Abschied, unvertrauert.

von Heino Bosselmann

Ich habe mich oft genug kritisch über gegenwärtige Bildungspolitik geäußert.

Grund­sätz­lich warf ich ihr eine prin­zi­pi­el­le Unred­lich­keit vor. In ihr spie­gelt sich die ideel­le Kri­se der Repu­blik eben­so, wie sie von ihr mit­ver­ur­sacht wird. Außer­dem ist die Seman­tik des Begriffs „Bil­dung“ in den Debat­ten nicht mehr klar, weil die Dis­ku­tan­ten all­zu Ver­schie­de­nes damit ver­bin­den. Im abge­wan­del­ten Schmitt-Zitat gilt häu­fig: Wer Bil­dung sagt, will betrügen.

Wäh­rend die neue­re päd­ago­gi­sche Theo­rie, poli­tisch ver­an­laßt, in älte­ren Sekun­dar­schü­lern vor­zugs­wei­se selbst­tä­ti­ge, ent­de­cken­de und urteils­freu­di­ge Per­sön­lich­kei­ten sieht, fand ich – abge­se­hen von sehr beein­dru­cken­den Aus­nah­men! – in mei­nen Deutsch‑, Geschichts- und Phi­lo­so­phie­kur­sen ein eher hilf­lo­ses Publi­kum vor – in Erman­ge­lung einer sys­te­ma­ti­schen Grund­schul­bil­dung und aus­rei­chen­den Übens sprach­lich man­gel­haft, einer­seits digi­tal reiz­über­flu­tet, ande­rer­seits im Welt­bild und Hori­zont ver­engt, schnell erschöpft und vor allem trotz Anre­gung ver­blüf­fend lei­den­schafts­los. Die Ampli­tu­den blie­ben meist flach, die Erre­gun­gen kurz­läu­fig, die Begeis­te­rungs­fä­hig­keit gering. Welch eine Erschöp­fung in den geschlos­se­nen Räu­men der geprie­se­nen Ganztagsschule!

Trotz­dem erleb­te ich mei­ne Schü­ler als emo­tio­nal intakt und eher im Hand­lungs­ver­mö­gen redu­ziert: Sie woll­ten durch­aus ver­bind­lich sein. Obwohl sie fach­lich eher wenig fest­zu­hal­ten ver­moch­ten, erschie­nen sie mir grund­sätz­lich auf­ge­schlos­sen – durch­aus Typen dar­un­ter, mit denen man – im alt­mo­di­schen Aus­druck – hät­te Pfer­de steh­len können.

Aber die ihnen von der Poli­tik als Ret­tungs­ort auf­ge­nö­tig­te Ganz­tags­be­treu­ung hielt sie hin­ter Glas wie in einem Ter­ra­ri­um fest, ver­hin­der­te mit insze­nier­ten Pro­jek­ten die fri­sche Luft eben­so wie ech­tes Erleb­nis und ersehn­te Bewäh­rung und ermü­de­te mit aus­ufern­den Stun­den­plä­nen, in denen der Streß des andau­ern­den Quan­ti­fi­zie­rens das ech­te Qua­li­fi­zie­ren ver­hin­der­te, trotz all der noch zusätz­lich zu absol­vie­ren­den, all­zu gut gemein­ten, aber von fadem Pflicht­cha­rak­ter bestimm­ten „För­der­maß­nah­men“ und „Stu­dy-Times“, mit denen mal wie­der jeder, der nicht selbst woll­te oder kaum konn­te, „dort abge­holt wer­den soll­te, wo er stand.“

Ich beherrsch­te am Ende nur eines sicher: Nie drang mein zuneh­men­des Unver­ständ­nis über das immer absur­der ver­faß­te Bil­dungs­sys­tem als Defä­tis­mus oder Zynis­mus in die Art der Ver­mitt­lung und in das Kli­ma der Ver­an­stal­tun­gen ein. Das kos­te­te Kraft, eben­so wie es Kraft kos­te­te, die inne­re Ent­täu­schung über den oft genug sto­cken­den Pro­zeß und die kaum mehr zu bele­ben­de Aus­ein­an­der­set­zung – um etwas, für etwas, gegen etwas – irgend­wo­hin abzustauen.

