In Todesnähe: David Wagner erhält Preis der Leipziger Buchmesse

von Heino Bosselmann

Mit seinem aus zahlreichen Einzelstücken zusammengesetzten  Prosawerk "Leben" hat David Wagner ein starkes Buch geschrieben,...

das den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­dient. Mehr noch, das Werk erscheint für die Gegen­wart sym­pto­ma­tisch. Sym­pto­ma­tisch in sich selbst wie mit Blick auf Erwar­tun­gen, die Juro­ren und Publi­kum an Lite­ra­tur haben. Beschrie­ben wird die Geschich­te einer Lebertransplantation.

Mit Kath­rin Schmidts zwei­fach preis­ge­krön­tem „Du stirbst nicht“ wur­de 2009 gleich­falls eine bedroh­li­che Krank­heit the­ma­ti­siert, damals ein Schlag­an­fall, damals eben­falls der Weg ins Leben zurück, damals durch das Neu­er­ler­nen der Spra­che. (Ein wei­te­res Buch die­ses wach­sen­den Kanons zu Krank­heits­the­men – eben­so erfolg­reich, eben­so preis­ge­krönt – ist Arno Gei­gers „Der alte König in sei­nem Exil“.)

Zulau­fen auf den bedroh­li­chen Tod, den Durch­gang vor Augen haben, heim­keh­ren dür­fen ins Leben – gewis­ser­ma­ßen dra­ma­ti­sche Wie­der­ge­bur­ten also, die da erzählt wer­den. In David Wag­ners Fall: Leben und Leber bil­den eine alte, eine mythi­sche, ja pro­me­t­heisch auf­zu­fas­sen­de Ein­heit. Wie­der­um also die Auto­bio­gra­phie als pro­to­kol­lier­te Krank­heit und exis­ten­ti­el­le Dra­ma­tik. Ohne Zwei­fel les­bar, ja lite­ra­risch wert­voll, weil unge­wöhn­lich, in Facet­ten geschnit­ten, erzählt, aber doch auch ein Zei­chen für den Gegen­warts­ge­schmack ganz all­ge­mein. Die Krank­heit avan­ciert in der über­al­tern­den und bald geron­to­lo­gi­schen Gesell­schaft offen­bar zum Leitmotiv.

Das Publi­kum mag auch dies­be­züg­lich das „Authen­ti­sche“. Eine Bezeich­nung, die mitt­ler­wei­le infla­tio­niert, weil das, wofür sie steht, im Zeit­al­ter des Auraver­lus­tes mehr denn je ver­mißt und daher über­all gesucht wird. Und was könn­te authen­ti­scher sein als der eige­ne Kör­per, gera­de wenn die Ängs­te um sei­nen Ver­lust die Emp­fin­dun­gen und das Den­ken regie­ren? Phy­sis, Exis­tenz und Gesund­heit als letz­ter eigent­li­cher Besitz – inne­res, nächs­tes Selbst. – Mit der neu­en Leber ist zwar das Leben geret­tet, dies jedoch, wie stets, als Pro­blem: Ein frem­des Organ erhält den Hel­den; der ringt damit, nach der Trans­plan­ta­ti­on zwangs­läu­fig ein Misch­we­sen zu sein.

Die auf­fal­len­de Bevor­zu­gung der Krank­heit als authen­ti­sches Erleb­nis und ästhe­ti­sche Auf­ga­be läßt sogleich an Tho­mas Manns „Zau­ber­berg“ den­ken und an die dar­in the­ma­ti­sier­te End­zeit der vor­letz­ten Jahrhundertwende.

Die Krank­heit der Pati­en­ten­ge­mein­schaft („Ver­ein Hal­be Lun­ge“) sym­bo­li­siert die kul­tu­rel­le, poli­ti­sche und ideel­le Mor­bi­di­tät der Gesell­schaft ins­ge­samt, illus­triert die Selbst­wahr­neh­mung des inne­ren Abster­bens, des Aus­ge­lebt­seins, des Dahin­sie­chens. Hin­term schö­nen Schein der „Bel­le Epo­que“ wim­meln die Tuber­keln, lau­ert die Deka­denz, gärt der Ver­fall. Madame Chauchat, „inner­lich wurm­sti­chig“, zieht den Hel­den Hans Cas­torp in ihren Bann. Der omi­nö­se Dr. Kro­kow­ski erläu­tert die Patho­lo­gie psy­cho­ana­ly­tisch als Ero­ti­kon und also Zen­trum des Lebens selbst, den Tod im Pro­spekt. Hof­rat Beh­rens, Arzt und Lei­ter, steht dem Toten­tanz im Sana­to­ri­um als ein Maitre de Plai­sir vor; und in all den illus­tren Figu­ren – Settem­b­ri­ni, Naph­ta, Pee­per­korn u. a. – sind Welt­an­schau­lich­kei­ten und Hal­tungs­ty­pen der Zeit kos­tü­miert. Ein famo­ser Mas­ken­ball, ein Kar­ne­val vorm Ende der gro­ßen Rei­se, am Spät­abend der guten, alten Zeit. Alle Akteu­re nei­gen sich ihrem Ster­ben zu. Auf die­sem Ter­rain des Todes fühlt Cas­torp, „der ein­fa­che jun­ge Mann“, sich end­lich ange­kom­men und hei­misch. Selbst gesund­heit­lich leid­lich intakt, fängt ihn die Magie des Todes ein.

