Darum nun: Was ist Reformation? Wir verstehen heute unter Reformation ausschließlich die Bewegung, die im sechzehnten Jahrhundert, genau am 31. Oktober 1517, durch Martin Luther und seine fünfundneunzig Thesen gegen den Ablaß ausgelöst wurde. Das war nicht immer so. Lange Zeit wurden Reform und Reformation nicht unterschieden. Im fünfzehnten Jahrhundert erschien die Schrift Reformatio Sigismundi, sie enthielt Vorschläge für eine Reichsreform. Sie sollte eine Reformation „an Haupt und Gliedern” sein, eben eine positiv gewertete Umgestaltung. Aber diese Reformation wurde verstanden als eine Umgestaltung ohne Änderung des Wesens der Kirche in der Lehre, im Kult und in der Disziplin. Wenn ich von Reformation spreche, meine ich aber nicht eine solche Reformation, die doch nur Reformen wollte, sondern eben das, was heute allgemein als Reformation bezeichnet wird, die Reformation der Kirche Jesu Christi, ihre Umgestaltung, ihre Erneuerung gerade in ihrem Wesen gemäß der Heiligen Schrift.
Insofern ist sie auf etwas aus der Vergangenheit Stammendes bezogen, was die Vorsilbe „re” erkennen läßt. Reformation will das Ursprüngliche wiederherstellen. Es geht aber, ebenso wie bei Reform und Revolution, nicht um etwas Rückwärtsgewandtes, sondern um etwas auf die Zukunft Gerichtetes. Hans Sachs verglich sie mit der Morgenröte und dem Aufgang eines neuen hellen Tages, der von der „Wittenbergisch Nachtigall” Martin Luther verkündet wurde. Reformation muß klar von einer Revolution unterschieden werden. Das war – auch innerhalb der Kirchen – nicht immer so. 1968 wurde auf der Weltstudentenkonferenz in Turku durch den reformierten Theologen Jürgen Moltmann behauptet: „Wir leben in einer revolutionären Situation”. Dadurch sei das Christentum in eine fundamentale Identitätskrise geraten. Es sei, mit Karl Marx, geboten, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes (…) Wesen” ist. Das sei das neue Kriterium, an dem der Glaube zu messen sei. Der Kampf um eine neue Erde könne nur vorankommen, wenn man begreife, „daß auch der Himmel der Religion alt und repressiv geworden” sei. Letztlich handelt es sich dabei wiederum nur um ein innerweltliches Geschehen. Wenn Jesus aber in der Bergpredigt sagt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen” (Mt 6, 33), so ist eben keine innerweltliche Gerechtigkeit gemeint, sondern Gottes Gerechtigkeit. Um die ging es vor allem in der Reformation.
Luther war nicht mit der Absicht hervorgetreten, die Reformation herbeizuführen. Er hatte kein Programm. Das fünfzehnte Jahrhundert war vielleicht die frömmste Zeit, die es gab. Regelmäßiger Kirchgang, Gebet, fromme Übungen aller Art waren selbstverständlich. Man wollte sich damit das ewige Heil, das Reich Gottes, das ewige Leben bei Gott verdienen und sichern. Zugleich war das Jahrhundert geprägt von einem tiefen Sündenbewußtsein und einer großen Angst vor dem Letzten, dem Jüngsten Gericht Jesu Christi, vor dem einmal am Ende der Zeit alle würden erscheinen müssen. Christus wurde als Richter gesehen, als strenger Richter. Um vor seinem Gericht bestehen zu können, wollte man sich auf die unterschiedlichste Weise absichern. Das Wort Gottes wurde vor allem als Gesetz verstanden, als ein verurteilendes Gesetz, vor dem man ohne Hilfe und Beistand hilflos war.
Nicht zuletzt war es die Lehre vom Fegefeuer, die solche Angst einjagte. Im dreizehnten Jahrhundert ausgebildet, sprach sie davon, daß es nach dem Tod eine Art Zwischenzustand gäbe, der der nachträglichen Läuterung diene. Je nachdem, wieviel einer in seinem Leben gesündigt hatte, würde die Strafe im Fegefeuer ausfallen. Dante hat in seiner Göttlichen Komödie davon eine eindringliche Darstellung gegeben. Nun kam es darauf an, sich auf alle mögliche Weise davor zu schützen oder doch wenig stens die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Auf vielfältige Weise versuchte man, dem zu begegnen. So etwa die Bettelmönche (Franziskaner, Dominikaner, Augustiner-Eremiten), sie lebten von erbettelten Almosen. Beides, Almosengeben und Betteln, wurde als gutes Werk verstanden.