Weil sich im Audi­to­ri­um an geis­ti­ger Bewe­gung oft genug wenig reg­te, dreh­te ich selbst sacht hoch, damit sich über­haupt noch etwas tat, betrieb Exege­se, ver­such­te Inspi­ra­ti­on, spür­te neu­es Mate­ri­al auf und wech­sel­te die Per­spek­ti­ven und Zugän­ge – das alles, um zum einen Lan­ge­wei­le zu ver­mei­den, die mich selbst lahm­ge­legt hät­te, und zum ande­ren, um Inhal­te zu sichern, ja gewis­ser­ma­ßen zu bergen.

Ange­sichts eines sta­ti­schen Milieus zähen Behar­rungs­ver­mö­gens sah ich mich meist zum viel­fach geschmäh­ten Fron­tal­un­ter­richt gezwun­gen, einer Metho­de, die ver­hee­rend, also mili­tä­risch klingt, durch die aber wenigs­tens Per­sön­lich­keit zu wir­ken ver­mag und Sen­dung mög­lich ist. Moder­ner gel­ten­de Vari­an­ten – Frei­ar­beit, Grup­pen­ar­beit, soge­nann­tes hand­lungs­ori­en­tier­tes und heu­ris­ti­sches Ler­nen – brach­ten zu wenig wäg­ba­re Ergeb­nis­se oder es fehl­te dafür in der Enge die Zeit.

Auf münd­li­che Kon­trol­len ver­zich­te ich am Ende ganz, schrift­li­che cho­reo­gra­phier­te ich vor, alles der Noten wegen. Denn selbst wer sich für gar nichts inter­es­sier­te, rech­ne­te doch immer noch sei­ne Schnit­te aus, mit Taschen­rech­ner natür­lich und auf meh­re­rer Stel­len genau, um sie den zu Haus dräu­en­den Eltern ver­mel­den zu gön­nen, oder gar in der nai­ven Annah­me, die beein­dru­cken­de Dezi­mal­zahl wie­se auch nur irgend etwas zu sei­ner Per­sön­lich­keit aus.

Heut­zu­ta­ge wer­den, wie ich lese, über­pro­por­tio­nal Ein­ser- und Zwei­er­abis abge­legt. Eine Drei vorm Kom­ma läßt vor die­sem Hin­ter­grund auf intel­lek­tu­el­le Defek­te oder voll­stän­di­gen Ver­zicht auf Enga­ge­ment schlie­ßen. Als Ver­gleich: Gün­ther Jauch absol­vier­te das tra­di­ti­ons­rei­che alt­sprach­li­che Gym­na­si­um in Ber­lin-Ste­glitz Anfang der Sieb­zi­ger mit 3,1. Das galt damals als pas­sa­bel bis durch­schnitt­lich. Man konn­te damit so gut wie alles stu­die­ren. Wer jedoch heu­te bei mitt­ler­wei­le völ­lig infla­tio­nier­ter Beno­tung so abschließt, dürf­te sich mit Jauch kaum mehr sinn­reich unter­hal­ten können.

Stu­pi­der Zwang (Zet­tel raus! Kon­trol­le!) oder qua­li­fi­zier­tes Enter­tain­ment? Ich wähl­te Letz­te­res. So muß­te ich zwar zwangs­läu­fig mit RTL II und iPho­ne-Apps kon­kur­rie­ren, aber konn­te wenigs­tens ehren­wert ver­su­chen, auf span­nen­de Wei­se die Tie­fen­di­men­sio­nen wie die über­grei­fen­den Bögen von Fach­in­hal­ten zu zei­gen, um hier und da viel­leicht die Talen­tier­tes­ten und Kraft­vol­len anzu­re­gen und ihnen Fens­ter auf­zu­sto­ßen, was hin und wie­der durch­aus gelang. Manch­mal beein­dru­ckend, gar rüh­rend bis schmerz­lich zu erle­ben, wenn sich Gedächt­nis oder min­des­tens Emp­fin­dung zu regen begin­nen, wenn gar Impul­se für das eige­ne Han­deln genutzt wer­den! Das gibt es! Selten.

