erschien in der taz ein recht interessanter Artikel, der unter anderem die Frage nach den Bedingungen und dem Sinn des kollektiven historischen Gedächtnisses aufwirft.
Das Gewaltsystem, in dem seit 1930 Millionen massakriert, erschlagen, durch Hunger vernichtet und erschossen worden waren, kam fast zum Stillstand. Kinder, Kleinkriminelle, Behinderte, Leute, die willkürlich auf der Straße verhaftet wurden, Generäle, Bolschewisten, Bauern und auch Henker und deren Auftraggeber selbst waren diesem System zum Opfer gefallen. Noch nie hatte ein Regime die eigene Gesellschaft mit einem solchen entfesselten, unkalkulierbaren Terror überzogen. Dieses System ging am 5. März 1953 unter.
Der Autor hebt jedoch hervor, daß die “Entstalinisierung” zumindest auf der Symbolebene auf halbem Wege steckengeblieben ist: während einige Henker wie der berüchtigte Berija selbst gerichtet wurden, kam der Großteil der Täter ungeschoren davon. Viele Opfer wurden niemals rehabilitiert, und wenn es nach der Regierung der Sowjetunion gegangen wäre, wäre der Tod von Millionen Menschen als bloßer Kollateralschaden der Geschichte in die Ecke des Vergessens abgeschoben worden.
Besonders bemerkenswert ist das Schlußwort des Autors:
Der Gulag ist nicht Teil des universellen Gedächtnisses geworden, so wie das NS-System. Es gibt keinen mit Spielbergs „Schindlers Liste“ vergleichbaren Film über den niedergeschlagenen Aufstand in Workuta im Sommer 1953. Es gibt keinen mit Claude Lanzmanns „Shoa“ vergleichbaren Versuch, das Sichtbare und das Unsichtbare des Verbrechens zu zeigen. Es gibt kein dem Tagebuch der Anne Frank vergleichbares Zeugnis, das zum Erinnerungsrepertoire des 20. Jahrhundert gehört.
Die Verbrechen des Stalinismus sind weitgehend gesichts- und namenlos geblieben, ohne Reliefabdruck im kollektiven Gedächtnis, ohne Identifikationsfiguren, ohne ästhetische Debatten, wie das Unaussprechliche zu formulieren ist.
Man mag diese narrative Leere als letzten Erfolg des stalinistischen Versuchs sehen, die Opfer auszuradieren.
Wie die Kommentarspalten zeigen, haben Sätze wie diese neben vielen positiven Stimmen unter einigen Lesern der taz erhebliche Irritation hervorgerufen, die darin natürlich, wie die Phrase lautet, eine “Relativierung des Holocaust” und ähnliches wittern. Bei manchen Kommentaren fragt man sich allerdings, ob sich hier wirklich Alte-Schule-Kommunisten zu Wort gemeldet haben, oder ob sie eher parodistisch gemeint sind.
Eine wahrlich aberwitzige Debatte. Für über 90 Prozent der Sowjetbürger war die Zeit Stalins ein Aufstieg in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht. Die Umerziehung und der rote Terror war durch die Massen gewollt. Warum sollten sie den Gulag mit konterrevolutionären Einrichtungen wie den deutschen Kzs gleichsetzen? Seltsame Vorstellung.
Den Mangel an Bildern und Erzählungen über den stalinistischen Terror und seine Folgen für die historische Bewußtseinsbildung habe ich in meinem Kaplaken-Band “Besetztes Gelände” (2010) thematisiert. Die entsprechende Passage in meinem Buch ist der zitierten des taz-Autors Stefan Reinecke so ähnlich, daß es sich dabei vielleicht um keinen Zufall handelt:
Josef Stalin wird der Satz zugeschrieben, daß der Tod eines einzelnen Menschen eine Tragödie, der von Millionen aber bloß eine Statistik sei. Dem Regimes Mao Tse-Tungs wird eine astronomische Zahl von fünfzig bis siebzig Millionen Opfern zur Last gelegt, mehr als doppelt so viele, wie den ungleich berüchtigteren Jahrhundertschurken Hitler und Stalin zusammen zugeschrieben wird. Eine ungeheuerliche Summe, die uns jedoch kalt und unbeteiligt läßt. Wir haben keine konkreten Vorstellungen über das Warum und Wie und Wo des Schicksals dieser zahllosen anonymen Menschen zur Verfügung. Bei dem Schlagwort „Auschwitz“ dagegen tauchen auf der Stelle abrufbare, zum Teil zum visuellen Klischee gewordene, schreckliche Bilder auf.