Dem diente auch der Ablaß. Aufgrund der guten Werke der Heiligen, glaubte man, sie könnten einem helfen, einmal dadurch, daß man zu ihnen betete und sie um Vermittlung bat, einmal dadurch, daß die Kirche, die den Schatz ihrer guten Werke verwaltete und darüber verfügte, ihn austeilte. Sie tat das durch den Ablaß. Er bedeutete den Nachlaß von Sündenstrafen, die die Kirche verhängte, nicht Vergebung der Sünden, aber als solche wurde der Ablaß oft verstanden. Die Sündenstrafen waren zumeist mit Geld verbunden, Almosen, Spenden aller Art wurden gefordert, aber auch Wallfahrten und so weiter. Andere Strafen oder Auflagen konnten mit Geld abgelöst werden. So gab es etwa die „Butterbriefe”. Während der Fastenzeit sollte keine Butter gegessen werden. Aber zahlte man eine bestimmte Geldsumme, dann war man von dieser Auflage befreit. Darüber hinaus mußte für alles und jedes gezahlt werden, so für Berufungen in kirchliche Ämter. Die päpstliche Kurie war zu einem großen Bankhaus geworden.
Die Geldmittel wurden nun weitgehend für sehr äußerliche Dinge verwandt. Wir kennen das Wort Goethes aus dem Faust: „Die Kirche hat einen guten Magen.” Von diesen Geldmitteln wurden Kirchen gebaut. Die herrlichen Dome und Kathedralen des Spätmittelalters sind zum Teil mit solchen Geldern finanziert worden, so der Freiberger Dom von dem, was durch die „Butterbriefe” hereinkam, oder in Rom der Petersdom. Es wurden Paläste für die hohen Kleriker errichtet, ja sogar Kriege wurden vom Ablaßgeld finanziert. Ebenso trat die Kirche als der bedeutendste Mäzen der Kunst auf. Von Papst Leo X., mit eigentlichem Namen Giovanni de’ Medici, wird der Satz überliefert: „Laßt uns das Papsttum genießen, da Gott es uns verliehen hat.” Leo war der Papst, unter dem die Reformation begann. Das Privatleben vieler Päpste war skandalös. Die meisten von ihnen hatten Kinder – von verschiedenen Frauen. Alexander VI. (Rodrigo Borgia) hat seine Kinder skrupellos protegiert. Es sei an seinen Sohn Cesare und an seine Tochter Lukrezia erinnert. Derselbe Papst hat offenbar auch nicht vor Giftmorden an seinen Gegnern zurückgeschreckt. Leos Nachfolger Hadrian VI. mußte eingestehen: „So sehr ist das Laster selbstverständlich geworden, daß die damit Befleckten den Gestank der Sünde nicht mehr merken.”
Vor allem die Deutschen wandten sich gegen die Ausbeutung seitens des Papsttums und gaben dem Ausdruck in den Gravamina der deutschen Nation. Der Boden war damit bereitet für den Ablaßstreit, der mit Luthers fünfundneunzig Thesen begann. Zu den genannten Mißständen kommt noch hinzu, daß die Geistlichkeit – einschließlich Nonnen und Mönche – in einem denkbar schlechten Ruf stand. Trotz des verordneten Zölibats lebten die meisten in sexuellen Beziehungen. Und doch: Trotz allem waren die Menschen fromm. Diese Frömmigkeit basierte aber nicht auf der biblischen Botschaft als Frohbotschaft, vielmehr wurde sie allgemein als Drohbotschaft aufgefaßt. Diese Verfälschung des Evangeliums war der tiefere Mißstand. Denn das Evangelium war in sein Gegenteil verkehrt worden. War auch der Ablaßstreit der Auslöser für die Reformation, ihr eigentlicher Kern war ein anderer. Es ging ihr um das Evangelium, um die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden, es ging nicht um weltliche Gerechtigkeit, sondern um Gottes Gerechtigkeit, darum, daß Christen Gott recht lebten, seinem Willen entsprechend.
Daß sich der Streit aber am Ablaß entzündete, hing nun zweifellos damit zusammen, daß das Geld, wie so oft, eine entscheidende Rolle spielte. Die Kirche des Papsttums sah durch die Kritik am Ablaß ihre finanziellen Quellen gefährdet, die nirgends so wie in Deutschland sprudelten. Die Forderung nach einer Reform war hier so allgemein, daß dadurch die ungeheure Resonanz, die Luthers Auftreten bei seinen Zeitgenossen fand, zu erklären ist.