Zu zwin­gen, dar­auf ver­zich­te­te ich seit den spä­ten Neun­zi­gern bzw. seit ich an Pri­vat­schu­len Dienst­leis­ten­der an zah­len­der Kli­en­tel war. Außer­dem gehört der Zwang nicht in mein Spek­trum, obwohl ich selbst aus einer Schu­le kom­me, die einen selbst­ver­ständ­lich zu zwin­gen ver­stand – in einer Zeit, in der uns das kaum auf­fiel, weil grund­sätz­lich alles vor­mund­schaft­lich ablief. Oder preu­ßisch: Lehr­jah­re, hieß es, sei­en kei­ne Herrenjahre.

Wem in mei­nem Unter­richt Bil­dung, Leis­tung und Hal­tung trotz per­ma­nen­ter Ermu­ti­gung egal blie­ben, der konn­te sich zurück­ge­lehnt wenigs­tens noch gut unter­hal­ten füh­len, zumal er dar­in sicher­ge­hen durf­te, daß ihn das Sys­tem des Abwäh­lens von Fächern und Her­aus­for­de­run­gen und die alles opti­mie­ren­de Zah­len­mys­tik der Her­aus- und Hoch­rech­ne­rei von Noten­wer­ten durch die Prü­fun­gen trug, wenn es denn über­haupt noch um Prü­fun­gen im Wort­sin­ne ging. Sich für eine sol­che zu ent­schei­den, um gar noch an ihr zu wach­sen – heu­te ganz undenkbar!

Über aller­lei Fil­ter und Schal­ter ist das Abitur mitt­ler­wei­le nach pri­va­ten Bedürf­nis­sen und Kon­junk­tur­ab­sich­ten ein­stell­bar. Durch­zu­fal­len ist tech­nisch frei­lich mög­lich (wenn­gleich bald ein Fall für die Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­ge­setz­ge­bung), aller­dings berei­tet die dafür erfor­der­li­che Ver­wei­ge­rung bald mehr Mühe als die ver­trau­ens­vol­le Teil­nah­me am Pro­zeß des Durch­zie­hens von all und jedem. Daß einer sag­te, er ent­schei­de sich eigens für eine Prü­fung in Phi­lo­so­phie, weil er sich etwas bewei­sen und Ein­bli­cke ver­tie­fen wol­le – nie gehört.

Woll­te man als Leh­rer auf die übli­chen Erpres­sun­gen und Nöti­gun­gen ver­zich­ten, benö­tig­te man dazu eine trai­nier­te Kon­di­ti­on, die von der Durch­schnitts­be­sat­zung der Kol­le­gi­en nicht zu ver­lan­gen ist. Glück­li­cher­wei­se hielt ich einen Halb­ma­ra­thon ähn­lich sta­bil durch wie einen Unter­richts­tag. Ich gab mich preis, aber ich nahm es sport­lich, mit der bis­wei­len fata­len Fol­ge, daß sich die Schü­ler auf mich ver­lie­ßen. Mit dem zwei­fel­haf­ten Erfolg, daß ich tat­säch­lich nur die Kon­stan­te der knapp fünf Pro­zent lang­fris­tig und tie­fer Inter­es­sier­ten erreich­te, die jedoch direkt. Ich räum­te ihnen mei­nen Bücher­schrank leer und nahm mir außer­halb der Zwangs­ver­ein­nah­mun­gen Zeit. Der betreu­te Durch­schnitt aber, der heu­te die soge­nann­ten Gym­na­si­en flu­tet, blieb mir wohl­ge­son­nen, weil ich ihn ganz erwar­tungs­ge­mäß mit durch­be­no­te­te, fand mich sogar ganz okay, bewun­der­te gar auf sei­ne Wei­se, daß sich da ein Mann mit The­men, Fra­gen, Pro­ble­men abra­cker­te, mit denen für einen Hips­ter und Medi­enu­ser so ver­dammt wenig anzu­fan­gen war, obwohl das da vorn zuwei­len rich­tig gewitzt bis pro­vo­kant klang.

Kurz vorm Abschied bat ich eine zehn­te Klas­se, mir bit­te umge­kehrt etwas zu zei­gen, etwas mit­zu­brin­gen, was sie echt begeis­tert. Ja, sie hät­ten da was. Ich war gespannt. Und sie zeig­ten mir ein paar Epi­so­den von “How I met your mother”. Ich sah mir das höf­lich an, regis­trie­rend, daß man es, woll­te man mit Lite­ra­tur kon­kur­rie­ren, schwer­ha­ben mußte.

