Mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist der 300. Geburtstag ein guter Gradmesser für die Frage, ob die »Gunst der historischen Stunde« in den Jahren 1989 und 1990 genutzt wurde. Zumindest ein Eindruck ist vielversprechend: Soviel Friedrich war selten. Seit Herbst letzten Jahres erscheinen Bücher über »den Großen«, verschiedene Zeitschriften präsentieren ihn auf dem Titel, es gibt eine Briefmarke und eine Gedenkmünze und schließlich in Berlin und Potsdam zahlreiche Ausstellungen, die sich fast über das ganze Jahr erstrecken. Indes: Es gibt kaum eine Äußerung, die an die von Gräfin Dönhoff anschlösse oder es mit ihr aufnehmen könnte. Der Geist Friedrichs ist flüchtiger denn je.
Nimmt man die siebziger und frühen achtziger Jahre als Vergleich, fällt auf, daß Friedrich niemanden mehr provoziert. Die Zeiten des »Preußen vergiftet uns« (Wehler) scheinen vorbei. Friedrich steht mittlerweile wie entschärft neben den Zuschreibungen der letzten Jahrzehnte. Er gilt als skurrile Gestalt, die durch liebenswerte Anekdoten weiterlebt. Der Spiegel, der den Reigen der Friedrich-Titel bereits Anfang November eröffnete, wirkt da schon unbeholfen anachronistisch, wenn er Friedrich als »Despoten«, »Leuteschinder« und engstirnigen Vertreter seines Standes präsentiert. Das alles geschieht ohne Verve, ohne Schärfe und ohne Tiefgang: der König als Klischee, von dem sich unsere Zeit so unglaublich positiv abhebt.
Weil die Deutschen Friedrich so wohlwollend gleichgültig gegenüberstehen, müssen im Geschichtsmagazin der Zeit zwei Ausländer über ihn streiten. Für den polnischen Journalisten Adam Krzeminski bleibt er ein Ärgernis: Friedrich habe die Polen verachtet, sei an der Teilung ihres Landes beteiligt gewesen und deshalb so etwas wie eine Vorstufe Hitlers – schlimm also, daß es keine richtige Abscheu für Friedrich mehr gibt. Daher stellt Krzeminski, gleichsam als Warnung, fest: »Für einen heutigen EU-Bürger hat Friedrich keine Botschaft, null, zero!« Dabei vergißt er, daß Friedrich für das nationale Selbstbewußtsein durchaus eine Botschaft hat, wenn auch eine negative. Was Krzeminski über Friedrich äußert, entspricht größtenteils nicht der Wahrheit, sondern ist ein tradiertes Bild der antipreußischen Propaganda. Daß ein Pole so denkt, mag entschuldbar sein. Es gehört sicherlich Größe dazu, den überlegenen Gegner zu achten. Symptomatisch an diesem Gespräch ist eher, daß der Historiker Christopher Clark, der ein so schönes Buch über Preußen geschrieben hat, ganz sicher weiß, daß Krzeminski Unsinn erzählt. Er äußert das aber nur sehr zaghaft, wogegen der Ankläger starke Worte für seine Sicht der Dinge findet.
Hier wird am Beispiel Friedrichs der alte Widerspruch zwischen Wissenschaft und Publizistik, die mit einfachen Schablonen arbeiten muß, deutlich. Auf diese Weise haben sich viele Mythen und Verzeichnungen gehalten, die einen Zugang zur Person Friedrichs schwer machen. Dennoch: Jede Zeit sucht sich seine Lehre aus der Person selbst. Galt Friedrich im 19. Jahrhundert als ein Vorbereiter deutscher Weltgeltung und Ahnherr des deutschen Reiches, wurde er im Parteiengezänk der Weimarer Republik zur überparteilichen Instanz und im Dritten Reich als Verkörperung eines »Heldentums der Beharrlichkeit« zum Vorbild. Und heute ist aus dem Kriegstreiber der siebziger Jahre ein Schwuler geworden.
