Grundsätzlich warf ich ihr eine prinzipielle Unredlichkeit vor. In ihr spiegelt sich die ideelle Krise der Republik ebenso, wie sie von ihr mitverursacht wird. Außerdem ist die Semantik des Begriffs „Bildung“ in den Debatten nicht mehr klar, weil die Diskutanten allzu Verschiedenes damit verbinden. Im abgewandelten Schmitt-Zitat gilt häufig: Wer Bildung sagt, will betrügen.
Während die neuere pädagogische Theorie, politisch veranlaßt, in älteren Sekundarschülern vorzugsweise selbsttätige, entdeckende und urteilsfreudige Persönlichkeiten sieht, fand ich – abgesehen von sehr beeindruckenden Ausnahmen! – in meinen Deutsch‑, Geschichts- und Philosophiekursen ein eher hilfloses Publikum vor – in Ermangelung einer systematischen Grundschulbildung und ausreichenden Übens sprachlich mangelhaft, einerseits digital reizüberflutet, andererseits im Weltbild und Horizont verengt, schnell erschöpft und vor allem trotz Anregung verblüffend leidenschaftslos. Die Amplituden blieben meist flach, die Erregungen kurzläufig, die Begeisterungsfähigkeit gering. Welch eine Erschöpfung in den geschlossenen Räumen der gepriesenen Ganztagsschule!
Trotzdem erlebte ich meine Schüler als emotional intakt und eher im Handlungsvermögen reduziert: Sie wollten durchaus verbindlich sein. Obwohl sie fachlich eher wenig festzuhalten vermochten, erschienen sie mir grundsätzlich aufgeschlossen – durchaus Typen darunter, mit denen man – im altmodischen Ausdruck – hätte Pferde stehlen können.
Aber die ihnen von der Politik als Rettungsort aufgenötigte Ganztagsbetreuung hielt sie hinter Glas wie in einem Terrarium fest, verhinderte mit inszenierten Projekten die frische Luft ebenso wie echtes Erlebnis und ersehnte Bewährung und ermüdete mit ausufernden Stundenplänen, in denen der Streß des andauernden Quantifizierens das echte Qualifizieren verhinderte, trotz all der noch zusätzlich zu absolvierenden, allzu gut gemeinten, aber von fadem Pflichtcharakter bestimmten „Fördermaßnahmen“ und „Study-Times“, mit denen mal wieder jeder, der nicht selbst wollte oder kaum konnte, „dort abgeholt werden sollte, wo er stand.“
Ich beherrschte am Ende nur eines sicher: Nie drang mein zunehmendes Unverständnis über das immer absurder verfaßte Bildungssystem als Defätismus oder Zynismus in die Art der Vermittlung und in das Klima der Veranstaltungen ein. Das kostete Kraft, ebenso wie es Kraft kostete, die innere Enttäuschung über den oft genug stockenden Prozeß und die kaum mehr zu belebende Auseinandersetzung – um etwas, für etwas, gegen etwas – irgendwohin abzustauen.
Weil sich im Auditorium an geistiger Bewegung oft genug wenig regte, drehte ich selbst sacht hoch, damit sich überhaupt noch etwas tat, betrieb Exegese, versuchte Inspiration, spürte neues Material auf und wechselte die Perspektiven und Zugänge – das alles, um zum einen Langeweile zu vermeiden, die mich selbst lahmgelegt hätte, und zum anderen, um Inhalte zu sichern, ja gewissermaßen zu bergen.
Angesichts eines statischen Milieus zähen Beharrungsvermögens sah ich mich meist zum vielfach geschmähten Frontalunterricht gezwungen, einer Methode, die verheerend, also militärisch klingt, durch die aber wenigstens Persönlichkeit zu wirken vermag und Sendung möglich ist. Moderner geltende Varianten – Freiarbeit, Gruppenarbeit, sogenanntes handlungsorientiertes und heuristisches Lernen – brachten zu wenig wägbare Ergebnisse oder es fehlte dafür in der Enge die Zeit.
Auf mündliche Kontrollen verzichte ich am Ende ganz, schriftliche choreographierte ich vor, alles der Noten wegen. Denn selbst wer sich für gar nichts interessierte, rechnete doch immer noch seine Schnitte aus, mit Taschenrechner natürlich und auf mehrerer Stellen genau, um sie den zu Haus dräuenden Eltern vermelden zu gönnen, oder gar in der naiven Annahme, die beeindruckende Dezimalzahl wiese auch nur irgend etwas zu seiner Persönlichkeit aus.
