Salza von dem im dreizehnten Jahrhundert hochmodernen sizilischen Stauferstaat beeinflußt – den ersten institutionellen Flächenstaat verwirklicht, der dann europaweit an die Stelle des älteren Personenverbandsstaats tritt. Das moderne Preußen hat später nicht etwa nur den Namen und die Farben Schwarz-Weiß übernommen; vielmehr gewinnen erneut ethisch-politische Zentralbegriffe, etwa der Disziplin-Gedanke, historische Geltung, wiederum in völlig anderem Gewand.
Da nach christlicher Überlieferung Petrus als Stellvertreter Christi gilt („Du bist der Fels, auf den ich meine Gemeinde baue”), der – ebenfalls der Überlieferung nach – in Rom während der ersten Christenverfolgung unter Nero hingerichtet worden ist, beansprucht der römische Bischof schon bald eine Vorrangstellung unter seinen Amtsbrüdern, ohne diese zunächst durchsetzen zu können. Seine Autorität nimmt jedoch im Laufe des fünften Jahrhunderts beträchtlich zu – nicht zuletzt aufgrund der turbulenten Zeitläufte. In den Wirren der Völkerwanderung erweisen sich nämlich die kirchlichen Institutionen als vergleichsweise stabil, besonders auch in dem stark umkämpften Italien. Dem Papst kommt ferner zugute, daß in Italien nach der Teilung des Landes zwischen den Langobarden und dem Oströmischen Reich in den römisch gebliebenen Landesteilen ein Machtvakuum entsteht. Das Reich selbst nämlich wird in seinen Kerngebieten von Slawen und Arabern hart bedrängt und verliert infolgedessen in seinen Außenbezirken auf der Apenninenhalbinsel allmählich die Kontrolle. Latium und Rom liegen auf oströmischem Boden, wie auch Venedig, das ebenfalls eine eigenständige politische Entwicklung nimmt. Mit der „Pippinischen Schenkung” des Jahres 756, von der Kirche jahrhundertelang als „Konstantinische Schenkung” ausgegeben, gewinnt der Papst eine eigene politische Machtbasis, den bis heute bestehenden Kirchenstaat.
Die Gegenleistung des Papstes besteht in der Salbung, die er an dem Frankenkönig Pippin aus dem Geschlecht der Karolinger bei dessen Krönung vollzieht. Den Karolingern fehlt im Gegensatz zu den bis dahin regierenden Merowingern das „Königsheil”, das nach germanischer Auffassung dem Herrscher die Gunst der Götter sichert und damit die Monarchie sakral begründet. Durch die Salbung mit geheiligtem Öl erhält nun die neue Dynastie ebenfalls sakrale Grundlagen, jetzt im christlichen Sinne. Während einerseits der Papst weltliche Macht erringt, erhält andererseits der König als „Gesalbter des Herrn” („Christos Domini”) geistlichen Rang, der dem des geweihten Priesters entspricht. Diese wechselseitige Verzahnung, die für das „Gottesgnadentum” und für das „Bündnis zwischen Thron und Altar” kennzeichnend ist, hat die europäische Geschichte bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein bestimmt.
Der Dualismus zwischen Diesseits und Jenseits, Staat und Religion ist im Christentum von vornherein angelegt. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt”, sagt Jesus und fordert seine Anhänger auf: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!” Mit seiner „Zwei-Schwerter-Lehre” hat dann Papst Gelasius in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts erstmals den Anspruch auf Gleichrangigkeit mit der höchsten weltlichen Gewalt, während des Investiturstreits später Papst Gregor VII. sogar den Führungsanspruch erhoben.
Mit der „Pippinischen Schenkung” und der Gründung des Kirchenstaats wird die Polarität Staat – Religion, die beispielsweise im Islam nicht einmal ansatzweise vorhanden ist, in eigentümlicher Weise ausgeformt. Durch die Verzahnung beider Kräfte entsteht ein permanenter Spannungszustand, weil beide Seiten ständig in Versuchung sind, ihre Ansprüche zu überziehen, so später das Reich im Zeitalter des ottonisch-salischen Reichskirchensystems, die Kirche während des Investiturstreits. Beide Seiten müssen stets auf der Hut sein, wenn sie ihre Eigenständigkeitsbereiche bewahren wollen. Die Kirche ist nie ganz dem Staat untergeordnet, ihr Dogma nie allein entscheidend für die geistliche Entwicklung gewesen, wie schon die zahllosen theologischen Streitereien und Gruppenauseinandersetzungen bis hin zu den Ketzerbewegungen zeigen.