Tho­mas Mann inter­pre­tier­te selbst:

Was er [Hans Cas­torp – H. Bo.] begrei­fen lernt, ist, daß alle höhe­re Gesund­heit durch die tie­fen Erfah­run­gen von Krank­heit und Tod hin­durch­ge­gan­gen sein muß […]. Zum Leben, sagt ein­mal Hans Cas­torp zu Madame Chauchat, zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhn­li­che, direk­te und bra­ve. Der ande­re ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der genia­le Weg. Die­se Auf­fas­sung von Krank­heit und Tod, als eines not­wen­di­gen Durch­gan­ges zum Wis­sen, zur Gesund­heit und zum Leben, macht den Zau­ber­berg zu einem Initiationsroman.

Und zu einem Bil­dungs­ro­man der ande­ren Art. Ein Mori­bun­dus zu sein als Ein­wei­hungs­hand­lung. Im berühm­ten Kapi­tel „Schnee“ erkennt Cas­torp in einem Trance-Zustand zwar, daß er Tod und Ver­fall über­win­den muß, um sich phy­sisch und geis­tig zu revi­ta­li­sie­ren. Er sieht wie­der Ziel und Plan, aber er ver­mag dem, wie­der bei Bewußt­sein, nicht zu fol­gen. Die Gra­vi­ta­ti­on von Tod und Krank­heit auf dem „Zau­ber­berg“ erweist sich als zu stark und hält ihn fest. Zwar kann Cas­torp den Ort aller­lei Lek­tio­nen spä­ter – u. a. zur Musik – noch ver­las­sen, aber danach ist es für ihn ganz zu Ende. Wir sehen ihn über die Schlacht­fel­der des Ers­ten Welt­kriegs irren.

Glei­chen sich da Zei­ten und Zei­chen? Wes­halb gera­de in neue­rer, ja jun­ger Lite­ra­tur die­se Ange­zo­gen­heit durch die Krank­heit? David Wag­ner gestal­tet aus sei­nem Rin­gen um das an der Leber hän­gen­de Leben ein ein­drucks­vol­les, zu loben­des, zudem unkon­ven­tio­nell in 277 Bruch­stü­cken – sehr kur­ze Sen­ten­zen dar­un­ter – geschrie­be­nes Pro­sa-Pro­jekt. Kei­ne Fra­ge, daß es preis­wür­dig ist, gera­de weil hier mal einer mit den Kon­ven­tio­nen des anti­quier­ten Erzäh­lens bricht und nicht gän­gi­gen Mus­tern des 19. Jahr­hun­derts oder des ame­ri­ka­ni­schen Gegen­warts­ro­mans folgt. Der Autor lie­fert nicht weni­ger als ein gro­ßes Sujet. End­zei­ten lie­ben sol­che The­men; sie spie­geln sich dar­in und fin­den ihr Haupt­emp­fin­den aus­ge­spro­chen. Der Stoff trifft den Nerv der Zeit. Aus­druck eines erns­ten Erschöp­fungs­syn­droms des ange­krän­kel­ten Abend­lan­des im Burn-out? Mal wie­der Ahnung von Unter­gang – min­des­tens rela­tiv gegen­über pro­spe­rie­ren­den Gesell­schaf­ten? Der unge­naue Ein­druck von einer End­pha­se, die neu­es Begin­nen noch nicht aus­ma­chen kann, die dro­hen­de “Krank­heit zum Tode” aber um so deut­li­cher spürt?

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Kommentare (4)

Raskolnikow

18. März 2013 09:14

Klar,

Leiden ist immer ein Stück Sterben. Siechtum als "Einweihungshandlung" - gefällt mir! Aber Weihe wozu? Stirbt der Mann, entsteht der Bürger?! Sieht man sich des Protospießers Thomas Engagement an, tritt dies tatsächlich deutlich hervor.