Um vieles blasser, aber bereits erheblich faßbarer als die fernen chinesischen Greuel sind die Bilder, die auftauchen, wenn wir Namen wie Workuta oder Norilsk hören, die nur wenigen Menschen ein Begriff sind. Der GULag-Komplex ist in unserem Kopf mit keiner Ikonographie verknüpft, die jener der NS-Konzentrationslager vergleichbar wäre. Vor allem aber haben die Zahlen, Statistiken und Fakten, die wir bei Stéphane Courteois und anderen Autoren nachschlagen können, kein menschliches Gesicht. Wir sehen allenfalls das Tolstoi-Haupt Solschenizyns vor uns, aber die Opfer sind ebenso anonym wie die Täter: keine zu Ikonen erhöhte unschuldige Kinder wie Anne Frank oder der kleine Junge mit erhobenen Händen aus dem Warschauer Ghetto, kein Oskar Schindler und kein Amon Goeth, keine Bilder von Henkern wie Jagoda, Kaganowitsch oder Beria.
Ein zum Bewältigungs-Klischee gewordener Satz aus der jüdischen Überlieferung lautet: “Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Aber wessen Erinnerung ist damit gemeint? Streng genommen kann es so etwas wie ein authentisches Erinnern außerhalb des eigenen subjektiven Erlebens nicht geben, und das Gedächtnis des Einzelnen ist fragil, veränderlich, dem Schwund und Schwindel der Zeit unterworfen. Außerhalb dessen muß man sich auf die Erinnerungen derer stützen, die Dokumente und Berichte hinterlassen haben, die man mit Szenen aus dem Kopfkino füllt, wie beim Lesen eines Romans.
Historische Erinnerung bedeutet im Grunde nichts weiter als die Erinnerung an Fakten, die man in der Schule gelernt hat, an Überreste, die man gesehen, an Menschen, die man gekannt hat, vor allem aber die Erinnerung an über Bücher und Filme vermittelte Bilder, die dann am stärksten haften bleiben, wenn mit ihnen ein emotionales Erlebnis verbunden ist. Gemünzt auf das Bild, das Goebbels’ Kameraleute vom Dritten Reich produzierten, schrieb Anton Kaes: „Was nicht gefilmt wurde, hat es auch nicht gegeben,“also etwa Verbrechen, Leiden und Widerstand. Man könnte ergänzen: auch das, was später nicht filmisch rekonstruiert wurde, hat es nicht gegeben, zumindest nicht im kollektiven Bewußtsein der Nachwelt.
Ein wesentlicher Punkt meines Buches ist die Erkenntnis, daß es soetwas wie ein “neutrales” und restlos “objektives” historisches Narrativ eigentlich nicht gibt, und daß jedes Narrativ “etwas will” von seinem Publikum:
Selbst der nüchternste Historiker muß etwas von einem Dichter im Blut haben, um seine Fundstücke zu einer überzeugenden Erzählung zu bündeln. Vom Geschichtswissenschaftler zum Geschichtenerzähler ist es oft nur ein kleiner Sprung. Der Propagandist bewegt sich am äußersten Rand dieses Geländes: er hat die Aufgabe, die Bilder und Geschichten zu finden, die aufputschen, erschüttern und überreden sollen, wobei er die Übertreibung, die Verzerrung oder gar die Lüge in Kauf nimmt.
Wo aber gänzlich darauf verzichtet wird, die Geschichte auch über „Geschichten“ zu erzählen, hört sie auf, eine moralische, mobilisierende oder identitätsstiftende, also: politische Wirkung zu entfalten. Insofern ist der zumeist an eine politische Adresse gerichtete Vorwurf einer „Instrumentalisierung“ der Geschichte zu kurz gegriffen. Gemeint ist in der Regel nämlich vor allem eine subjektiv „falsche“ Instrumentalisierung, die eben den politischen Wünschen desjenigen, der den Vorwurf macht, nicht entspricht.
Schöner und auch radikaler hat dies Egon Friedell in seiner “Kulturgeschichte der Neuzeit” (1928–31) beschrieben:
Viele Geschichtsforscher haben daher ihre Ansprüche noch mehr herabgesetzt und vom Historiker bloß verlangt, daß er den jeweiligen Stand unserer Geschichtskenntnisse völlig objektiv widerspiegle, indem er sich zwar der allgemeinen historischen Wertmaßstäbe notgedrungen bedienen, aber aller persönlichen Urteile enthalten solle. Aber selbst diese niedrige Forderung ist unerfüllbar. Denn es stellt sich leider heraus, daß der Mensch ein unheilbar urteilendes Wesen ist. Er ist nicht bloß genötigt, sich gewisser »allgemeiner« Maßstäbe zu bedienen, die gleich schlechten Zollstöcken sich bei jeder Veränderung der öffentlichen Temperatur vergrößern oder verkleinern, sondern er fühlt außerdem den Drang in sich, alle Tatsachen, die in seinen Gesichtskreis treten, zu interpretieren, zu beschönigen, zu verleumden, kurz, durch sein ganz individuelles Urteil zu fälschen und umzulügen, wobei er sich allerdings in der exkulpierenden Lage des unwiderstehlichen Zwanges befindet.
