Nolte ist ein zutiefst bürgerlicher Demokrat und Wissenschaftler, den der selbst miterlebte politische Extremismus der Weltkriegsära nachhaltig beeindruckt und bewegt hat. Sein Lebenswerk als Historiker enthält eine Analyse dieser Ära. Hat er sich dabei an manchen Stellen geirrt? Dies wird man bejahen müssen, wie man es wohl für jeden Historiker bejahen muß. Hat er Diktatur und Verbrechen gerechtfertigt oder will er gar ihre Wiederholung? Nein.
Man muß dies alles noch einmal wiederholen, um das Ausmaß einer ganzen Reihe von Unterstellungen zu ermessen, die Siegfried Gerlich in seinen Beitrag »Ernst Nolte – Späte Ambivalenzen« (Sezession 45, S. 22–29) eingebaut hat. Gerlich hat sich über Noltes Buch offenkundig geärgert. Daher greift er zu jener vernichtenden Polemik, wie sie gegen Nolte seit mindestens einem Vierteljahrhundert angewandt wird. Die Methoden dafür haben sich nicht geändert. Wenn man in der BRD jemanden so recht angreifen will, stellt man ihn als »Nazi« oder NS-Apologeten dar. Wenn dafür keine starken Belege zu finden sind, und das sind sie in Noltes Fall ganz gewiß nicht, dann werden sie eben zusammengebastelt. Ein Beispiel:
Nolte soll die Morde der Einsatzgruppen der SS im Rußlandfeldzug »gerechtfertigt« haben, läßt er wissen. Natürlich hat Nolte das nicht getan, nichts liegt ihm ferner als das. Er hat aber darauf hingewiesen, daß Martin van Creveld diese Morde gerechtfertigt hat, wenn auch »wider Willen«, wie er ihm zugesteht. Wer nämlich, wie Creveld im Jahr 2004 bei einem »Berliner Kolleg« des IfS, den Massenmord an Zehntausenden Menschen einer aktuell aufsässigen und potentiell widerständigen Gruppe – Beispiel Syrien 1982 – als effektive und angemessene Methode preist, der hat den intellektuellen und moralischen Boden verlassen, von dem aus er die Einsatzgruppen verurteilen könnte. Das galt um so mehr, als Creveld sich bei gleichem Anlaß über die angeblich fehlende Effektivität der damals laufenden amerikanischen Offensive in Falludscha ausließ, die ihm zu wenig brutal und außerdem zu offensichtlich angekündigt erschien. Hier redete ein tatsächlich als Militärberater tätiger Akademiker einem Massaker das Wort.
Den notwendigen Zusammenhang mit allen wirklichen und möglichen Massakern, auch den deutschen, hat Nolte erkannt und ihn mit seiner manchmal geradezu sokratisch wirkenden Art offengelegt. Mit solchen Hinweisen auf die logischen Konsequenzen bestimmter Behauptungen machte man sich bekanntlich schon im alten Athen wenig Freunde. Nolte tut dies dennoch immer wieder konsequent, zu Gerlichs Empörung auch gegenüber Friedrich Romig. Wenn Romig das Judentum als »Antichrist« bezeichnet und Nolte ihm dann die Frage stellt, ob denn vor diesem Hintergrund Hitler als der tödlichste Judenfeind der Weltgeschichte nicht im »Bereich des Rühmenswerten« zu führen sei, dann ist das für Gerlich ein »Verfall« in »theologisch mystifizierendes Reden«. Tatsächlich hat Nolte sich nicht Romigs Position zu eigen macht, sondern dessen stillschweigende und zweifellos »wider Willen« erhobene Mitbehauptungen aufgezeigt.
