Wir haben das nicht so gesehen, denn wir sahen nichts anderes. Wer sich aus dem Westen hereintraute, fürchtete die harschen Kontrollen der Grenztruppen, und, oje!, dieses furchtbare Grau, in dem sich all die Trostlosigkeit des fremden Staates und seiner „Gesellschaftsordnung“ auswies.
Die da, mit ihrem Grau und Gilb, wollten für die Menschheitsbefreiung stehen? Da brauchte es weder die revolutionäre Theorie noch das sonnige Kontrastprogramm FKK an der volkseigenen Ostsee, um darüber hinwegzutäuschen, daß so kein Land der Sieger der Geschichte aussehen konnte. Jede Westtante war da bunter, schon im Gesicht!
Das Grau stand für Depression, Stagnation, Verfall. Man weiß ja, wie es in Chemnitz, nein Karl-Marx-Stadt, Leipzig und Greifswald aussah. In den Außenbezirken die sachlichen Plattenbauten, die Arbeiterschließfächer und „Fickzellen“ (Heiner Müller), die Innenstädte am Zusammenbrechen, marode alles, die Fassaden potemkinisch davorgeblendet, wenn Delegationen vorbeikamen und Verbundenheit ausdrückten.
Farbtupfer nur die roten Transparente da und dort, Propaganda, ideologische Staffage, wie zum Hohn an Ruinen aufgehängt, aus denen doch auferstanden werden sollte.
Seit der Wende gibt es kein Grau mehr, nicht mal im November. Die Häuser intakt, die Fassaden sowieso, wo doch das ganze Leben Fassade geworden ist – wärmeisoliert und steril. Brennende Aschtonnen – unvorstellbar! Gar keine Asche mehr. Farbe, Lebensfreude! Enjoy!
Geflaggt wird immer noch, allerdings nur von Firmen. Und gegen die neuen Werbetafeln würden sich die Plakate und Losungen sozialistischer Agitation lächerlich winzig ausnehmen.
Die Ankündigung eines Sonntags-Shoppings im „Marktplatz-Center“ überstrahlt eine große Kreuzung vor Neubrandenburg. Das überdimensionale Gesicht einer blonden, sommersprossigen Frau, aufdringlich frühlingsfrisch, offensiv lächelnd, die Zähne dabei weißer als weiß, das Haar im Märzwind über die Strahleaugen geweht. Der Text: ICH MAG MEIN LEBEN. UND ICH ZEIG ES IHM AUCH. Was mit Sicherheit eine gute Nachricht ist und weniger abstrakt, weniger lebensfremd, weniger verlogen als etwa MEIN ARBEITSPLATZ – MEIN KAMPFPLATZ FÜR DEN FRIEDEN! oder VORWÄRTS ZUR ERFÜLLUNG DER BESCHLÜSSE DES IX. PARTEITAGS! Hier wird, scheint es, endlich Lebenswirklichkeit ausgedrückt. So wie, in säkularer Wandlung des Neuen Testaments, das Einkaufenkönnen schlechthin zur „Frohen Botschaft“ avancierte. Nicht nur zu Weihnachten! Im Zentrum des postsozialistisch spröden Neubrandenburg ist das „Marktplatz-Center“ das dominierende Gebäude und Treffpunkt der ganzen Stadt. Ein Konsumtempel als das neue urbane Herz.
„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum.“ So belehrt Mephisto einen allzu akademisch ambitionierten Schüler. Das Logo des zweiten Neubrandenburger Einkaufsparadieses zeigt einen solchen grünen Baum, obwohl es auf dem Gewerbegebiet gar keine richtigen Bäume mehr gibt.
Wer bereit ist, über diesen Wandel nachzusinnen, lernt die eigentliche „Wende“ jenseits der Geschichtsbücher als eine einfache Erfolgsgeschichte begreifen – pragmatisch wie alle Politik. Aus den eingezäunten zementgrauen Gesellschaften des Ostblocks waren alle befreit zum grenzenlosen Konsum, der für möglichst grenzenloses Wachstum sorgt. Darauf reduzierten sich die Begriffe der neuen Bürgerlichkeit. Man mag es sich anders gewünscht haben, aber der Garten vorm Palais Lobkowitz unterm Genscher-Balkon war der Eingang in einen gigantischen Supermarkt, auf dessen Öffnung die DDR-Bürger warteten. Als er endlich öffnete, begann der Run. Und die vollbärtigen intellektuellen Bürgerbewegten erkannten die Macht des Faktischen und wurden wieder melancholisch. Kritisch auch, aber das interessierte niemanden mehr.