Der bereits genannte Papst Hadrian VI. (1522–1523, eigentlich nicht ein Deutscher, sondern ein Niederländer), erkannte auch die Notwendigkeit einer Reform der Kirche. Sie wurde als Gebot der Stunde angesehen. Hätte Luther nur diese gefordert, wäre vieles anders verlaufen. Noch immer wirft die römisch-katholische Kirche Luther vor, sich nicht auf die Forderung nach einer Reform beschränkt zu haben. Was Luther sagte, wird vielfach heute auch von Rom anerkannt. Joseph Lortz, ein römischkatholischer Kirchenhistoriker, erkannte schon 1939 die historische Notwendigkeit der Reformation an, aber eben nicht als Reformation, sondern als Reform. 1980 erschien zum vierhundertfünfzigsten Jahrestag der Verlesung des Augsburgischen Bekenntnisses, des Grundbekenntnisses der lutherischen Reformation, ein Buch unter dem Titel Bekenntnis des einen Glaubens, verfaßt von evangelisch-lutherischen und römisch-katholischen Theologen vor allem aus Deutschland.
Und Peter Manns, ein römisch-katholischer Theologe, nannte Luther gar „Vater im Glauben”. Aber man wirft Luther weiter vor, daß er mit dem Papsttum gebrochen hat. Dabei wird jedoch übersehen, daß der Papst mit Luther gebrochen hat, indem er ihn in den Bann tat, das heißt aus der Gemeinschaft der Gläubigen und damit faktisch aus der Kirche ausschloß. Nicht so sehr, daß Luther den Papst als Antichristen bezeichnet hat, nimmt man ihm übel, – das hatten vor ihm schon andere getan -, aber daß er nicht bereit war, sich dem als unfehlbar geltenden Urteil des Papstes zu stellen und zu beugen. Dadurch sei es zur Kirchenspaltung gekommen, für die letztlich eben Luther die Verantwortung trage. Und bis heute spricht die römisch-katholische Theologie vom defectus ordinis der ordinierten Geistlichen der Reformationskirchen, das heißt vom Fehlen oder Mangel der Weihe, weil sie nicht in Übereinstimmung mit dem Papst als dem Oberhaupt der Kirche stünden. Das bedeutet aber, daß die Sakramente, die Gnadenmittel letztlich nicht als gültig gespendet anerkannt werden. Die Nichtanerkennung der kirchlichen Ämter in den Kirchen durch die römisch-katholische Kirche ist bis heute der tiefste Grund dafür, daß es nicht zur Einheit der Kirchen kommt.
Reformation ist zuletzt nicht nur eine Epoche der Geschichte, sondern sie ist eine bleibende Aufgabe. Um 1700 kam die Redewendung auf: „Ecclesia semper reformanda”, das heißt die Kirche ist immer zu reformieren. Das ist gewiß ein mißverständlicher Satz. Nicht gemeint sein kann damit, daß es in der Kirche nichts Geltendes, nichts Beständiges geben dürfe. Genau das Gegenteil ist damit gemeint. Es geht darum, daß die Kirche bei dem bleibt, was der Herr der Kirche, Jesus Christus, ihr ein für allemal anvertraut hat, nämlich beim Evangelium. Es kann nicht darum gehen, daß die Arbeit der Kirche sich in sozialethischen Aktionen erschöpft, so wichtig diese auch sind. Diakonie, der Dienst an den Menschen, die in Not sind, in seelischer Not ebenso wie in körperlicher, ist und bleibt eine zentrale Aufgabe der Kirche. Jesus Christus hat sich, wie die Evangelien zeigen, um Menschen gekümmert, die seine Hilfe brauchten und damit gezeigt, daß mit ihm das Reich Gottes angebrochen ist. Jesus Christus fand sich nicht ab mit dem Zustand der Welt, Christen können sich nicht abfinden mit dem heutigen Zustand der Welt. Sie sind gewiesen an Kranke und Behinderte, an die Benachteiligten, um ihnen nach Kräften zu helfen. Aber damit wird das Leid in dieser Welt nicht überwunden. Es wird gemildert – und das bedeutet schon viel -, aber es wird weiterhin Leid, Ungerechtigkeit, ja, auch künftig Kriege geben.
Seit der Aufklärung gibt es in den Kirchen ständig Versuche, mit dem Zeitgeist Schritt zu halten. Manche hoffen, damit mehr Menschen zu erreichen, indem sie biblische Werte und Normen umdeuten mit der Begründung, sie seien doch heute sonst niemandem mehr zu zumuten. Wenn aber dadurch der Eindruck entsteht, die Kirche sei beliebig wie irgendein anderer Verein, dann ist sie überflüssig geworden.