Umgekehrt haben sich im Abendland nie politische Machthaber zu unumschränkten (Schutz-) Herren der Kirche aufschwingen können, weil selbst der absolute Monarch durch sein Gottesgnadentum kirchlich-religiös eingebunden war. Das ständige Spannungsverhältnis zwischen Staat und Kirche hat zwar einerseits zu heftigen, immer wieder auch zu zerstörerischen Auseinandersetzungen geführt, andererseits aber auch dazu, daß beide Seiten in immer neuen Anläufen Freiheitsspielräume ausgelotet und genutzt haben. Sowohl die Kirche als auch der Staat haben damit entscheidend dazu beigetragen, daß im Abendland der Gedanke der geistigen und der politischen Freiheit in den verschiedensten Bereichen und auf den verschiedensten Ebenen zu einer wesentlichen Triebkraft werden konnte und über die Epochen hinweg immer wieder verwirklicht worden ist.
Der grundsätzliche Charakter der Weichenstellung von 756 und die daraus folgende spezifisch abendländische Entwicklung lassen sich am deutlichsten am oströmisch-byzantinischen Gegenmodell aufzeigen. Ostrom gelingt es zwar, die germanischen Invasionsversuche abzuwehren, aber es erlebt auch keine geistig-politische Erneuerung. Vielmehr bleibt der Kaiser alleiniger Machthaber in einem zentralistisch regierten Reich, und er bleibt auch oberster Kirchenherr („Cäsaropapismus”). Mehr noch: Diese Kirchenverfassung wird auch auf die von Konstantinopel missionierten Gebiete Ost- und Südosteuropas übertragen, so daß sich die Kirche hier nicht, wie im abendländischen Teil Europas, frei entfalten kann. Die mächtige russische Kirche etwa ist immer von der Staatsgewalt abhängig gewesen, ob diese nun von den Zaren, dem kommunistischen Politbüro oder von Präsident Putin verkörpert wurde und wird – mit entsprechenden Folgen für die freie geistige Entwicklung überhaupt.
Insofern hat sich die Grenzziehung des Jahres 395, die das Römische Reich endgültig in eine West- und eine Osthälfte teilt, bis heute als schicksalhaft für die Geschichte Europas erwiesen. Diese Grenze teilt seit dem Schisma von 1054 das Gebiet der römisch-katholischen von dem der griechisch-orthodoxen Kirche. Nach Abschluß der Missionierung gehören zur ersteren die heutigen Länder Kroatien, Slowenien, Ungarn, Polen, die baltischen Länder und Finnland, zur letzteren Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien, die Ukraine, Weißrußland und die Russische Föderation. Der griechisch-orthodoxe Teil Europas, dem ja auch das germanische Element fehlt, das für die freiheitliche Verfassungsentwicklung in Europa ebenfalls von grundlegender Bedeutung ist, hat an der abendländischen Geschichte nicht teilgehabt. Es gab hier keine geistige und auch keine politische Freiheit im west‑, mittel- und nordeuropäischen Sinne, weder bürgerliche Selbstregierung noch ständische Mitbestimmung, weder eine Renaissance noch eine Reformation, weder Rechtsstaatlichkeit noch Parlamentarismus.
Dies alles wirkt – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – bis heute nach. Den schlagendsten Beweis für die Aktualität der Grenze von 395 hat die Entwicklung seit 1989 / 90 geliefert. Die westlich dieser Grenze gelegenen Staaten des ehemaligen Ostblocks haben, sobald sie den nötigen politischen Spielraum gewonnen hatten, entschlossen die „Rückkehr nach Europa” angetreten. Bei den übrigen ist dies bisher nur zögerlich oder gar nicht geschehen.