Die umjubelte Demokratie – was ist sie anderes als das große utilitaristische Regelungssystem des Glücks, als das politisch vollzogene “hedonistische Kalkül” Jeremy Benthams im Milieu oralen XXL-Verbrauchs. Lieber King-Size als Kleinpackungen! Im Vollzug des vollen Konsums liegt das Ergebnis, ja lag schon das Hauptmotiv der „friedlichen Revolution“: Nicht mehr der portionierte Genuß aus dem Westpaket, sondern der totale in der Shopping-Mall.
Man kann das gut finden; man kann darin auch mal wieder eine anthropologische Konstante sehen. Aber ist diese große Oralität im Wesen weniger totalitär als der teils ungeschickte, teils hoffnungsbetrunkene, meistenteils verbrecherische Menschheitsbefreiungsversuch der „Sozialisten“, den die Leute schließlich nicht wollten. Was wollten sie dann? – Maoam?
Auch “Europa” ist weniger eine Völkerfreundschaft als vielmehr EZB-regierter “Euro”. Nur daß es sich diesmal – in ganz anderen Zusammenhängen – als Illusion erweist, daß eine Währungsreform ohne Idee einen Kontinent “integrieren” kann. Im Gegenteil. Von einer Idee ist jenseits der üblichen Propagand auch nicht mehr die Rede, nur noch von Finanzen und Saldi.
Nein, das Prinzip Verbrauch und Mehr-und-mehr-Verbrauch von fetischisierten Waren ist ein Totalismus schlechthin, und die Methoden der Werbung dafür sind abgefeimter und „ästhetischer“ als Goebbels-oder-Stalin-Propaganda. Nach wie vor fallen beim Hobeln auch eine Menge Späne, nur eben nicht vor der eigenen Tür, sondern “global” ausgelagert. Noch.
Selbst der historische Sozialismus wollte, auf seine Weise, den totalen Verbrauch von Welt, Mensch und Ressourcen und verglich daher seine wachsenden Müllberge stolz mit den allerdings immer noch höher aufragenden des Westens. – Ist nun also endlich alles gut – mit der Lebensfreude und dem Lebenssinn, so mit Blick aufs große Shopping? Und: Was ist übrig geblieben an Hoffnungen? Gibt es da einen Rest? Oswald Spengler ist zuweilen sehr poiniert: “Bei Chaironea und bei Leipzig wurde zum letzten Mal um eine Idee gekämpft.” Gäbe es dergleichen heute noch? Kampf um eine Idee, außerhalb des Kriteriums ihrer Marktfähigkeit?
Kurt Schumacher
Einspruch, Herr Bosselmann! Oswald Spengler schreibt nicht "zuweilen" sehr pointiert, sondern immer! Das ist einer der Gründe, warum die Historikerzunft ihn seit jeher ablehnt - sein Deutsch ist zu gut. Nietzsche machte man den selben Vorwurf.
Aber ansonsten gebe ich ihnen recht. Als "Wessi" muß ich, vielleicht etwas paradox sagen: Vielleicht hätte die DDR doch überleben sollen. Keine Angst, ich bin kein Kommunist! Was ich meine, ist nur: erst durch das Ende des Ostblocks wurde der American Way of Life global endgültig "alternativlos". Ernst Jünger schrieb (ich glaube, im "Waldgang"): "Die Furcht vor dem Osten schiebt der Dekadenz den letzten Riegel vor." (von mir aus dem Gedächtnis zitiert) - Nun ist seit 1989 der Osten weggefallen, und die Dekadenz breitet sich "alternativlos" aus, "viral", wie man das ja auch mit einer bezeichnenden Metapher nennt.