Ein sicheres Indiz dafür sind die zahlreichen Biographien, die zum 300. Geburtstag erschienen sind. Wolfgang Burgdorf, der dem König nicht negativ gesonnen ist, nimmt sich für dessen »Liebschaften« fast dreißig Seiten und handelt die ersten beiden Schlesischen Kriege auf sechzehn ab.
Ein anderes, populär gehaltenes Buch argumentiert ähnlich: »Geheimnisse über Friedrich gibt es denn wohl auch kaum noch zu lüften, Leben und Wirken sind über die Jahrhunderte breit erforscht – sieht man von der immer wieder heiß diskutierten und psychologisch sicher nicht ganz unwichtigen Frage nach Friedrichs sexueller Ausrichtung ab.« Mit dieser Einstellung wird der oben erwähnte Gegensatz zementiert: Friedrich bleibt schuldig an den Schlesischen Kriegen und der polnischen Teilung. Hinzu kommt jetzt (daher auch die wohlwollende Gleichgültigkeit), daß er als Schwuler gewissermaßen entschuldigt sei, weil er seine Sexualität nicht ausleben konnte und sie irgendwie kompensieren mußte. Daß er der Große bleibt, liegt eher am überkommenen Sprachgebrauch und nicht an einer erneuerten hochachtungsvollen Bewertung seiner historischen Leistungen. Man hat heute nicht einmal mehr das Bedürfnis, ihm diesen Titel streitig zu machen.
Es gibt aber auch einige aus den Quellen gearbeitete Bücher, die einen anderen Weg weisen. Insbesondere das Buch von Norbert Leithold ist eine großartige Ausnahme. Leithold hat den Anspruch, Neues über Friedrich zu zeigen und mit Vorurteilen und Mythen aufzuräumen. Und vor allem stellt er Friedrich konsequent vor dem Horizont seiner Zeit dar. Das kulturgeschichtliche Panorama reicht dabei von den Abenteurern, für die sich Friedrich interessierte, bis zu den Zeitungen, die er beförderte, nimmt sich aber auch der zentralen Punkte an, beispielsweise dem Kriegsbeginn 1740. Damals hatten auch andere Staaten die Absicht, nach des Kaisers Tod die Gunst der Stunde zu nutzen und Österreich den Krieg zu erklären. Friedrich wußte das und kam den anderen zuvor: »Friedrich handelte nicht moralisch, sondern nach dem Kalkül des Machterhalts und der Machterweiterung.« Er handelte also wie jeder andere Fürst auch. Ebenso stellt Leithold klar, daß man bis heute der habsburgischen Propaganda aufsäße, wenn man Friedrich für die polnische Teilung verantwortlich mache. Es handle sich um eine rein ideologische Wertung, die den Alliierten in Jalta sehr gelegen gekommen sei und bis heute aus geschichtspolitischen Gründen aufrechterhalten werde.
Leithold erinnert auch daran, daß es unter Friedrich dem Großen keine politisch motivierten Unruhen gab, sondern lediglich solche, die aus Ehrenhändeln, etwa zwischen Zünften, resultierten. All diese Dinge sind bekannt, ohne bislang in das öffentliche Bewußtsein vorgedrungen zu sein. Insofern ist es auch kein Wunder, daß es keine Einigkeit mehr darüber gibt, was uns Friedrich heute noch zu sagen hat. Daß dies nicht an die Monarchie gebunden sein muß, hat Gräfin Dönhoff 1962 deutlich gemacht. Doch Dinge, die »immer gelten«, wollen immer wieder neu angeeignet werden.
Friedrich bleibt für seine Bewunderer – und das sind sozusagen die Preußen von heute – das vielbeschworene Beispiel eines Opfers für etwas: in diesem Fall für den preußischen Staat. Im Hintergrund steht die Wandlung der Persönlichkeit, die aus einem überdurchschnittlich begabten jungen Mann, der vor allem die schönen Künste und die Philosophie im Sinn hatte, die Personifizierung der selbstlosen Pflichterfüllung machte. Auf welchem Weg das geschehen ist, muß dabei mitbedacht werden. Kategorien wie Glück und Selbsterfüllung, die unser heutiges Denken bestimmen, lassen die tragische Geschichte des jungen Kronprinzen in einem schlechten Licht erscheinen. Hier spielt der ungeliebte Vater eine große Rolle, der mit seiner unerbittlichen Strafe nach dem Fluchtversuch des Prinzen letztlich den Bestand Preußens gesichert hat: Die Enthauptung des Fluchthelfers von Katte vor den Augen des Thronfolgers ist wohl eine der bekanntesten Szenen aus dem Leben »des Großen«.