Heutzutage werden, wie ich lese, überproportional Einser- und Zweierabis abgelegt. Eine Drei vorm Komma läßt vor diesem Hintergrund auf intellektuelle Defekte oder vollständigen Verzicht auf Engagement schließen. Als Vergleich: Günther Jauch absolvierte das traditionsreiche altsprachliche Gymnasium in Berlin-Steglitz Anfang der Siebziger mit 3,1. Das galt damals als passabel bis durchschnittlich. Man konnte damit so gut wie alles studieren. Wer jedoch heute bei mittlerweile völlig inflationierter Benotung so abschließt, dürfte sich mit Jauch kaum mehr sinnreich unterhalten können.
Stupider Zwang (Zettel raus! Kontrolle!) oder qualifiziertes Entertainment? Ich wählte Letzteres. So mußte ich zwar zwangsläufig mit RTL II und iPhone-Apps konkurrieren, aber konnte wenigstens ehrenwert versuchen, auf spannende Weise die Tiefendimensionen wie die übergreifenden Bögen von Fachinhalten zu zeigen, um hier und da vielleicht die Talentiertesten und Kraftvollen anzuregen und ihnen Fenster aufzustoßen, was hin und wieder durchaus gelang. Manchmal beeindruckend, gar rührend bis schmerzlich zu erleben, wenn sich Gedächtnis oder mindestens Empfindung zu regen beginnen, wenn gar Impulse für das eigene Handeln genutzt werden! Das gibt es! Selten.
Zu zwingen, darauf verzichtete ich seit den späten Neunzigern bzw. seit ich an Privatschulen Dienstleistender an zahlender Klientel war. Außerdem gehört der Zwang nicht in mein Spektrum, obwohl ich selbst aus einer Schule komme, die einen selbstverständlich zu zwingen verstand – in einer Zeit, in der uns das kaum auffiel, weil grundsätzlich alles vormundschaftlich ablief. Oder preußisch: Lehrjahre, hieß es, seien keine Herrenjahre.
Wem in meinem Unterricht Bildung, Leistung und Haltung trotz permanenter Ermutigung egal blieben, der konnte sich zurückgelehnt wenigstens noch gut unterhalten fühlen, zumal er darin sichergehen durfte, daß ihn das System des Abwählens von Fächern und Herausforderungen und die alles optimierende Zahlenmystik der Heraus- und Hochrechnerei von Notenwerten durch die Prüfungen trug, wenn es denn überhaupt noch um Prüfungen im Wortsinne ging. Sich für eine solche zu entscheiden, um gar noch an ihr zu wachsen – heute ganz undenkbar!
Über allerlei Filter und Schalter ist das Abitur mittlerweile nach privaten Bedürfnissen und Konjunkturabsichten einstellbar. Durchzufallen ist technisch freilich möglich (wenngleich bald ein Fall für die Antidiskriminierungsgesetzgebung), allerdings bereitet die dafür erforderliche Verweigerung bald mehr Mühe als die vertrauensvolle Teilnahme am Prozeß des Durchziehens von all und jedem. Daß einer sagte, er entscheide sich eigens für eine Prüfung in Philosophie, weil er sich etwas beweisen und Einblicke vertiefen wolle – nie gehört.
Wollte man als Lehrer auf die üblichen Erpressungen und Nötigungen verzichten, benötigte man dazu eine trainierte Kondition, die von der Durchschnittsbesatzung der Kollegien nicht zu verlangen ist. Glücklicherweise hielt ich einen Halbmarathon ähnlich stabil durch wie einen Unterrichtstag. Ich gab mich preis, aber ich nahm es sportlich, mit der bisweilen fatalen Folge, daß sich die Schüler auf mich verließen. Mit dem zweifelhaften Erfolg, daß ich tatsächlich nur die Konstante der knapp fünf Prozent langfristig und tiefer Interessierten erreichte, die jedoch direkt. Ich räumte ihnen meinen Bücherschrank leer und nahm mir außerhalb der Zwangsvereinnahmungen Zeit. Der betreute Durchschnitt aber, der heute die sogenannten Gymnasien flutet, blieb mir wohlgesonnen, weil ich ihn ganz erwartungsgemäß mit durchbenotete, fand mich sogar ganz okay, bewunderte gar auf seine Weise, daß sich da ein Mann mit Themen, Fragen, Problemen abrackerte, mit denen für einen Hipster und Medienuser so verdammt wenig anzufangen war, obwohl das da vorn zuweilen richtig gewitzt bis provokant klang.
Kurz vorm Abschied bat ich eine zehnte Klasse, mir bitte umgekehrt etwas zu zeigen, etwas mitzubringen, was sie echt begeistert. Ja, sie hätten da was. Ich war gespannt. Und sie zeigten mir ein paar Episoden von “How I met your mother”. Ich sah mir das höflich an, registrierend, daß man es, wollte man mit Literatur konkurrieren, schwerhaben mußte.