Gerlich sieht das nicht oder will es nicht sehen, und geht an anderer Stelle ins Grundsätzliche. Nolte würde als Antwort auf Ernst Niekisch und dessen Deutung des NS-Regimes als einer deutschen »Daseinsverfehlung« nun gar »den Nationalsozialismus zur seinerzeit einzig möglichen ›deutschen Daseinserfüllung‹ verklären«, setzt er nach. Dies wäre eine NS-Apologie in vollem Umfang. Was die tolle Behauptung des niemals Gesagten angeht, so erreicht dies mühelos die Methoden von Jürgen Habermas aus dem Historikerstreit. Bei Nolte steht an dieser Stelle nämlich folgendes, nachdem er den Gegensatz von Daseinsverfehlung und Daseinserfüllung diskutiert hat: »Es bleibt jedoch genug an Feststellungen und Fragen, um jene hypothetische Umkehrung von ›Daseinsverfehlung‹ in ›Daseinserfüllung‹ zu problematisieren, ja apodiktisch zu verneinen (sic!): etwa der Mangel an Kultur und Menschlichkeit im Nationalsozialismus selbst, die Verachtung der ›Untermenschen‹, der Wille zum biologischen ›clean sweep‹ usw.«
Nichts wird also verklärt. Nirgendwo hat Nolte behauptet, der Nationalsozialismus sei die einzig mögliche oder gar wünschenswerte Daseins-
erfüllung gewesen. Den Apologeten Nolte, den Gerlich in seiner Polemik konstruiert, gibt es nicht.
Gerlichs Aufregung über das neue Buch verführt ihn auch an einer anderen, für bundesdeutsche Verhältnisse ganz typischen Stelle zu derartigen Mißgriffen. Es geht um Noltes Äußerungen über das Judentum, Israel und den Zionismus.
Nolte hat dem jüdischen Volk an vielen Stellen seiner Werke eine welthistorische Rolle zugeschrieben. In einer Republik, in der die »politische Bildung« seit einem halben Jahrhundert den bloßen Gebrauch des Begriffs »jüdisches Volk« als Ausdruck eines latenten Antisemitismus skandalisiert, ist dies ungewöhnlich. Der Begriff des Judentums ist zu einem ständigen Aufreger geworden, der frei zwischen seiner angeblich konstruierten Natur und seiner alltäglichen Gegenwart in den Abendnachrichten aus dem Nahen Osten hin und her schwankt. Gerlich nun hat eine verengte Sicht auf so manchen historischen Zusammenhang, mit dem er argumentiert. Ein Satz wie der über »die Annexionen großer Teile Palästinas im Zuge der Staatsgründung Jordaniens« wird nur dann möglich, wenn man nicht weiß, daß Jordanien der größte Teil des ursprünglichen Mandats Palästina ist und von der britischen Politik dort herausgeschnitten wurde, damit wenigstens eines der vielen im Ersten Weltkrieg gegebenen und dann gebrochenen Versprechen gehalten würde.
Zu diesen – zunächst gebrochenen – Versprechen gehörte auch das Gründungsdokument Israels, die Balfour-Deklaration. Damit wären wir bei dem Verhältnis zwischen dem Zionismus und der Weltpolitik, das Nolte aus Sicht von Gerlich skandalös zum Thema macht. Gerlich mag an einen weltpolitischen Einfluß jüdischer Organisationen nicht glauben. Das ist bundesrepublikanischer Standard. Es unterscheidet ihn aber deutlich von den damaligen zionistischen Politikern, die der Ansicht waren, Israel nicht ohne den Beistand der Großmächte gründen zu können, und lebhaft behaupteten, solchen Einfluß zu haben. Erste Adresse dafür war – fast vergessen – das deutsche Kaiserreich. Die jüdische Emanzipation in Osteuropa folgte nach 1914 der Reichweite der deutschen Waffen. Das Überleben der jüdischen Gemeinschaft im damals türkisch-osmanischen Palästina wurde nur durch den Druck auf die Türkei möglich, der durch deutsche Zionisten als Funktionsträger des Auswärtigen Amts ausgeübt wurde. Andernfalls hätten die Juden das tödliche Schicksal der Armenier geteilt, dies läßt sich der älteren zionistischen Geschichtsschreibung entnehmen. Schließlich nötigte Berlin den Jungtürken im Frühjahr 1918 sogar noch die Zusage einer jüdischen Autonomie in Palästina ab, ähnlich der Balfour-Deklaration.
Die Geschäftsgrundlage für solche Aktionen hatte sich zu dieser Zeit mit dem amerikanischen Angriff auf Deutschland aber bereits geändert, der seit Frühjahr 1917 absehbar war und den vor allem die britische Politik nicht zuletzt mit Versprechen an den Zionismus »gekauft« zu haben glaubte. Ob dies stimmt, ist eine ungeklärte und an dieser Stelle nicht zu beantwortende Frage. Sicher ist aber, daß entscheidende Personen auf allen Seiten, etwa auch Winston Churchill, davon überzeugt waren. Als die Westmächte zwischen 1914 und 1922 den Nahen Osten aus der Beutemasse des Osmanischen Reichs so zurechtschnitten, wie er sich heute darstellt, waren machtpolitische Geschäfte die Regel, nicht die Ausnahme. Aus dieser Zeit resultiert auch die Grundsteinlegung des jüdischen Staates Israel. Er hat folglich ein ebensogut begründetes Existenzrecht wie jeder andere Staat der Region auch.