Friedrich rechtfertigte diese Drakonie seines Vaters durch seine Entsagung: Er war nach der Thronbesteigung der erste Diener seines Staates. Diese Haltung strahlt bis heute aus, so daß sich manches Urteil über pflichtvergessene Politiker unbewußt am Beispiel des Preußenkönigs orientiert.
Ein weiteres einzigartiges Moment, das uns heute noch Vorbild sein kann, ist zweifellos sein Nachdenken über sich selbst und sein Handeln. Friedrich ist das große Vorbild für jeden Herrscher, der ohne Willkür, sondern aus nachvollziehbaren Gründen handelt. Er hat in Briefen und Schriften Zeugnis davon abgelegt und bleibt bis heute der personifizierte »eigene Entschluß«, der sich um Mehrheitsmeinungen und gute Gefühle nicht schert. Im Gegensatz dazu steht Friedrichs Ruf als Hasardeur, der immer bereit gewesen sei, alles auf eine Karte zu setzen. Es ist ein unausrottbares Vorurteil, daß der Autor des Antimachiavell die Maßnahmen Machiavellis abgelehnt hätte. Im Gegenteil: Friedrich war ein genauer Beobachter seiner Gegenwart und wußte, daß es für die anderen Großmächte keine Hemmungen gäbe, wenn sie sich in der Lage sahen, ihr Territorium zu erweitern. Insofern ist Friedrich konsequent gewesen, wenn er in seinem Antimachiavell Angriffskriege rechtfertigte: Sie seien »vorbeugende Kriege, wie sie Fürsten wohlweislich dann unternehmen, wenn die Riesenmacht der größten europäischen Staaten alle Schranken zu durchbrechen und die Welt zu verschlingen droht«.
In diesem Zusammenhang kommt Friedrichs philosophischem Hintergrund eine besondere Bedeutung zu. Johannes Bronisch hat die Verästelungen dargestellt und schildert in seinem Buch einen von langer Hand geplanten Vorstoß der deutschen Aufklärungsphilosophie – damals vor allem in Christian Wolff manifestiert – in die politische Praxis. Ziel dieser »Verschwörung« war es, den Kronprinzen Friedrich zum Wolffianer und Philosophenkönig zu machen. Davon versprach man sich vor allem Einfluß auf den späteren König und wollte gleichzeitig den französischen Einfluß geringhalten. Zwei philosophische Systeme kämpften um Friedrich: Die Habsburger und Sachsen entschieden sich für Wolff, die Franzosen für Voltaire, der schließlich den Sieg davontrug. Offen bleibt, inwieweit bei Friedrich dafür inhaltliche Gründe ausschlaggebend waren. Als Stratege konnte er nicht viel von Systemen halten.
Am Ende dieser philosophischen Dinge steht Kants Antwort auf die Frage »Was ist Aufklärung?«, die Jens Bisky in seinem überaus gelungenen (sowohl in der Auswahl, den Kommentaren als auch den Überleitungstexten) Buch mit Zeugnissen von und über Friedrich in einem Ausschnitt bringt. Kant nennt seine Zeit gleichberechtigt das Zeitalter der Aufklärung und das Zeitalter Friedrichs. Er wußte um die begrenzte Geltung dieser Aufklärung, die sich in der Absolutheit des Staates vollzog. Diese Vereinigung der Gegensätze in der Person Friedrichs bleibt der Stachel, der immer noch sticht. Nicht umsonst unternimmt man am 300. Geburtstag des Großen alles, um diesen Stachel zu verstecken.