wenn auch im Laufe der Jahre die Zündkraft der Neuentdeckungen schwächer wird. Wäre mir nun Egon Friedells “Kulturgeschichte der Neuzeit” bereits mit 20 Jahren in die Hände gefallen, ich wäre wohl in schiere Ekstase geraten.
Schuld an meiner verstockten Ignoranz war die Empfehlung meines grünen Geschichtelehrers, die mir das Buch in ein eher zweifelhaftes Licht setzte – stattdessen las ich lieber Spenglers “Untergang des Abendlandes”. Damals ahnte ich nicht, wie geistig nahe sich die beiden etwa gleichaltrigen “Kulturphilosophen” standen. In der Tat findet Friedell in der Einleitung zu seinem dreibändigen Mammutwerk hymnische Worte für Spenglers Buch.
Freilich gibt es auch große Unterschiede zwischen beiden Autoren – gemeinsam ist ihnen allerdings der Panoramablick auf die Weltgeschichte als großes, ewig wechselndes Schauspiel, in dem der schöpferische Geist Vorrang vor der Materie hat. Vergleichbar ist auch ihre stark “visuelle”, dramatisierende Art der Darstellung und ihr Hang zu scharfen und mitunter eigenwilligen Wertungen.
Der zum Christentum konvertierte Jude Friedell sah allerdings im Gegensatz zu Spengler mit Hoffnung und Optimismus auf die Krise des Abendlandes: im Schlußwort zu seinem Hauptwerk verkündete er die baldige Überwindung des Materialismus und den lichtvollen Aufstieg eines neuen Kapitels des europäischen Geistes. Leider war es Spengler, der Recht behalten sollte; beide Männer starben kurz vor der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.
Friedell ist neben Joseph Roth und Elias Canetti ein lange vernachlässigter Stern, der mir erst in jüngerer Zeit aufgegangen ist. Alle drei sind österreichische Schriftsteller jüdischer Herkunft, die gemeinhin nicht als “Konservative” wahrgenommen werden. Und doch trägt ihr Werk zum Teil stark konservative Züge: Roth wandte sich dem Katholizismus und Monarchismus zu, Canettis “Masse und Macht” ist von einem tiefen anthropologischen Pessimismus geprägt, und auch Friedell war alles andere als ein Linker: sein Werk huldigt den Taten der Genies und “großen Männer”, rechnet scharf mit Sozialismus und Psychoanalyse ab und steht dem Fortschrittsglauben überaus skeptisch bis bissig-kritisch gegenüber.
Friedells Ende war tragisch: aus Furcht vor der Gestapo stürzte er sich 1938 aus dem Fenster seiner Wohnung. Wenn der Nationalsozialismus nichts anderes als den vorzeitigen Tod Friedells auf dem Kerbholz hätte, würde das allein schon ausreichen, um ihn auf ewig zu verdammen.
Die unendlich reiche Schatztruhe der “Kulturgeschichte” gebührend zu würdigen, würde den Umfang eines Blogbeitrags sprengen. Darum nur ein Friedell-Fundstück, das mir besondere Freude gemacht hat. 1922 rezensierte Friedell das Buch “Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft” (1917/19), eines der Hauptwerke meines Hausheiligen Hans Blüher, dem umstrittenen Deuter des “Wandervogel” und “enfant terrible” unter den nach Armin Mohler “kategoriensprengenden Autoren” der Konservativen Revolution.
Dieser hatte die kühne, in ihrer Radikalität und Einseitigkeit aber gewiß schwer verstiegene These aufgestellt, daß die (zugegeben recht weit gefaßte) Homoerotik die treibende kulturelle Kraft der Menschheit schlechthin sei, in den Worten Friedells “die Wurzel fast allen Hohen und Tiefen, Edlen und Vorwärtsdrängenden, das bisher in unserer Geschichte hervorgetreten ist.”
Friedell zeigt sich nun betont “homophob” (das würde ich heute gern meinem grünen Geschichtslehrer unter die Nase reiben), was offenbar schon damals als etwas rückständig galt:
… ich gehöre zu jenen sonderbar veranlangten Menschen, die, wenn sie Worte wie “Päderastie” oder “Urning” auch nur gedruckt lesen, bereits Übelkeiten bekommen.
Andererseits räumt er ein, daß offenbar “eine Reihe der größten Künstler und Denker, Staatsmänner und Forscher in irgendeiner Weise zur Inversion geneigt haben”.
Zunächst sträubt sich ja unser Gefühl, das nun einmal unheilbar “bürgerlich” funktioniert, gegen dieses Faktum. Aber es ist in der Tat kaum zu bezweifeln. Ich meinte einmal zu Klimt, daß die Geschichten über Michelangelos Homosexualität doch höchstwahrscheinlich auf einer Art Tratsch beruhen dürften, wie er sich um jeden geheimnisvollen und verwickelten Menschen anzusetzen pflegt. Aber Klimt schüttelte den Kopf und antwortete, von diesen Geschichten wisse er nichts, aber aus der Kunst Michelangelos gehe dessen Homosexualität ganz klar hervor. “Denn”, sagte er, “wenn einer einmal zu malen anfangt, so kommt alles auf.”
Nun aber zur lustigsten Stelle der Rezension:
Aus Blühers Werken geht ganz unzweideutig hervor, daß die gesamte Wandervogelbewegung ein erotisches Phänomen ist (dies gilt allerdings nur für Deutschland, nicht für Österreich, weil bei uns ja bekanntlich alles verschlampt wird). Blüher macht nicht den geringsten Versuch, dieses Faktum zu leugnen, sondern reiht es vielmehr triumphierend als ein wichtiges Beweisstück in sein System ein.
Dieser Tatbestand entbehrt nicht gewisser ergötzlich grotesker Züge. Man stelle sich diese harmlosen Tölpel von Oberlehrern vor, wie sie mit ihrem Phrasengedresch von deutscher Heimatliebe, Wanderlust und Ertüchtigung zu dieser Bewegung ermuntert haben, und schließlich entpuppt sie sich als ein systematisch organisiertes Institut zur Beförderung und Ausbreitung der Päderastie. Ich wenigstens kann eine kleine Schadenfreude darüber nicht unterdrücken, daß der Versuch, den Menschen schon in den Knabenschuhen zum Vereinsmeier, Turnbruder und Schweißfußpatrioten zu machen, ein so überraschendes Resultat ergeben hat.
Eine Einschätzung, der der betont deutschnationale Blüher nicht widersprochen hätte: denn was Friedell hier beschreibt, war ihm das verhaßte “Volk der Plattfußindianer”, das nur verspießerte und biedere Zweckmäßigkeiten kennt, gegen die er den Mythos (und mehr – oder weniger – war es wohl nicht) einer romantischen Revolte aus dem Geist des Eros und des Überschwangs zu setzen versuchte.