Nolte nun würde die Gründung Israels »dämonisieren«, läßt Gerlich wissen. Auch dies hat Nolte keineswegs getan. Wohl aber hat er wiederholt auf die besondere Problematik dieser Staatsgründung hingewiesen, die unabhängig von allen oben vorgestellten Ausführungen besteht: Der Versuch, einen Anspruch auf autochthones Recht nach Tausenden Jahren Unterbrechung wieder durchzusetzen, ist das exzentrischste Projekt der bisherigen Menschheitsgeschichte. Gerlich schiebt diesen Aspekt der israelischen Staatsgründung brutal beiseite und versucht gegen Nolte, ein »Recht auf Landnahme« in Stellung zu bringen, das er auf Carl Schmitt zurückführt. Ein solches Recht gibt es nicht und kann es nicht geben, es würde die reine Gewalt rechtfertigen. Statt dessen geht alles Völkerrecht eben von den begründeten Ansprüchen der jeweils autochthonen Bevölkerung aus, die ein Gebiet aktuell und traditionell bewohnt. Wer sie vernichtet oder vertreibt, begeht nach geltenden Normen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist bisher noch nicht gelungen, diese Normen, die Rechte und Interessen Israels mit denen der vertriebenen autochthonen palästinensischen Bevölkerung in Einklang zu bringen. Nolte weist deshalb auf die Gefahren der Eskalation des Konflikts hin, wenn zwei Kriegsparteien über das Recht auf Selbstverteidigung hinaus das Existenzrecht der jeweils anderen im Grundsatz bestreiten sollten. Seine Befürchtung, dies könnte in einem weiteren Genozid enden, ist der Besorgnis über eine Wiederholung der Erfahrungen aus der Weltkriegsära geschuldet. Mit seiner phantasievollen Deutung, Nolte wolle Israel einen Genozid unterschieben, damit man »quitt« sei, erreicht Gerlich jene Denkzone, in der jeder jedem alles unterstellen kann, so er sich denn Gehör zu verschaffen vermag.
Interessant ist, daß Gerlich dann umgehend die Befürchtungen Noltes bestätigt, wenn auch vermutlich ebenfalls »wider Willen«. Er läßt von einem Luxusproblem wissen: »Israel hingegen leistet sich den moralischen Luxus eines Palästinenserproblems, dessen militärische Liquidierung ihm ein leichtes wäre.« Mit diesem Satz ist Gerlich eigentlich schon da angekommen, wo Nolte Israel nur spekulativ sieht. Als »moralischer Luxus« läßt sich das Palästinenserproblem nämlich nur dann bezeichnen, wenn man der autochthonen palästinensischen Bevölkerung in Palästina das Existenzrecht grundsätzlich abspricht. Denn Gerlich dürfte nicht so ahnungslos sein, von den zahlreichen vergeblichen israelischen Anläufen zur »Liquidierung« der militärischen Aspekte des palästinensisch-israelischen Konflikts nichts zu wissen. Man führte Krieg in Gaza, marschierte bis Beirut, flog zahllose Luftangriffe bis hin nach Tunis und liquidierte in der Tat zahlreiche palästinensische Funktionäre. Wer angesichts dessen über weitere »leichte« Liquidierungsoptionen schwadroniert, kann eigentlich nur die Austreibung des widerständigen Bevölkerungsteils meinen. Das wäre, siehe oben, die Billigung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit – die Nolte, anders als seine moralisierenden Kritiker, an keiner Stelle seines Lebenswerks je vollzogen hat.
Was bleibt angesichts dessen von der ganzen Aufregung über Noltes Späte Reflexionen? Es bleibt wohl die Erkenntnis, daß Noltes intellektuelle Konsequenz und sein bürgerlich-liberaler Hintergrund ihn nicht davor bewahrt haben, in dieser verhetzten Republik zum negativen Symbol stilisiert zu werden. Das sagt mehr über die Republik und seine Kritiker aus als über ihn. Immerhin, der Schierlingsbecher ist abgeschafft.