Was ich hin­be­kam: Non mul­ta. Ich blieb in recht net­ter Erin­ne­rung. Kein schlech­ter Kerl, sicht­lich ja enga­giert, zuwei­len ein gran­teln­der Pol­ter­kopf, ein eifern­der Publi­kums­be­schimpf­er, der aus all­zu augen­fäl­li­ger Igno­ranz unpro­fes­sio­nell eine pri­va­te Sache mach­te, die ihm ver­dammt gegen den Strich ging, dabei aber fair, ja gut­her­zig, poli­tisch wohl mehr als zwie­lich­tig; aber was wuß­te man schon von Poli­tik? Jeden­falls kei­nen je denun­zie­rend oder rein­rei­tend. Jemand, der mit frem­den, sehr anti­quier­ten Stof­fen umging. Dabei aber mit­ten in der ziem­lich uncoo­len Schu­le doch ziem­lich cool.

Aber das reicht mir nicht! Also soll Schluß sein. Ich gebe auf – aus­ge­reizt, aber gänz­lich unver­gnatzt, nicht mal des­il­lu­sio­niert, sogar zuver­sicht­lich, erfrischt statt aus­ge­brannt. – Der „Bil­dungs­be­trieb“ geht unwei­ger­lich wei­ter, zuneh­mend markt­ori­en­tiert und mit all sei­nen poli­ti­schen Wer­be­of­fen­si­ven, Schu­le wäre nicht nur der tolls­te und demo­kra­tischs­te Ort, son­dern das Lust- und Freud­volls­te schlecht­hin. Nie­mand mutet sich zu, kri­tisch dar­über nach­zu­den­ken, war­um die Schu­le bei all ihrer neu­en Kun­ter­bunt­heit, immer noch vor allem lang­weilt, kränkt und frus­triert. Auch mit der Aus­stel­lung unge­deck­ter Schecks wird sie sich nicht anbie­dern können.

Ich ver­zich­te auf den Kom­fort regel­mä­ßi­ger Ein­künf­te zuguns­ten des Luxus’, kei­nen Eti­ket­ten­schwin­del mehr betrei­ben zu müs­sen. Wer in mei­nem Unter­richt sehr gut war, kommt allein zurecht, wen ich durch­be­trog, der wird von den Kol­le­gen wei­ter durch­ge­reicht werden.

Und die „Gesell­schaft“? Kei­ne Sor­ge! In ihr wird sich dort, wo es – sel­ten genug! – wirk­lich dar­auf ankommt, wei­ter­hin das Talent durch­set­zen. Wie immer. Wie his­to­risch schon vor der Schul­pflicht­ge­setz­ge­bung und all den För­der­ver­ein­ba­run­gen. Und wenn es sich tat­säch­lich mal um ein Talent han­deln soll­te, wird dem die Schu­le ohne­hin nicht so ent­schei­dend wei­ter­hel­fen kön­nen, wie sie es gera­de­zu heils­brin­gend stets ver­kün­det. Sie bleibt das, was sie kul­tur­ge­schicht­lich immer war – eine not­wen­di­ge Insti­tu­ti­on, der die Inter­es­sier­ten hier und da etwas ver­dan­ken, ein Ort, über den man aber mit vol­lem Risi­ko hin­aus­wach­sen muß. Leh­rern gelingt das oft gar nicht, mir selbst recht spät.

Aber sicher: Es gibt die Anzu­re­gen­den, die Klu­gen, die Inter­es­san­ten, die sym­pa­thisch Son­der­ba­ren und die mutig Reni­ten­ten. Sie sind zu unter­stüt­zen, zu bil­den, zu ver­fei­nern – dies läuft aber nicht mit dem Sys­tem, son­dern trotz des Sys­tems oder dia­me­tral ihm ent­ge­gen. In man­cher­lei Hin­sicht ist Schu­le heu­te eher etwas für die För­der­be­dürf­ti­gen; die star­ken Köp­fe und sen­si­blen Geis­ter sind gut bera­ten, sich mög­lichst außer­halb oder par­al­lel zu ver­sor­gen – mit den rich­ti­gen Stof­fen und Leuten.