Was ich hinbekam: Non multa. Ich blieb in recht netter Erinnerung. Kein schlechter Kerl, sichtlich ja engagiert, zuweilen ein grantelnder Polterkopf, ein eifernder Publikumsbeschimpfer, der aus allzu augenfälliger Ignoranz unprofessionell eine private Sache machte, die ihm verdammt gegen den Strich ging, dabei aber fair, ja gutherzig, politisch wohl mehr als zwielichtig; aber was wußte man schon von Politik? Jedenfalls keinen je denunzierend oder reinreitend. Jemand, der mit fremden, sehr antiquierten Stoffen umging. Dabei aber mitten in der ziemlich uncoolen Schule doch ziemlich cool.
Aber das reicht mir nicht! Also soll Schluß sein. Ich gebe auf – ausgereizt, aber gänzlich unvergnatzt, nicht mal desillusioniert, sogar zuversichtlich, erfrischt statt ausgebrannt. – Der „Bildungsbetrieb“ geht unweigerlich weiter, zunehmend marktorientiert und mit all seinen politischen Werbeoffensiven, Schule wäre nicht nur der tollste und demokratischste Ort, sondern das Lust- und Freudvollste schlechthin. Niemand mutet sich zu, kritisch darüber nachzudenken, warum die Schule bei all ihrer neuen Kunterbuntheit, immer noch vor allem langweilt, kränkt und frustriert. Auch mit der Ausstellung ungedeckter Schecks wird sie sich nicht anbiedern können.
Ich verzichte auf den Komfort regelmäßiger Einkünfte zugunsten des Luxus’, keinen Etikettenschwindel mehr betreiben zu müssen. Wer in meinem Unterricht sehr gut war, kommt allein zurecht, wen ich durchbetrog, der wird von den Kollegen weiter durchgereicht werden.
Und die „Gesellschaft“? Keine Sorge! In ihr wird sich dort, wo es – selten genug! – wirklich darauf ankommt, weiterhin das Talent durchsetzen. Wie immer. Wie historisch schon vor der Schulpflichtgesetzgebung und all den Fördervereinbarungen. Und wenn es sich tatsächlich mal um ein Talent handeln sollte, wird dem die Schule ohnehin nicht so entscheidend weiterhelfen können, wie sie es geradezu heilsbringend stets verkündet. Sie bleibt das, was sie kulturgeschichtlich immer war – eine notwendige Institution, der die Interessierten hier und da etwas verdanken, ein Ort, über den man aber mit vollem Risiko hinauswachsen muß. Lehrern gelingt das oft gar nicht, mir selbst recht spät.
Aber sicher: Es gibt die Anzuregenden, die Klugen, die Interessanten, die sympathisch Sonderbaren und die mutig Renitenten. Sie sind zu unterstützen, zu bilden, zu verfeinern – dies läuft aber nicht mit dem System, sondern trotz des Systems oder diametral ihm entgegen. In mancherlei Hinsicht ist Schule heute eher etwas für die Förderbedürftigen; die starken Köpfe und sensiblen Geister sind gut beraten, sich möglichst außerhalb oder parallel zu versorgen – mit den richtigen Stoffen und Leuten.
Zweiundzwanzig Jahre Lehre liegen hinter mir. Zum Schluß war ich noch Honorarlehrer und so wenigstens von den Sitzungen befreit. Vielleicht bin ich erwachsen geworden. Unvertrauert spüre ich: Die Schule ist nicht mehr mein Ort. Ich fühlte mich dort am Ende sehr fremd, ja als absurde Existenz.
Albert
Lieber Herr Bosselmann,
heißt das, Sie kündigen Ihren Beruf?
Was denn nun? Sie sind doch ein Lehrer par excellence! Wollen Sie den Lehrerberuf gänzlich an den Nagel hängen?
Und nun?
Ihre Idee einer bündischen Privatschule finde ich immer noch toll und denke oft daran (auch wenn manche Ideale, die Sie einmal in Ihrem Blogeintrag beschrieben, vielleicht zu hochgestochen und alltagsuntauglich sind). Sie wären dafür die ideale Besetzung. Ich habe nur Zweifel an der praktischen Umsetzbarkeit einer solchen Schule.
P.S.: Immer, wenn ich das neumodisch verunstaltete Freibad in meiner ostdeutschen Heimatstadt besuche, muss ich an Ihren sehr treffenden Beitrag denken, in dem Sie beschrieben, daß heute kein Mensch mehr richtig schwimmen will - alle wollen nur noch in Spaßbädern hin- und hergeschaukelt werden.
Ich vermute, für ein bündisches Internat fänden sich nicht genug "Schwimmer" geballt an einem Ort.