In den sozialethischen Aktionen kann sich der Dienst der Kirche nicht erschöpfen, so wichtig sie sind. Aber diese können auch vom Roten Kreuz wahrgenommen werden. Selbst wenn davon zu reden heute nicht opportun ist, die zentrale Aufgabe der Kirche ist es, das Reich Gottes zu verkündigen, das Evangelium zu bezeugen, die Rechtfertigung des Menschen durch das, was Jesus Christus mit seinem Sterben am Kreuz und mit seiner Auferstehung zu Ostern getan hat. Wer an den gekreuzigten und auferstandenen Christus glaubt und von ihm seine Rettung erhofft, der hat die Gerechtigkeit Gottes erlangt. Das ist – mit wenigen Worten – das Evangelium, die frohe Botschaft. Sie ist uns in der Bibel, in der Heiligen Schrift der Christen, gegeben. Diese ist das Fundament unseres Glaubens.
Es steht fest, ein für allemal. Es kann nicht den Zeitumständen entsprechend geändert werden. Die Bibel kann nicht umgeschrieben werden, wie es manchmal unsinnigerweise gefordert wird. Die Bibel ist ja Gottes Wort. Wenn sie geändert, umgeschrieben würde, wäre sie nur noch Menschenwort. Das ist auch gegen die kürzlich erschienene Bibel in gerechter Sprache zu sagen. Wir haben Gottes Wort zunächst in den Sprachen, in denen sie ursprünglich verfaßt wurde, in Hebräisch (das Alte Testament) und Griechisch (das Neue Testament). Sie ist jeweils in die heute gesprochenen Sprachen zu übersetzen. Es sind heute über 2.400 Sprachen, in die die ganze Bibel oder doch wenigstens ein Teil von ihr, übersetzt ist. Uns Deutschen hat Martin Luther sie übersetzt – von anderen Übersetzungen ins Deutsche einmal abgesehen. Es kommt beim Übersetzen darauf an, sie so genau wie möglich zu übersetzen und dabei doch so, daß sie verstanden wird. Martin Luther hat selbst mit seinem Sendbrief vom Dolmetschen den Maßstab allen Übersetzens gelegt: So genau und so verständlich wie möglich. Aber das kann nicht heißen, die widerspenstigen Passagen, die heute als nicht korrekt empfundenen Wendungen dem Zeitgeist entsprechend wiederzugeben, also aus Rücksicht auf die Frauen Gott auch als Frau zu bezeichnen oder um der Verbrechen, die Deutsche an Juden begangen haben, die Juden zu schonen, wo die Bibel kritisch von ihnen redet. Die Bibel kann nur bildhaft von Gott reden, Gott ist kein Mensch und auch kein Mann. Sie redet, so sagte ich, bildhaft. Sie kann Bilder gebrauchen, die Gott in mütterlicher Liebe zu uns Menschen zeigt: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet” (Jes. 66, 13) oder gar so: „Ich habe deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel” (Matth. 23, 37). Damit ist Gott aber weder Mutter noch eine Henne. Und wenn vom Heiligen Geist die Rede ist, dann ist zu bedenken, daß das Wort Geist im Hebräischen weiblich, im Griechischen neutrisch und im Deutschen männlich ist.
Mir – und nicht nur mir – kommt es manchmal so vor, als ob heute wirklich eine neue Reformation nötig wäre, die der Verfälschung des Evangeliums endlich ein Ende macht. Freilich, das liegt nicht in unseren Händen. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, neue fünfundneunzig Thesen sind mehrfach ausgearbeitet worden und liegen vor. Aber sie haben nicht eingeschlagen. Und daß sie einschlagen, ist letztlich Werk des Heiligen Geistes. Kürzlich tagte in Wittenberg ein sogenannter Zukunftskongreß der Evangelischen Kirche in Deutschland. Vollmundig wurde von der „Kirche der Freiheit” gesprochen. Zwölf „Leuchtfeuer” wurden benannt unter der Überschrift „Auf Gott vertrauen und das Leben gestalten”. Aber es ist viel zu wenig davon die Rede, daß wir dabei nur Werkzeuge des Heiligen Geistes sein können und den Erfolg nicht in unseren Händen haben, wenn es etwa heißt: „Im Jahre 2030 ist die evangelische Kirche nahe bei den Menschen” Ob und wie sie das ist, kann nur Folge ihrer Verkündigung sein, nämlich ob sie beim Wort Gottes bleibt, wie es uns in der Heiligen Schrift, in der Bibel, gegeben ist. Damit werden wir in die Zukunft gehen.