Zwei­und­zwan­zig Jah­re Leh­re lie­gen hin­ter mir. Zum Schluß war ich noch Hono­rar­leh­rer und so wenigs­tens von den Sit­zun­gen befreit. Viel­leicht bin ich erwach­sen gewor­den. Unver­trau­ert spü­re ich: Die Schu­le ist nicht mehr mein Ort. Ich fühl­te mich dort am Ende sehr fremd, ja als absur­de Existenz.

Nichts schreibt sich
von allein!

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Kommentare (17)

Albert

6. März 2013 11:16

Lieber Herr Bosselmann,

heißt das, Sie kündigen Ihren Beruf?

Was denn nun? Sie sind doch ein Lehrer par excellence! Wollen Sie den Lehrerberuf gänzlich an den Nagel hängen?

Und nun?

Ihre Idee einer bündischen Privatschule finde ich immer noch toll und denke oft daran (auch wenn manche Ideale, die Sie einmal in Ihrem Blogeintrag beschrieben, vielleicht zu hochgestochen und alltagsuntauglich sind). Sie wären dafür die ideale Besetzung. Ich habe nur Zweifel an der praktischen Umsetzbarkeit einer solchen Schule.

P.S.: Immer, wenn ich das neumodisch verunstaltete Freibad in meiner ostdeutschen Heimatstadt besuche, muss ich an Ihren sehr treffenden Beitrag denken, in dem Sie beschrieben, daß heute kein Mensch mehr richtig schwimmen will - alle wollen nur noch in Spaßbädern hin- und hergeschaukelt werden.

Ich vermute, für ein bündisches Internat fänden sich nicht genug "Schwimmer" geballt an einem Ort.

Luise Werner

6. März 2013 12:04

Meine Kinder halten ihre Mappen in Ehren. Jede hat im Kinderzimmer ihren Platz und wird akribisch auf dem neuesten Stand gebracht; völlig selbstständig und ohne jegliche Ermahnung. Bilder und Texte werden ausgeschnitten, auf Plakate geklebt und mit sinnvollen Überschriften versehen. Ausführlich und durchaus kenntnisreich wird über Details diskutiert und gestritten. Neue Veröffentlichungen in Bild und Schrift werden notfalls mit eigenem Taschengeld beschafft und nach abendlicher Lektüre ausgewertet. Die Eltern werden als vollwertige Diskussionspartner geschätzt und um Meinung und Rat gefragt. ... Soll ich fortsetzen? Es geht um meine Kinder im Alter von 10 und 8 Jahren und die Mappen enthalten alles über Spiele und Spieler der Fußballbundesliga, der Champions-League und der deutschen Nationalmannschaft. Und wie oft sinniere ich darüber, was zu tun wäre oder wer es vermöge, dieses Interesse und diese Begeisterung in die Bereiche Mathematik, Sachkunde, Kunst oder Deutsch zu lenken.
Herr Bosselmann, alles Gute. Sie gehen wohl Ihren Schülern, aber hoffentlich nicht mir als Autor verloren.

Weltversteher

6. März 2013 13:03

Und nun?
Dem Beitrag fehlt, für unseren Zweck hier, die Perspektive. Sicherlich können wir unserem vertrauten Schreiber mal aufmunternd auf die Schulter hauen. Aber es muß doch mehr als das der Kern seines Beitrags sein?

Spannender als das Schicksal des Lehrers finde ich die Aussichten der Schüler, womöglich unserer Kinder. Wer hält dagegen, daß sie nicht auch nach einigen Jahren Pflichtbeschulung solche Hirnleichen sind?

Heino Bosselmann

6. März 2013 15:22

Nach meiner Erfahrung ließe sich das Problem – im Wortsinn – nur noch revolutionär, nicht evolutionär lösen. Aber: 1.) Meine Sicht kann verzerrt, zu subjektiv, zu atypisch sein. 2.) Ist sie es nicht und treffen meine Eindrücke weitgehend zu, so müßten im großen gesellschaftlichen Kompromiß m. E. solche neuen Grundvereinbarungen her, daß sie den meisten unzumutbar erschienen. Und wer weiß? Vielleicht reicht eine zahlenmäßig geringe, aber qualitativ hochqualifizierte, hochprofessionelle Schicht an Spezialisten (Medizin, Recht, Ingenieurs- und Naturwissenschaften) mittlerweile zum Funktionieren einer Gesellschaft aus – und es bedarf einer traditionellen Breitenbildung ebensowenig, wie es offenbar noch der elemenatrsprachlichen Kompetenz oder der Allgemeinbildung im Fachlichen bedarf.