Nur durch solche ganz persönliche einseitige gefärbte Urteile nämlich ist er imstande, sich in der moralischen Welt, und das ist die Welt der Geschichte, zurechtzufinden. Nur sein ganz subjektiver »Standpunkt« ermöglicht es ihm, in der Gegenwart festzustehen und von da aus einen sichtenden und gliedernden Blick über die Unendlichkeit der Vergangenheit und der Zukunft zu gewinnen. Tatsächlich gibt es auch bis zum heutigen Tage kein einziges Geschichtswerk, das in dem geforderten Sinne objektiv wäre. Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch große Schwierigkeiten machen: denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.
Rankes Vorhaben, er wolle bloß sagen, »wie es eigentlich gewesen«, erschien sehr bescheiden, war aber in Wahrheit sehr kühn und ist ihm auch nicht gelungen. Seine Bedeutung bestand in etwas ganz anderem: daß er ein großer Denker war, der nicht neue »Tatsachen« entdeckte, sondern neue Zusammenhänge, die er mit genialer Schöpferkraft aus sich heraus projizierte, konstruierte, gestaltete, kraft einer inneren Vision, die ihm keine noch so umfassende und tiefdringende Quellenkenntnis und keine noch so scharfsinnige und unbestechliche Quellenkritik liefern konnte.
Denn man mag noch so viele neue Quellen aufschließen, es sind niemals lebendige Quellen. Sobald ein Mensch gestorben ist, ist er der sinnlichen Anschauung ein für allemal entrückt; nur der tote Abdruck seiner allgemeinen Umrisse bleibt zurück. Und sofort beginnt jener Prozeß der Inkrustation, der Fossilierung und Petrifizierung; selbst im Bewußtsein derer, die noch mit ihm lebten. Er versteinert. Er wird legendär. Bismarck ist schon eine Legende und Ibsen ist im Begriff, eine zu werden. Und wir alle werden einmal eine sein. Bestimmte Züge springen in der Erinnerung ungebührlich hervor, weil sie sich ihr aus irgendeinem oft ganz willkürlichen Grunde besonders einprägten. Es bleiben nur Teile und Stücke. Das Ganze aber hat aufgehört zu sein, ist unwiederbringlich hinabgesunken in die Nacht des Gewesenen. Die Vergangenheit zieht einen Schleiervorhang über die Dinge, der sie verschwommener und unklarer, aber auch geheimnisvoller und suggestiver macht: alles verflossene Geschehen erscheint uns im Schimmer und Duft eines magischen Geschehens; eben hierin liegt der Hauptreiz aller Beschäftigung mit der Historie.
Jedes Zeitalter hat ein bestimmtes nur ihm eigentümliches Bild von allen Vergangenheiten, die seinem Bewußtsein zugänglich sind. Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Alle Geschichte ist Sage, Mythos und als solcher das Produkt des jeweiligen Standes unserer geistigen Potenzen: unseres Auffassungsvermögens, unserer Gestaltungskraft, unseres Weltgefühls.
Gottfried
Man stellte sich einmal, der Humanismus zwischen UNESCO und Hollywood-Dreamworks und all seinen "Menschen"rechts-Paragraphen gegen Gedankenverbrechen ("hate speech") wäre nicht allmächtig.
Zu all den "black studies", "gender studies", "jewish studies" usw. kämen ergänzend "white studies" hinzu.
Das Geschichtswissen breiter Massen nähme zu, was z.B. das Zusammentreffen von Lew Bronstein mit Jacob Schiff anbelangt zwecks Finanzierung des Staatsstreiches und Eliminierung der Herrschaft der Romanows. Millionen wüßten um die Erfindung des Gulag-Systemes durch Naftali Frenkel. Millionen wäre Lazar Moiseyevich Kaganovich, den man "Schlächter der Ukraine" nannte, bekannt.
Beim Moskauer Mösenkrawall ("pussy riot") in der rekonstruierten Kathedrale des Erlösers hätte jeder aufgrund seines Wissens sofort die Sprengung selbiger durch Kaganovich assoziiert. "Jetzt habe ich Mutter Rußland den Rock heruntergerissen" frohlockte er damals triumphierend auf den Trümmern.
Neben diesem Wissen dann vielleicht noch eine Riesenfilmindustrie, die Geschichtliches nicht aus schwarzer Perspektive ("Amistad"), nicht aus antiweißer Perspektive ("Django Unchained"), sondern aus weißer Perspektive beleuchtete.
Ein "blockbuster" z.B., der die Geschichte Apfelbaums ("Zinoviev") nachzeichnete, von seiner Ankündigung 1918, daß zehn Millionen Russen vernichtet werden müßten, bis er dann im August 1936 neben seinem Kampfgefährten Rosenfeld ("Kamenew") nach dem "Prozeß gegen die Sechzehn" hingerichtet wurde.
Es gibt schon Gründe, warum es keine weiße Geschichte gibt. Und es wäre mehr als albern, wenn wir unter einer kitschigen Berufung auf "Gerechtigkeit", die es auf Erden niemals gab und niemals geben wird, wenn wir ausgerechnet von unseren Feinden erwarteten, daß diese uns doch unsere weiße Geschichte verehren sollten.
Wenn, dann können wir unsere Geschichte nur selber schreiben.