Ein Vierteljahrhundert habe ich dort gelebt. In meiner Kindheit war es ein Idyll, rundum viel Natur und Brache, gegenüber vom Haus der Schloßpark, dahinter der Main. 4000 Einwohner, ein stadtnahes Dorf. Heute sind es über 5000, die Brachen sind verschwunden, diverse Neubaugebiete wurden erschlossen.
Der Ausländeranteil ist für Offenbacher Verhältnisse nach wie vor extrem niedrig, er liegt unter 10%. Der Stadtteil ist dreigeteilt: Im alten Ortskern sowie in den frühen Neubaugebieten aus den sechziger und siebziger Jahren wohnen ausschließlich autochthone Deutsche der Mittelschicht. Die Population der aktuellen Neubaugebiete deckt ein breiteres Spektrum ab. Es gibt einerseits superschmale Reihenhäuser ohne kunstvolle Mülltonnenverkleidungen und ohne Blumenrabatten, an deren Klingelschildern großteils fremdstämmige Namen zu lesen sind, sowie kreativ geschmückte, größere Häuser mit dickeren Autos davor, die Namensschilder verraten, daß dort oft Eigentümer mit Doktortitel wohnen. Daneben gibt es einige vier– bis sechsstöckige Betonklötze; sozialer Wohnungsbau, hier wohnen die, die aus anderen Ländern zugezogen sind.
Heute bin ich ein häufiger Gast in meinem Elternhaus. Gestern durchquerte ich, rein zufällig, gleich zweimal zu den beiden Hofpausen mit vieren meiner Kinder den Schulhof der örtlichen Grund- Haupt- und Realschule. Wir fielen auf, nicht allein als Schulfremde, sondern als haufenweise auftretende Hellblonde. Das kennt man dort nicht. Uns wurde hinterhergeschaut, es wurde gestarrt. Einer rief: „Boah, wie Hitler, ey!“ Eine zugegeben grandiose Assoziationsfähigkeit. Wir fünf, das muß vielleicht betont werden, waren in keiner Weise folkloristisch gekleidet.
Zu meiner Schulzeit hatte ich an derselben Schule zwei Ausländer in der Klasse. Als ich anderthalb Jahrzehnte später kurze Zeit selbst an dieser Schule unterrichtete und aus erster Hand mitbekam, wie multikulturalitätsbedingte Probleme übereifrig unter den Teppich gekehrt wurden (ein Zigeunervater bedroht den Rektor mit einem Messer: „Bloß nicht an die große Glocke hängen!“; Serbenmutter spricht Todesdrohungen aus: „Die Frau redet viel“; durchgefallene Hauptschüler randalieren Autos: „Wie können wir ihnen eine Freude machen, daß die Bildungsverlierer dieses Jahr psychisch nicht so durchhängen?“), stellten deutsche Schüler schon die Minderheit. Die Kollegen fanden´s im Grunde gut: „Wären die vielen Ausländer nicht, hätten wir keine Arbeit mehr.“
Gestern habe ich nur vereinzelte Schüler gesehen, die offenkundig ohne Migrationshintergrund waren. Fast ausschließlich tiefschwarzhaarige mit dem üblichen Slang, Mädchen mit Kopftuch, einige Male die türkische Fahne auf Schultaschen. „Senorita, brauchen Sie noch ein Kind?“, rief mir ein Schwarzgelockter höflich hinterher, er stünde „zur Verfügung“.
Wie gesagt, mein Stadtteil hat einen sehr niedrigen Ausländeranteil. Wenn in zehn Jahren die vielen Alten gestorben sind, die die Deutschenquote bislang hochtreiben, und in 30 Jahren die sehr vielen mittelalten Deutschen mit ihren 1,3 Kindern, die wiederum nicht viel in Offenbach halten wird, wird sich die Statistik auch hier völlig verändert haben.
Vom Schulhof aus zog ich mit den meinen durch die leeren, ordentlich gefegten Straßen des „alten“, urdeutschen Ortsteils zu meinem Elternhaus. Kein Mensch war unterwegs, wir machten uns breit auf dem Bürgersteig, zu fünft, wir machten Quatsch. Da kam doch einer, an einer Ecke. Die typisch deutsche Thujagrundstücksumrandung verdeckte uns, wir stießen quasi aufeinander. Ein junger Rentner, dick, deutsch und häßlich. Es war kein realer Zusammenprall, nur ein verbaler. Denn wir hinderten ihn am problemlosen Um-die Ecke-biegen.
Es dauerte wohl zweieinhalb Sekunden, den Gehsteig freizumachen. Ihm hat´s den Tag versaut. Fluchte, gleich hochrot: „Könnse die Brut nicht mal ordnen? Unmöglich! Wie die Karniggel!“ In meinem Stoffbeutel waren eine Flasche und zwei Bücher. Sie hätten so gut auf den Wanst gepaßt, nein, ich muß es sagen: direkt ins Antlitz hinein, in die Fresse einer ganzen Generation. Aber, ach, es ist ja Fastenzeit. Mäßigung. Und die Kinder dabei. Ich beschränkte mich drauf, herablassend und kurz etwas sehr Unschönes zu entgegnen, während meine Hände und die der größeren Tochter sich flugs auf die Ohren der beiden Kleinsten legten.
„Unter Hitler wärn asoziale Sippen wie Sie im Knast gelandet“, so schallte es grammatisch und inhaltlich interessant zurück. Mein Stoffbeutel begann heftig zu baumeln, er konnte nicht anders.
„Mama, zweimal der Hitler und wir, an einem Vormittag“, lachte da mein Sohn, und der Flasche-Bücher- Beutel drehte eine Runde, nur so zum Spaß, und noch eine. „Gell, Mama, man kann´s so drehen, daß nichts rausfällt, obwohl es doch eigentlich rausfallen müßte!“ Meine Sechsjährige hat das erkannt, was wir als eine Trägheitskraft kennen.
Gottfried
"Traurig, traurig, traurig" ....
Kam vor einigen Monaten mal am Fußballplatz meines Geburtsstadtteiles vorbei, kein einziger Blondschopf unter den elf Mannen, kein Spieler dabei, den ich auch nur entfernt als Landsmann wahrgenommen hätte.
Erinnere mich dabei noch an die Gesichts- und Wesenszüge des ersten Ausländers überhaupt, ein junger italienischer Arbeiter, der sich dort in den 60ern niedergelassen hatte. Ein lustiger dauergrinsender Geselle, Sensation und Gesprächsthema für Wochen, mehrheitlich nach einer gewissen Beobachtungsphase für "ganz in Ordnung" befunden.
Dann gab es noch ein, zwei Kilometer weiter ein Wohnwagenlager der Zigeuner. Mag sein, daß es über diese hier und dort negative Urteile gegeben hat, daß es auch negative Vorfälle gab. Grundgefühl als Kind, das die unendlich fremd waren. Ein wenig so, als wären mit deren vier oder fünf Kindern, die man aus sicherer Ferne auf dem Schulhof beäugte, Marsmenschen auf Erden gelandet.
Jeglicher Vergleich wäre müßig gewesen, das humanistische Gleichheitsdiktat, zumal unter Kindern, hatte sich damals eben noch nicht durchgesetzt.
Mal als kleine Detailkritik an dem exzellenten Artikel: "Authochthonie", das klingt ja noch negativer als Bluthochdruck. "Nasses Wasser", "autochthone Deutsche", müssen wir das Vokabular des Feindes weitertragen, indem wir es selber verwenden?