Heino Bosselmann

6. März 2013 15:25

Wie bei den Bundesliga-Mappen: Schülern müßte das, was Schule bietet, relevant und wichtig erscheinen. Und wir müßten eine Haltung erziehen, die erfahren hat, daß sich Anstrengung genießen läßt – wie im Sport – und daß es damit und danach erst um das richtig Interessante und Spannende geht.

Heino Bosselmann

6. März 2013 15:29

Darstellungen in "eigener Sache" – wie meine – finde ich übrigens in Aussage und Verfahren immer fragwürdig. Tatsächlich erscheint es mir derzeit angezeigter, auch aus Gründen der politischen Verfaßtheit von Bildung und Land selbständig zu arbeiten. Bei weit höherem Risiko und unsicherer Prognose, aber ohne falsche Kompromisse eingehen zu müssen. Über die Idee einer "bündischen Schule" denke ich immer noch nach …

Sara Tempel

6. März 2013 15:36

Welch´ anschauliche Analyse Ihrer Erfahrungen als Lehrer, Herr Bosselmann, in amüsanter Manier geschrieben!
Ich kann Ihre Entscheidung gut verstehen. Ihr Talent kann sich offenbar im deutschen Bildungssystem weder entfalten noch bei, an Unterhaltungsmedien gewöhnten, Schülern etwas Wesentliches bewirken.
Viel Glück!

Ein Fremder aus Elea

6. März 2013 16:20

Das sind dann aber doch noch recht schöne Worte. Die meisten Lehrer passen sich schlicht ihren Schülern an, so, wie man sich in Rom den Römern anpassen soll, das heißt sie sprechen im Lehrerzimmer von denselben Sachen, fragen: "Hast du den wieder gesehen?" und so fort.

Ich kann das auch verstehen, es ist schwierig, sich nicht von seinem Umfeld beeinflussen zu lassen.

Berufskrankheiten gibt es viele. Lehrer bleiben zeitlebens Teenager, Ärzte und Krankenschwestern in Hospitälern bilden eine Schlachterpsyche aus, Anwälte mutieren zu Trickbetrügern und so weiter.

Mehr als ein: "Das gibt es also auch hier." kann Schule schwerlich sein, neben dem Notwendigen. Nun, das ist meine unenthusiastische Sicht. Den Sinn des Entertainments sehe ich nicht. Es gibt da ja auch einen handfesten Widerspruch:

Wenn ich als Lehrer quasi nur eine wandelnde Bibliothek bin, welche gewisse Pflichtstoffe vorträgt, gibt es einen Grund für Schüler, initiativ zu werden, und mich nach diesem oder jenen zu fragen, wenn ich aber als Lehrer Entertainer bin, erziehe ich die Schüler zur Passivität.

Christian

6. März 2013 16:44

In eigener Sache:
Ich wünschte, dass ich Sie - oder jemanden von ähnlichem Format - zu meiner Zeit als Lehrer gehabt hätte. Ein Wunder, dass ich nach meinen Erfahrungen als Schüler überhaupt noch lese. Nach und nach musste ich mir alle Quellen selbst erschließen, wo doch in der Schule alles getilgt wird, was irgendwie entflammend wirken und Persönlichkeit hervorbringen könnte. Aber es kann auch so betrachtet werden: Nach einer lesbischen Latein-Lehrerin, die Jungs nicht ausstehen konnte, einer Mathematik-Lehrerin, welche starke Defizite in der Didaktik aufwies und uns nach ausdrücklicher Frage, den Sinn des zu Rechnenden nicht zu sagen vermochte, einem Chemie-Lehrer, der auf Grund seiner 'Art' von einer Schule zur anderen geschickt wurde, sowie ein Deutsch- und Kunstunterricht, der den motiviertesten und talentiertesten Schüler abschrecken konnte, muss es sich wirklich um ein inniges Interesse handeln, in einem Themenbereich weiterzumachen. Das ist auch eine Form von Prüfung, die Sicherheit gibt.

In diesem Sinne mit bestem Gruß!

