Es ist mir gleichgültig, ob manche die Liebe zur Vergangenheit als Realitätsflucht oder “Rückwärtsgewandheit” abtun. In einer Zeit, in der das “Aktuelle” im Ungeiste des schnellen Konsums hochfetischisiert wird, erscheinen mir dergleichen Einwände als witzlos.
Soll sich doch stattdessen einmal die Gegenwartsbesessenheit rechtfertigen! Bis dahin darf man ihr getrost die Gefolgschaft verweigern. Mehr noch: Gegen die “Totalherrschaft der Gegenwart” sind heute alle Mittel erlaubt. Und wer weiß nun, was für Träume für die Zukunft aus dem Blick in die Vergangenheit geboren werden? “The past is now part of my future, the presence is well out of hand,” so sangen einst Joy Division.
Dieser Blick hat wie der mythische Januskopf zwei Richtungen: er stellt die Füße in den Fluß der Zeit, läßt ihr Wasser um die Knöchel spielen, und erinnert gleichzeitig daran, daß dieser Fluß nie derselbe und doch derselbe ist:
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
“Nostalgie” kann viele Dinge und Gemütszustände bedeuten. Idealerweise ist sie wie ein Spaziergang am Strand, an dem das Meer der Zeit Muscheln, bunte Steine und Unterseetiere angeschwemmt hat, die von einem anderen Leben in anderen Untiefen von Raum und Zeit künden. So manches Haifischgebiß ist dabei überaus interessant und hübsch anzusehen, wenn der Haifisch längst nicht mehr am Leben ist.
Drei solcher Muscheln habe ich letzten Samstag auf einem Sammelstrand par excellence, dem Flohmarkt nahe der Wiener Kettenbrückengasse, gleich gegenüber dem berühmten Naschmarkt aufgelesen. Die erste fand ich in einem Ramschkarton, der von einem türkischen Händler veräußert wurde. Sie paßte in meine wachsende Sammlung der ungezählten Bücher über Christus: “Jesus von Nazaret, wie wir ihn heute sehen”, von einem vergessenen Theologen namens Friedrich Daab. “Heute” das bedeutet in diesem Fall “vor über hundert Jahren”, gedruckt in Düsseldorf Jahre 1907, zum Preis vom 1,80 Mark. Eingangs schreibt der Verfasser seine Rechtfertigung vor seinem damaligen Heute:
Jesus, wie wir ihn heute sehen! Jesus und wir – was haben sie noch miteinander zu schaffen: die Menschen von heute und der Mann von damals? Ist nicht Jesus ganz eine Erscheinung, die nirgend mehr passen will in unsre Zeit, ja deren Wesen unsrer Zeit im Widerspruch steht, die uns fremd ist und wir ihr? Oder kommt das vielleicht daher, weil er über die Gegenwart hinausragt? Und statt zu sagen: Sie versteht ihn nicht mehr – muß es heißen: Sie versteht ihn noch nicht? Die Zeit muß erst werden und die Zukunft erst kommen, die anfängt ihn zu begreifen, zu suchen, zu – verwirklichen!
Ich bot dem Trödler einen Euro dafür an, er wollte zwei, denn immerhin hätte das Buch ja einmal “180” Wasauchimmer gekostet.
Ein paar Stände weiter fand ich ein stark tendenziöses Buch über “25 Jahre Kampf und Vollendung” der Ufa, nämlich seit der Übernahme des Filmkonzerns durch den deutschnationalen Unternehmer Alfred Hugenberg im Jahre 1927. Nur zwei Jahre vor dem Untergang des Regimes blickt der linientreu nationalsozialistische Autor Otto Herrmann Kriegk triumphierend auf das zurück, was “heute” in Deutschland alles überwunden sei: Liberalismus, “Nihilismus” und Demokratie, amerikanischer Kapitalismus und “jüdischer Bolschewismus”. Nun schreite man “dank Adolf Hitler” in eine “bessere Zukunft”, verpflichtet zur “Bindung an das Schicksal des Volkes und an den Fortschritt der Menschheit”.
Filme der Weimarer Republik wie “Metropolis” (1927), dessen emigrierter Regisseur Fritz Lang, einst des Führers Favorit, der “damnatio memoriae” unterworfen und nicht beim Namen genannt wird, werden einer scharfen Kritik unterzogen: alle sozialen Probleme, die dieses Machwerk in einem kruden, sentimentalen Brei aufbereitet hätte, seien “heute” gelöst:
Wir haben den Sozialismus entdeckt und sind auf die Quelle aller sozialen und wirtschaftlichen Konflikte gestossen. Wir sind heute zur Politik als der Lehre und der Erkenntnis vom Schicksal des Menschen mit allen Verflechtungen zwischen Rasse und Blut und vielen anderen Tatsachen und Gesetzen durchgedrungen.