Neben der Schönheit der Sprache und dem damit verbundenen Lesevergnügen, bleibt bei der Mann-Lektüre doch immer ein Ekel stehen ... Besonders beim Zauberberg! (Übertroffen nur noch vom Kotzimpuls des bürgerlichen Manifest var. der wahren Gründungsurkunde der Bundesrepublik: "Nietzsches Phil. im Lichte unserer Erfahrung")

Froh, selbst talentfrei, unnütz, zu nichts zu gebrauchen aber stets gesund zu sein, - allein das Knacken von Büchern und das gehaltlose Dahinschwafeln geschriebener Textkörper mag mir gelingen - beobachte ich Leidende gern und genau.

Moderne Leidende neigen scheinbar zu geradewegs organischer Offenheit, gar Operationsdetails werden aufgeklappt, damit der Zuhörer/Leser darin wühle. Es soll ja sogar Filme über Krebssterbende geben ... Auf dem Zauberberg dagegen wird doch vor allem reflektiert. So spielen auch die Leiden vieler Heiliger vor allem die Rolle eines Vehikels, eines Sakramentaliums.

Im Orient kann ich oft beobachten, dass Gesprächspartner, meist Akademiker, Offiziere, kluge Leute, geradezu als Entreé, Medicamentenschachteln auf dem Tisch platzieren und über ihre Krankheit plaudern. Vielleicht orientalisieren wir auf verschiedenen Ebenen. Dem Zwang und Drang nach Transparenz sei dank!

Dabei ist die Offenlegung des Leidens, ja das Leiden überhaupt vor allem ein Verlust an Würde! (Und nein, ich bin keine Nietzsche-Hure!) Auch wenn dies unter sehr ästhetischer und männlicher Folie erfolgen kann:
https://www.youtube.com/watch?v=5Er9w44HY38

Außerdem wird bei dieser Offenheit und der daraus resultierenden Durchsicht Communication sinnlos! Sinnlos!

Und das gilt auch im größeren, gesellschaftlichen Rahmen, weshalb mir die breite mediale Abwesenheit des aktuellen "Falles" weniger Unbehagen bereitet als den meisten Unsrigen.

Lieber Herr Bosselmann, Ihrem letzten Absatz kann ich nur die Erkenntnis entgegenstellen, dass der Genesene und der Gesunde verschieden sind. Für den Gesunden ist Krankheit kein Thema. Ähnlich dem jungen Soldaten, der sich sicher ist: "Mich erwischt es nicht!" ...

Immer gesund,

R.

PS: Die Schlösser des heimischen Elfenbeinturmes knackten am Samstag hinter mir, die Treppenstufen sind passiert und da sitze ich nun wieder am kleinen Fenster und schaue ins mir so phantastisch und fremd erscheinende Heimatland.

Rumpelstilzchen

18. März 2013 11:27

In Todesnähe - der Beitrag steht so seltsam verloren zwischen den Beiträgen zu Kirchweyhe, so dass völlig untergeht, dass Raskolnikow wieder wohlbehalten eingetroffen ist. Dann guten Tag.

in Todesnähe steht zwischen Beiträgen zum Tod. Seltsam.
Ich mag diese Krankheitsbücher überhaupt nicht. Und finde da auch keine Weisheit drin. Krankheit als authentisches Erlebnis.
Wer's braucht, hat nie gelebt.
Der neue Papst hat auch keine gute Gesundheit, hört man. Und wirkt sehr fröhlich und frei.
Daß wir endlich sind hat was überaus beruhigendes.

Kurt Schumacher

18. März 2013 12:53

Ich kann nur Raskolnikow und Rumpelstilzchen recht geben. Krankheiten gibt es leider; aber als germanischer Mensch suhlt man sich nicht darin!

Sara Tempel

20. März 2013 23:00

Thomas Manns „Zauberberg“ beschreibt eigentümlich die Dekadenz seiner Zeit und ist für mich als Klassiker wertvoll. Zugegeben, mit David Wagner habe ich mich noch nicht beschäftigt! Möglicherweise entgeht mit durch mein Vorurteil zum Thema Krankheiten etwas und es lohnt sich diese für ein von Ihnen so gerühmtes Werk zu überwinden?
Was ich tatsächlich reizvoller finde, ist der Tod selbst, wie z.B. in "Die folgende Geschichte" von Cees Nooteboom beschrieben, indem eine Schiffsreise immer unwirklicher wird. Etwas ähnliches möchte ich wohl evtl. in meinen nächsten Roman kreativ verarbeiten, aber aller Anfang ist schwer!

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