Zeltebauer

6. März 2013 16:57

Zu wenige Schwimmer an einem Ort? Das mag sein. Nicht aber zusammengefasst, zeitlich begrenzt. Ein Ferienlager, nicht besonders komfortabel (Zelte oder Baracken), Personal wie Sie, Herr Bosselmann, und ein drängender, suchender, Geist der jeden mitreisst! Solche Plätze gibt es noch hie und da aus DDR- Zeiten (z.B.Ferienlager Crispendorf bei Schleiz, abgeschieden im Wisentagrund). Und wenn bequeme Akademikereltern nur ihre Kinder parken möchten: eine Art Aufnahmeprüfung, einen Nachweis des Wollens. Was glauben Sie, wie das zieht! Und am Ende ein großes Fest/ Wettstreit am Feuer, dessen Sieger im nächsten Sommer dann garantiert wieder dabei sein dürfen. Gehen wir's an!

Kwasir

6. März 2013 16:59

Und es ist ja nicht nur das Schulsystem mit seinen oft genung willfährigem Lehrpersonal, das fleißig daran arbeitet das man schier verzweifeln mag. Verzweifeln bei dem Gedanken daran was da an ungebildetem Menschenmaterial in das Leben nach der Schule drängt.
Grundschüler, die noch in der zweiten oder gar dritten Klasse unfähig sind sich die Schnürsenkel zu binden. Eltern, die fordern das es keine Hausaufgaben geschweige denn Noten gibt, damit die Kinder nicht überfordert werden und von Schulunlust befallen werden, wünschen im gleichen Atemzug eine stärkere Forderung ihrer überforderten Kinder im Unterricht. Grundlegende Schwächen im mündlichen oder schriftlichen Deutsch werden mit den Worten abgetan: "Das wächst sich aus...!" Sie erziehen ihre Kinder zu "Anstrengungsvermeidern" und wehe am Ende der Grundschulzeit gibts keine Empfehlung fürs Gymnasium...

Heino Bosselmann

6. März 2013 17:03

Klingt gut.

Heino Bosselmann

6. März 2013 17:33

Es handelt sich dabei um eine Gratwanderung: Zum einen ist freies, selbständiges, entdeckendes Lernen ergiebiger. Ohne Zweifel. Zum anderen bedarf es dafür der Befähigung vorweg, nicht nur methodisch, sondern vom „Wissen-über“ her. Ein Beispiel: In der Abiturstufe ist im Fach Geschichte speziell Quellenkritik gefragt. Eine qualifizierte Sache. Nur muß davor klar sein, was in etwa der Chronik nach überhaupt geschah und welche Zusammenhänge das hatte. Meist leider nicht vorauszusetzen. Also arbeitet man frontal nach, sichert Inhalte, sorgt für Systematik und Tafelbilder (mittlerweile verpönt). – Ansonsten haben Sie recht: Meist in oberen Klassen unterrichtend, mußte ich – mindestens in Deutsch und Geschichte – andauernd Inhalte nachreichen, ohne dabei die Miene zu verziehen oder gar Kollegenschelte zu betreiben. Insofern geriet das vortragend (mit Verve und gesicherter Mitschrift). Ja, und im besten Sinne unterhaltend. Ich sah keine andere Chance. Ich mußte oft die Energie mit in den Raum bringen, denn der lag des öfteren im Zustand der Erschöpfung vor mir, kaum Puls, wenig Turgor.

Steffen

6. März 2013 18:09

In der russischen Schule werden immerhin noch praktische Fähigkeiten "abgefragt"!

https://www.liveleak.com/view?i=a19_1361905919

Harn Drang

6. März 2013 23:30

Nachvollziehbar. Dieser Staat kann den Guten keine Perspektive bieten. Einer meiner alten Kameraden war auch Lehrer. Der ist mittlerweile ausgestiegen, arbeitet als Lektor für einen Schulbuchverlag, sucht aber auch nach dem Sinnvollen. Es gibt viele. Schließt euch zusammen, macht was draus. Es gibt doch so viele Eltern, die für eine gute Schule und die besten Lehrer ein Vermögen ausgeben würden. Zurecht, für was auch sonst? Das ist die Zukunft. Und wenn es in der BRD zu schwierig ist, geht in's EU-Ausland. Dafür ist die EU da, dass man dies ausnutzt. Es hilft kein Jammern und kein Klagen. Kein Zittern vor irgendeiner Entscheidung. Ausführung. Jetzt.