Deutschland und Italien stünden als Avantgarde einer “Revolution” vor den Völkern Europas, die leider noch nicht auf dieser Erkennnisstufe angelangt seien, zum Teil aus “Dummheit und Bosheit”. Als dieses Buch 1943 erschien, wanderten jedoch schon die Steine am Grunde der Moldau. Die Schlacht von Stalingrad besiegelte die Niederlage der Wehrmacht in Rußland, und bereits im Juli 1943 stürzte Mussolinis Regime.
Die letzte Muschel, die ich von diesem Flohmarktgang mitgenommen habe, war nicht materieller Natur. An einem weiteren Bücherstand griff ich mir ein paar Bände mit Gedichten von Josef Weinheber heraus. Der Trödler war ein kauziger Typ, ein sogenanntes “Original”, mit schlohweißem Haar und Backenbart, dicken Brillen, breitem, zum Teil von einer Kappe verdecktem Gesicht und ausladendem Bauch. Zu fast jedem Buch, das er durch die Hände seiner Kunden gehen sah, hatte er eine kleine Anpreisungsrede vorbereitet.
“Der Weinheber”, hub er an, “ist neben Trakl einer der ganz wenigen Dichter, die noch in hundert Jahren gelesen werden. Vor allem was seine wienerischen Gedichte betrifft. Andere, wie der Waggerl geraten ja schon in Vergessenheit. ”
“Ja, das denke ich auch, daß Weinheber bleiben wird,” antwortete ich.
“Er hat ja schrecklich gebüßt dafür, daß ihn die Nazis so vereinnahmt haben, er hat sich umgebracht bei Kriegsende.”
“Tja, da war er nicht der einzige, der so bitter bezahlt hat.”
“Dabei war er ja kein Täter, nicht? Viele Täter haben nicht bezahlt.”
“Dichter verstehen halt nix von Politik.”
Ich stöberte weiter in der Kiste, blätterte in den Bänden: “Wien wörtlich”, “Späte Krone”, “Adel und Untergang”. Der Trödler sah eine Weile zu, dann trat er einen Schritt an mich heran.
“Ich kann Ihnen ein Gedicht von Weinheber aufsagen. Wollen Sie es hören?”
“Äh, ja, bitte.”
Er warf sich in Pose, blickte mich aus den beschatteten Augen seiner Kappe an, und sprach:
“Dieweil Dir Mond um Mond entglitt, ging einer wie ein Schatten mit – jahraus, jahrein und immerzu, durch Morgentau und Abendruh.
Vom Kind zum Greis, wie ist so bald die Zeit dahin, das Wort verhallt, und alles fließt, und gar nichts bleibt.”
Nun war ich doch etwas verblüfft. Seine Rezitation war fließend und offenbar makellos (das Gedicht war mir bisher unbekannt). Ich starrte auf seinen Mund und seine Goldzähne.
“Die Frucht, die fällt, der Baum, der treibt, das Haus, der Turm, der Schmerz, das Glück, das geht hinab und sinkt zurück. Und endlich ist’s mit Dir soweit, da war es nur ein Stäubchen Zeit. Und eh Du es noch recht bedacht, so ist es schon für immer Nacht. Für immer Nacht ?”
Ich hielt den Atem an und spitzte die Ohren, damit mir kein Wort entginge. Er fuhr fort:
“Da stockst Du schon! Du kommst zurück in Deinem Sohn, der geht den Weg von Anfang an und tut die Werk, die Du getan und freut und fürchtet, hofft und sinnt und gibt es weiter an sein Kind und hinter ihn mit leisem Schuh, jahraus, jahrein und immerzu, die Uhr zur Hand, bereit zum Schnitt – geht einer wie ein Schatten mit.”
Das Gedicht war zu Ende. Eine Pausensekunde blickten wir uns schweigend an. Der Moment war erhaben und komisch zugleich.
“Das ist nun wirklich seltsam”, sagte ich. “Dieses Gedicht entspricht haargenau meiner Tagesverfassung. Als hätten Sie’s erraten.” “Tjo!” sagte er schulterzuckend, und wandte sich einer anderen Kundin zu, um ihr einen Bildband über die Hofburg schmackhaft zu machen.
Bild: panoramio.com