Andrenio

9. März 2013 19:09

Vor Jahren auf einem Ausbildungssegelboot auf Elba: Mein Mitschüler ein junger Student mit Berufsziel Lehrer. Warum diese Wahl? Ein toller Lehrer im Gymnasium war Auslöser und Vorbild. Auf Nachfrage kamen wir auf seinen Namen: Karl-Heinz Weißmann. Er war sehr überrascht, dass dieser für mich ein Begriff war. Sollte Herr Weißmann diese Zeilen lesen, es wird ihn freuen.
Nach Jahren im Halbschlaf als Schüler, erschien mir bei Besuchen erlauchter Schlösser eigentlich als größtes Privileg der Kinder der Herrschaft die Erziehung durch Privatlehrern.
In China lassen die Neureichen ihre Kinder klassische Disziplinen büffeln und das als Zusatz zur Normalschule, russische Mafiosi bestehen auf einer christlich orientierten Erziehung, das muss Doch für Herrn Bosselmann ein Platz sein, wo er seinen pädagogischen Eros verschenken kann!
Sollte das bündnische Internat kommen, ich werde alles tun, dass meine Enkel dorthin gehen, und wenn es nur für eine begrenzte Zeit ist

Stil-Blüte

11. März 2013 15:25

Herr Bosselmann, Ihre offene, ja offenherzige Darstellung Ihres Berufes öffnet auch in mir wieder die Klassenzimmertür.

'Zettel raus! Kontrolle...oder qualifiziertes Entertainment...' Meine Erfahrung sagt mir: Weder - noch. Der Lehrer als Chorleiter, Dirigent, Bestimmer, der die verschiedenen Stimmen, Stimmlagen und Stimmungen zu meistern hat. Er ist der Meister: Vorne ist die Musik! Mehr Dompteur der kleinen Biester als Selbstdarsteller zur Unterhaltung, Auflockerung, gegen die gähnende Langeweile des Löwenbabys. Wie das zu erreichen ist? Durch Präsenz, Persönlichkeit und - Distanz! Dieses Anbiedern der Lehrer, dieses Kumpelhafte finde ich völlig falsch. Man will doch mit einem Lehrer nicht befreundet sein. Man will zu ihm aufschauen, von ihm etwas lernen, ihn achten, das Ehrfurcht haben. Wie das wiederum zu erreichen ist? Nicht jeder Lehrer ist ein geborener Lehrer, ein Lehrer aus Berufung. Aber jeder kleinste Manager wird heute darin 'gecoucht', ich sag mal lieber 'geschult', wie er vor einer Runde aufzutreten, wie er Stoff zu vermitteln hat. Das müßte m. E. jeder Pädagogikstudent lernen: Auftreten. Freilich ist das auch von Nachteil, geht es doch auf Kosten der Identität, des unverwechselbaren Charakters. Aber sind die meisten Lehrer - der Zeitgeist schmirgelt alles schön glatt- ohnehin identitätslos?

Schön wäre es, wenn sich Herr Weißmann hier einmal dazu äußern würde, da er ja als Vorbild dargestellt wird.

Anstrebenswert wäre, so finde ich, daß Schule, Lehrplan, Unterricht, Zensuren, Lob und Tadel, Klassenordnung s e l b s t v e r s t ä n d l i c h wären. So hat meine Generation die Schule geschafft und letztlich gemeistert. Was mir an Fakten, außer dem Elementaren Schreiben, Rechnen, Lesen, beigebracht wurde, habe ich längst vergessen. Aber nicht vergessen: sich einer Sache widmen, Konzentration, Aufmerksamkeit, Fleiß, Ordnung. Ja, da haben wir sie ja schon, die sog. 'Sekundärtugenden'. Diese Zeit kehrt nicht wieder? Ich habe die Gelegenheit, asiatische Studenten kennenzulernen, die dies alles noch beherrschen. Also, wenn die das können, warum nicht auch wir wieder?

Noch eine Frage: Wie kommt es eigentlich, dass so viele Lehrer in die Politik gehen? Sie schaffen es nicht, vor einer Klasse zu stehen, aber treten vor das Volk hin.

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